Hinter Huchting ist ein Graben

Dieser Text über ein Element-of-Crime-Konzert im Kölner Palladium am 19. März 2006 entstand neun Tage später am 28. März 2006 auf dem Rückweg vom Auswärtsspiel des VfL Bochum beim SC Freiburg, einem ekelhaften Zweitliga-0:0 an einem regnerischen Schwarzwald-Frühlings-Montag – deshalb ist es auch ein Text mit einer doppelten Erzählebene geworden.

Die ICE-Sitze vor mir sind mit einem blauen Stoff versehen. Ein Stoff mit weißen Punkten. Deutsche Bahn eben. Ich sitze entgegen der Fahrtrichtung, obwohl ich das eigentlich gar nicht mag. Auf der rechten Seite fliegt die Landschaft zwischen Frankfurt und Mannheim vorbei. Die Felder sind schon grün, ist ja auch Ende März, die Temperaturen mild geworden, erstaunlich, ich dachte, der Winter hält ewig. Der ICE hat aufgrund einer technischen Störung eine halbe Stunde Verspätung angehäuft, weshalb ich Freiburg erst um 14.30 Uhr erreiche. Egal, sind noch ein paar Stunden bis zum Anstoß. Meinen VfL-Bochum-Schal habe ich mir vorhin fest um meinen Hals gebunden und das linke Ende des VfL-Schals mit dem Wappen des Vereins auf meinem Herzen platziert. Mir ist heute danach. Auf dem Sitz links neben mir liegt meine Laptoptasche und eine leere Kamps-Brötchentüte. Mein Frühstück bestand aus einem Schoko-Croissant und einem Schoko-Wuppi. Es fängt an zu regnen, zu tröpfeln, während wir gerade den Bahnhof Biblis überholen. Wie die grünen Datenzüge in der Matrix-Trilogie laufen die Regentropfen auf der Fensterscheibe um die Wette – und ich bin froh, im Zug zu sitzen.
Wenn nicht jetzt Element of Crime hören, wann dann?

Noch anderthalb Stunden Zeit. Konzerte am Sonntag sind bei mir eine einzige Hetzerei. Heute Mittag musste ich leiden. Sehr, sehr leiden. Eigentlich hätte ich mit meinem Bruder Thommy das VfL-Spiel gegen Brauschweig besuchen wollen, aber die Redaktionsdisziplin zwang mich dazu, in Mülheim das Landesligaspiel Union Mülheim gegen Turngemeinde Hilgen zu ertragen. Während ich auf dem Grashügel neben dem Union-Platz stand und auf die hässliche Mülheimer Skyline in der Frühlings-Sonne blickte, schickten mir meine VfL-Kollegen eine sms nach der anderen. Nacheinander „1:0 Zwetschke“, „2:0 Edu“, „3:0 Misimovic“, „4:0 Zdebel“, zwischendurch noch so ein paar Messerstiche a la „Die Jungs spielen ganz großes Tennis heute“ oder „kaum zu glauben, dass die beiden Mannschaften in derselben Liga spielen“. Glückwunsch. Union verlor, ich musste sie zerreißen. Hätte ich doch freigenommen…
Okay, Zeilen kloppen. Schnell, schnell, schnell. Zwischendurch als Motivationshilfe auf die Eintrittskarte schauen. „Element of Crime“ steht darauf, im Palladium. Da bin ich noch nie gewesen. Es ist ein Abend mit mehreren Premieren. Palladium, klar, zum ersten Mal mit meinem Onkel Uwe bei einem Konzert und der schließlich feiert sein Debüt bei einem Element-of-Crime-Auftritt.

„Ich schreibe meinen Namen auf Papier – nur so“, rattert Sven Regener in die Kopfhörer meines Discman und wir „erreichen in wenigen Minuten Mannheim Hauptbahnhof“ der Schaffner. „… und falte mir daraus ein schönes Glück“. Ruhige Gitarrenklänge von Jakob Ilja, wunderbar, wunderbar, wunderbar. „Nur so“, gar keins von meinen Lieblingsliedern, passt jetzt aber. Haben sie gar nicht gespielt in Köln.

Draufschauen. Auf die Uhr. Ich schaff’s. Schnell die letzten Buchstaben eintippen, mir „viel Spaß“ von den Kollegen wünschen lassen und rein in den überfüllten Regionalexpress hüpfen. Es klappt, der ist sogar pünktlich. In Köln-Mülheim springe ich in ein Taxi, bezahle sechs Euro für die paar Meter zum Palladium. „Gestern war Kelly Clarkson hier“, sagt der Taxifahrer, ohne dass ich ihn um eine Geschichte gebeten hätte. Draußen ist es schon lange dunkel – und kalt. „Hab noch nie so viele 16-Jährige auf einmal gesehen.“ 16-Jährige! Die gibt es heute wohl nicht. Thommy ruft an. „Wo bist Du?“ „In zwei Minuten da!“ „Wir stehen noch vor dem Eingang, aber weit vorn. Kannst Dich bei uns einreihen.“ „Mach ich.“ Ich steige aus dem Taxi, blicke auf das Harald-Schmidt-Studio. Die Show wird direkt gegenüber aufgezeichnet. Palladium. 4000 Plätze. VIERTAUSEND! Einst, vor ein paar Jahren, fuhren Thommy und ich noch in die Kulturfabrik Krefeld, als Element of Crime gerade einmal 700 Tickets absetzten. Jetzt hat Sven Regener zwei Bestseller veröffentlich und in der Post-„Herr Lehmann“-und-„Neue Vahr Süd“-Ära gibt es eine Hunderte Meter lange Schlange vor dem Eingang. Ich bezahle den Taximann, schaue mich um. „Hallo“, winkt Thommy. Heyahossa, super geklappt. Die stehen zwanzig Minuten, ich zwanzig Sekunden, so geht’s. Schnell „Spitzenreiter, Spitzenreiter“ gebrüllt, vom grandiosen 4:0-Sieg des VfL erzählt, Uwe begrüßt und dann zählt nur noch Element of Crime. Uwe bringt die Jacken weg, Thommy bestellt Massen an Kölsch und eine Cola. Und ich schließe die Augen und genieße. Mein erstes Konzert in diesem Jahr. Mein erstes. Mein unendlichstes Element-of-Crime-Event. Ich weiß, was mich erwartet. Romantische, manchmal frustrierte, manchmal depressive, aber immer schöne Musik. Fantastische Gitarrentöne von Jakob Ilja, ein charismatischer Sven Regener. Songs zum Mitwippen, nicht zum Herumhüpfen. Romantik.

„Wo ist der Gott, der uns liebt? Ist der Mensch, der uns traut, ist die Flascheeee, die uns wärmt, wenn der Morgen graut?“, fragt, ja flüstert Sven Regener fast. Mannheim Hauptbahnhof liegt hinter uns, nächster Halt ist Karlsruhe. Wir haben zehn Minuten der Verspätung aufgeholt, der Zug fährt 221 km/h. Es regnet nicht mehr, aber es ist noch bewölkt genug, um Element of Crime super zu finden. „Über Nacht“ ist das nächste Lied auf meiner gestern selbst gebrannten „Best-of-Element-of-Crime“-CD. Ich sitze im Raucherabteil und vor mir qualmt tatsächlich jemand. Es ist mir egal heute. Versetzt mich eher noch in Konzertstimmung. Element im Ohr, Fluppen in der Nase. Wie damals, am 19. März.

Ich habe meine Arbeitstasche noch dabei und klemme sie zwischen meine Beine. Wir sind ein bisschen spät dran und bekommen einen Stehplatz an der linken Außenseite, mit gutem Schrägblick zur etwa zwanzig Meter entfernten Bühne. „Home of the lame“, die Vorband, nehmen wir nur beiläufig wahr. Thommy verschwindet zwischendurch zum Bierstand, Nachschub ordern. „Ich bin gespannt“, sagt Uwe, der bislang nur die neueste Scheibe kennt. Die Karte haben mein Bruder und ich ihm zu Weihnachten geschenkt. Da er jetzt um die Ecke wohnt, liegt das auch ziemlich nah. Minuten verrinnen; obwohl ich weiß, was kommt, werde ich nervös. Die Momente, bevor die Lichter ausgehen, die Momente, bevor die Hauptband des Abends die Bühne betritt, es kribbelt so schön. „Hauptsache, sie spielen Straßenbahn des Todes“, sagt Thommy. „Mein derzeitiges Lieblingslied.“ Ich hab keine Anforderungen. Erstmals bei einem Konzert. Die Jungs machen das schon gut.
Psst…. ich glaub, da tut sich was. Ich glaub… jaaaaa, Arme hoch, klatschen, vier Männer schleichen auf die Bühne, Sven Regener reißt am Mikrofon die Arme hoch und brüllt laut „Ro – man – tiiiik“. Hat er schon beim letzten Konzert getan, nicht neu also, aber immer wieder witzig. Betrunken ist er diesmal nicht, wie Thommy und ich sofort bemerken. Zwischen Mitte 20 und Mitte 30 – das ist die Hauptgruppe der Element-of-Crime-Hörer. Stück für Stück haken die vier Elemente ihre Playlist ab. Der Applaus ist laut, zwischendurch ruft Regener immer wieder „R O M A N T I K “ !! Nach „Delmenhorst“ ändert er das kurzzeitig in „DELMENHOOORST!“ Schnell wird wieder klar: Das musikalische Genie dieser Band ist Gitarrist Jakob Ilja. „Er verleiht der Band ihren Sound“, sagt Onkel Uwe ruck, zuck. Immer wieder blendet der Scheinwerfer auf den unscheinbaren Kerl, der es sich links auf der Bühne gemütlich gemacht hat. Sensibel spielt er seine Soli, begleitet den Bandrest. Klasse. Stück für Stück zum Träumen, zum Mitdenken. In einer weiteren kurzen Pause zwischendurch meint Uwe: „Dass es so etwas heute noch gibt. Intelligente Texte auf Deutsch…“ „Straßenbahn des Todes“ ist das erste Lied und Thommy würde am liebsten sofort nach Hause gehen. „Wo die Neurosen wuchern, will ich Landschaftsgärtner sein“ – das sind doch wahre Liedzeilen, oder? Punktgenau zwei Stunden bleiben Element of Crime, werden viermal aus ihrer Kabine wieder hinausgeklatscht, bis Sven Regener „Kommt gut nach Hause“ sagt.
Es ist wie immer. Siehe oben: Und ich schließe die Augen und genieße. Mein erstes Konzert in diesem Jahr. Mein erstes. Mein unendlichstes Element-of-Crime-Event. Ich weiß, was mich erwartet. Romantische, manchmal frustrierte, manchmal depressive, aber immer schöne Musik. Fantastische Gitarrentöne von Jakob Ilja, ein charismatischer Sven Regener. Songs zum Mitwippen, nicht zum Herumhüpfen. Romantik.
Abschlussapplaus. Riesig. „Die Liste der Lieder, die sie nicht gespielt haben, ist länger als die Playlist“, stellt Thommy fest. „Ist aber nicht schlimm.“ Meine Lieblingslieder kamen alle nicht, dafür das komplette neue Album „Mittelpunkt der Welt“. Die alten Sachen wie „Weißes Papier“ sang ich umso inbrünstiger mit. Und den gefühlten Höhepunkt „Jetzt musst Du springen“. „Das ist ganz anders als das Album. Eine Liveband, eindeutig. Die muss man live gesehen haben.“ Uwes Fazit könnte nicht besser sein. Glücklich und zufrieden verlassen wir das Palladium. Schauen kurz aufs Harald-Schmidt-Studio und kehren zum Bahnhof Köln-Mülheim zurück. Thommy pennt bei Uwe. Ich fahre noch nach Hause. Hab die Element-CD in der Tasche und werde sie auf dem Weg zurück genüsslich hören.

„Du weißt, dass dein Vater Dich fragt, wird er das bringen? Und es endloser Menge ertönen die Rufe: Jetzt musst du springen.“. Ich habe den Höhepunkt des Konzerts gerade noch einmal aufgelegt. Kurz vor Karlsruhe Hauptbahnhof scheint die Sonne. Sollte es noch ein richtig schöner Abend werden? Eigentlich ist es egal. Meine Stimmung ist nach diesen Element-Eindrücken superklasse, der VfL kann sich sogar eine 0:10-Niederlage erlauben und Freiburg soll eine wunderwunderschöne Stadt sein. Schlimmer kanns kaum werden.

Um kurz vor eins schließe ich meine Haustür auf. Um kurz nach eins ist eine Beschwerdemail an die Bahn formuliert. Der Inhalt:
„23.45 Uhr: Ich weilte an diesem Abend beim Konzert der Band „Element of Crime“ im Kölner Palladium. Um 23.45 Uhr habe ich meine Jacke endlich abgeholt; ich weiß, dass ich noch 14 Minuten habe, um zum Bahnhof Köln-Mülheim zu laufen (mangels Taxi). Wer Köln kennt, der weiß, dass der Weg nur im Dauerlauf in dieser Zeit zu absolvieren ist (die Eintrittskarte kann ich Ihnen gerne zeigen, den Zeitpunkt des Konzertendes können sie bei 3000 Besuchern nachfragen). 23.59 Uhr: Als der RE einfährt, komme ich am Bahnsteig gerade noch rechtzeitig an und steige ein. Um ein Ticket zu kaufen, blieb keine Zeit mehr. Außer Puste setze ich mich in den ersten Wagen. 0.02 Uhr: Meine in Köln wohnenden Verwandten rufen bei mir an (auch das ist nachprüfbar), um sich zu erkundigen, ob ich es noch in den Zug geschafft habe. 0.04 Uhr: Das Telefonat ist zu Ende, ich stehe auf, um den Schaffner zu suchen. Er steht zehn Meter weiter. Ich will nachlösen – er lehnt ab. Nachdem er meinen Personalausweis begutachtet hat, verknackt er mich zu 40 Euro und trägt 0.06 Uhr ein (da ist er fertig; auch das ist nachprüfbar). Als ich ihm meine Geschichte erzähle, lächelt er mich an und trägt eiskalt „keine Kulanz“ ein (siehe Zettel). Dass er scheinbar selbst wenig Ahnung hat, zeigt der Eintrag „ab Langenfeld Studentenausweis“. Im RE gilt erst ab Düsseldorf-Benrath der VRR-Tarif. Fazit: Wieder einmal haben die Kontrolleure kein gutes Bild abgegeben. Dieser Schaffner war ein besonders arrogantes Exemplar. Ich habe in meiner Zeit als langjähriger Bahncard-Kunde (auch das ist nachprüfbar) schon einige erlebt. Ich war sichtbar verschwitzt und außer Puste, ich bin dem Schaffner entgegengelaufen und konnte nachweisen, dass ich beim Konzert war und keine Zeit hatte, ein Ticket zu ziehen.“
So richtig gut ging der Abend dann doch nicht aus.
Schnell noch „Delmenhorst“ aufgelegt. „Hinter Huchting ist ein Graben, in den sich einer übergibt.“ Ach, ist doch auch egal. Noch eine Stimmung, auf die keine Band besser passt.

Noch zwei Stunden hält mein Laptop-Akku. Ich sollte die Schilderung jetzt abbrechen, da ich auf der Rückfahrt den VfL-Tagebuch-Bericht noch schreiben will. Noch Stunden könnte ich den Abend in Köln Revue passieren lassen, der seit einer Woche Vergangenheit ist. Lasst mich meinen Bericht mit einem 1:0-Berichterstattungssatz beenden:
Bei der nächsten Element-of-Crime-Tour bin ich wieder dabei.
Toll, ne?

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