5. Oktober 2000 – FC Bayern München – VfL 4:1 – „Von vier Kontern“

Anfang Oktober 2002 besuchte ich mit meinem Bruder Thommy unseren Freund Dirk in München. Oktoberfest, Journalisten-Partys, Sightseeing und natürlich das unvermeidliche VfL-Spiel beim FC Bayern. Wir verlebten ein paar schöne Tage, ich bloggte ausführlich – in einem von fünf Teilen geht es um das Spiel.

Von den vielen Spielen, die ich in München sah, war dies eins der denkwürdigsten: Denn nach dem Spiel trafen wir in der Kneipe „Lustiger Bauer“ in München-Milbertshofen einen Straßenbahnfahrer aus Mülheim, der VfL-Fan ist und immer Geschichten über die Glasgow Rangers erzählt. Irgendwann sangen dann alle im Lustigen Bauern „Unsere Heimat, unsere Liebe – in den Faaaaarben blau und weiß“. Sensationelle Momente.

Die Welt ist klein.

Hier geht es zum Text, den ich „Von vier Kontern“ nannte und mit der Unterzeile „,Unsere Heimat – unsere Liebe‘ im lustigen Bauern“ versah:

Ich glaub, Dirk ist schon ein bisschen angenervt. Seit unserer Ankunft gestern Mittag trällern die Gebrüder Ernst ihm in jeder freien Sekunde was von „Hurra hurra die Bochumer sind da“ ins Ohr. Eigentlich wollten wir ihn ja mit lautem Gebrülle direkt am Münchner Hauptbahnhof blamieren, aber okay, geschenkt, haben wir uns selbst nicht getraut. Was liegt vor uns?

Der Grund, der Anlass, der Höhepunkt, das Highlight des München-Besuchs 2002: FC Bayern gegen VfL Bochum. Genau dieser Moment ging mir am 5. Mai 2002 auf der Rückfahrt von Aachen durch den Kopf! Wie Thommy, Dirk und ich uns in der U-Bahn auf dem Weg zur Haltestelle „Olympiapark“ befinden, in der Kurve stehen und Michael Ballack und Giovane Elber beim Kicken zuschauen. Und unsere Blau-Weißen sind auch dabei. Jetzt wird es wahr.

Und wisst Ihr was? In der Saison 2002/2003 bin ich noch ungeschlagen! Gut, bei uns läuft es momentan nicht so gut. 0:1 gegen Rostock, das glückliche 2:2 in Hannover, dann die 1:4-Abfuhr gegen Bremen, die Euphorie ist weg. Aber meine Glückshose habe ich übergezogen, da kann doch gar nichts schiefgehen. Scheiß Aberglaube! Heimlich, still und leise haben Dirk und ich bei ODDSET auf Bochum gesetzt. Quote 7,05.

– Ich hatte einen Traum. Erst geht Bayern in Führung. 1:0. Dann gibts eine rote Karte für Bochum, zwei Elfmeter für Bayern. Beide verschossen. Und am Ende gewinnt Bochum 2:1 – spinne ich den Jungs einen vor.

Karnik ist auch dabei. Spitzenname. Ein guter Freund von Dirk, der in München wohnt, aber aus Schwaben kommt und VfB-Stuttgart-Fan zu sein scheint. Auch er schüttelt seine Birne.

– Ach, ich sage 3:2 für Bochum, saxophont Dirk.

– 3:0 für München.

Na das konnte ja nur Thommy gewesen sein.

– DU FAKTENMEIER! brüllt Dirk.

Olympiapark. Ausstieg links. 14.45 Uhr ist es, der Anstoß rückt näher, das Eintrittstor erst recht. Kaum Kontrollen, prima. Ist das blau-weiß hier. 2400 Bochumer haben sich auf den Weg gen Olympiastadion gemacht, und das, obwohl die Chance auf einen Sieg so groß ist wie meine, innerhalb der nächsten vier Wochen eine neue Freundin zu finden! Und die ist gar nicht groß! Ruck, zuck finden wir einen Stehplatz. Kaum hingestellt, brüllt jemand von hinten.

– LOCKE !!!!!!

– LOCKE !!!!!!

– Ey taub is der au noch dooo!

Dirk spürt Klopfzeichen auf seiner Schulter.

– Eeeeeeeeeeey, sach ma der Blondine, die soll dem da auf die Schulter hauen.

„Dem da“ ist ein Typ in der Reihe vor uns. Mit Baseball-Cap auf dem Kopf, schätzungsweise über 40 und rappelvoll. Die Blondine klopft, der Typ dreht sich um und lauscht.

– Eeeeeeeeeeeeeeeeey, LOCKE !!!! brüllt der Kerl hinter uns.

– Bo scheiße do. Hab Dir doch gesacht datt dat scheiße is.

Ist das geil. Wir sind das Ruhrgebiet.

Die Sprechchöre kommen nur spärlich. „Unsere Heimat – unsere Liebe – in den Farben blau und weiß – achtzehnhundertachtundvierzig, nur damit es jeder weiß!“ Mensch, was ist denn hier heute los?, will Thommy wissen, und so unrecht hat er nicht. Es herrscht eine gewisse Lethargie in der Fankurve; womöglich sind viele Fans auch einfach nur hackenbreit. Das Spiel wird richtig langweilig, nämlich genauso, wie vorher erwartet. Zu jeder Sekunde ist klar, dass die Bayern als Sieger vom Platz gehen; zu keiner Sekunde haben ich und die anderen 2.399 Bochumer das Gefühl, dass auch nur irgendwas geht. Die Stimmung ist so schlecht, dass zwischendurch „Und schon wieder keine Stimmung VfL“ aus der eigenen Fankurve in Schallwellen durch die Luft schweben. Elber macht das 1:0, Pizarro das 2:0 und 3:0, Elber das 4:1. Ja können die Bayern-Fans wirklich nur schreien, wenn sie dazu aufgefordert werden? Nach jedem Tor versinkt das Olympiastadion in einem Meer voller magentafarbener T-Online-Hände! Sieht ganz beachtlich aus, ist aber doch ganz schön bescheuert. Zwischendurch verkürzt Schindzielorz. Es sind vier Kopfballtore, wie wir messerscharf analysieren, und der Vander im Tor hat bei mindestens zwei Buden gar nicht so toll ausgesehen.

Trostlosigkeit hängt in der Luft. Und dafür fahr ich so viele hundert Kilometer. Um mir so eine Klatsche anzuschauen. Hauptsache, ein paar weitere Sprechchöre stimmen. Thommys Favorit ist ein laut gebrülltes „GYROS – TZATZIKI – UND DAZU SALAT!“, Dirk findet „Wir kommen aus dem Norden – wir lynchen und wir morden – wir waschen uns nie – Sankt Pauli“ ganz toll. Gemeinsam freuen wir uns über „BAZILINHO“, das Bayern-Maskottchen, das wie ein Mainzelmännchen ausschaut. „Wechsel den ein“, fordern die Fans lautstark. Aber Hitzfeld steht weitweitweitweit weg.

Abpfiff. Viele Zeilen ist das Spiel nicht wert. Es ist wenigstens zu eindeutig, um sich richtig zu ärgern. Wie heißt es so schön? Mund abputzen, fertig. Meine Bommelmütze verschwindet in der linken Hosentasche, mein Trikot unter einem grauen Hemd, mein Schal in der rechten Hosentasche. Nun bin ich kein Fußballfan mehr, sondern ein ganz normaler Held. Meine Version für die Heimat habe ich mir schon zurecht gelegt: Wir sind in vier Konter gelaufen, werde ich erzählen. Das klingt uneinsichtig und selbstironisch zugleich.

Der Magen grummelt. Bei mir, bei Karnik, bei Dirk, bei Thommy. Hunger!

– Ich hab doch hier gewohnt. In Milbertshofen. Lass uns in den „Lustigen Bauern“ gehen, schlägt Dirk vor – und wir stimmen alle zu.

Eine ehrliche Kneipe, erinnert an die „Quelle“ im guten alten Mülheim-Broich. Die Türklinke ist schon etwas angerostet; wir träumen von einem großen Schnitzel und ner Bratwurst mit Pommes, als uns der Rauch entgegenquillt und mich der Schlag trifft. Ja da sitzt doch tatsächlich Stephan in der Kneipe!?! Stephan, der Straßenbahnfahrer aus Mülheim!

– Sag mal, hast Du kein zu Hause?

– Nee. Bist Du mit dem Sonderzug hier?

– Ja. Morgens um 4 Uhr losgefahren. Bei den Jungen war direkt Schlafwagen. Aber bei uns nicht. Karten gespielt, weisse, wegen hier – und er macht eine typische Geld-Handbewegung, indem er Daumen und Zeigefinger aneinander reibt.

Und Karnik lacht schon wieder. Und wieder sind wir das Ruhrgebiet. Die „Jukebox“ verrät uns „Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben“. Auf dem Teller liegt ein Riesen-Schnitzel. Der Kellnerin würde bei der Oberweite ein Dirndl ganz gut stehen. Autsch was für ein Gedanke. Bochum hat verloren. 1:4! Aber Stephan war da. Und die Jungs. Egal. Nächstes Jahr bin ich wieder hier. Vielleicht wird’s dann was mit einer Überraschung gegen die Bayern!

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