24. Februar 2007 – VfL-Aachen 2:2 – „K’s Choice hilft extrem“

Am 24. Februar 2007 schaute ich mir in der Bundesliga (!) – sechs Jahre später, als dieser Text entsteht, nahezu unvorstellbar – das Spiel zwischen VfL Bochum und Alemannia Aachen an. Endstand: 2:2. Kein Spiel, an das ich mich noch erinnern werde, wenn ich einmal Rentner bin.

Hier geht es zum Blog-Eintrag, den ich „K’s Choice hilft extrem“ nannte und mit der Unterzeile „Spiele zwischen Bochum und Aachen sind immer extrem. 90 Minuten zwischen Regen und Sonne, Euphorie und Schubsereien. Das Resultat: Wir fallen von Platz 14 auf 15 zurück“ versah:

Erst scheint die Sonne. Dann regnet’s. Erst feuern alle an. Dann gibt es Schubsereien. Erst führen wir 1:0. Es folgt der Ausgleich. Dann führen wir 2:1. Es folgt der erneute Ausgleich.

Spiel der Extreme.

Bochum.

Sich vor einem Bundesligaspiel morgens anzuziehen, hat etwas Ritualhaftes. Mein Wohnzimmer wird in dieser Phase zu einer Umkleidekabine, meine Socken zu Stutzen, meine Jeans zu einer Fußballhose. Das VfL-Trikot trage ich sowieso. Im Sommer offen, im Winter drunter. Stelle mir vor, in der VfL-Kabine zu sitzen. Neben Der-spielt-immer-den-Ball-Zdebel und all den anderen. Koller spricht, der Trainer. Aufstellung, Formation bei Standards, Taktik, Gegner. Meine Schuhe sitzen wie angegossen. Stollen haben sie nur in meiner Fantasie. Zuschnüren, aufstehen und rausgehen. Wichtig ist auffem Platz. Ritual.
Aachen kommt heute. Wieder einmal müssen wir nach einem guten Auswärtsspiel nachlegen, sicher bin ich nicht, wie es ausgeht. Wird es wie so oft in meinen 15 VfL-Jahren? Wenn wir eine Chance haben, uns abzusetzen, verstreicht sie zu 99 Prozent. Im Auto hin: K’s Choice. Believe. 20.000 Seconds. „Cocoon Crash“ ist schon eine gute CD. Egal, wie gut oder schlecht es dir geht; egal, wie aufgedreht oder deprimiert du bist, diese Scheibe bringt dich ins Erdgeschoss zurück, führt dich auf eine grüne Wiese, bringt dir eine Sonnenbrille und lässt dir einen Wind um die Nase wehen. Fühlst dich wie im New Yorker Central Park, im Boston Common, im Englischen Garten München, wo auch immer. Halbstündige Ruhe. Es regnet auf der Bahn. Leicht.

14.30 Uhr, Zeitplan optimal eingehalten, rein ins Stadion. Aachen also, schwarz-gelb. Abstiegskampf. Beide Mannschaft sind punktgleich, haben die gleiche Tordifferenz, absolut gleichstark. Eigentlich ein Unentschieden-Spiel. An die Hinrunde erinnere ich mich nur äußerst ungern. 1:2 verloren, völlig unverdient, wir waren 88 Minuten lang feldüberlegen. In den beiden anderen fielen beide Gegentore. Pech. Auf dem anderthalbstündigen Rückweg habe ich nicht mal Musik gehört. Na gut, nur, weil ich die „Cocoon crash“ nicht dabei hatte. Nur „Believe“ hätte meine Laune noch retten können. Aachen. Immer Spiele der Extreme. Zu Hause zwei klare Siege (5:0, 5:3), eine haushohe Niederlage vor einem Jahr (1:4). Auswärts auf dem Tivoli sind wir zweimal aufgestiegen. Die Aachener Torhüter kommen schon 50 Minuten vor dem Anpfiff zum Warmlaufen, dann die Feldspieler samt Co-Trainer Erik Meijer, der den Pfiffen des Stadions mit einem freudigen Winkewinke begegnet.

Meine Jungs sind – bis auf Sam – alle vertreten. Das Ultra-Blättchen liegt auch diesmal in meinen Händen, Unterhaltung mit Gerd, er hat nach der Lektüre die gleichen Eindrücke wie ich. Die „Staatsmacht“ zählt, die Choreographie, was die Gäste-Fans so machen. Siehe oben. Zwei Dinge überraschen mich diesmal: Mit Fanis (gemeint ist Gekas) wird diesmal sogar ein Spieler erwähnt, und die Unterstützung aller Fans in Bielefeld gelobt. Während wir uns darüber unterhalten, wird Zdebel auf der Videoleinwand gezeigt – auch er lobt die Fans. Hurra. Die „Almauftrieb“-Schals, vor einer Woche noch für lau, kosten jetzt zehn Euro, als „Fanartikel des Spieltags“. Bravo. Mist, wollte mir noch eine Karte fürs Wolfsburg-Spiel holen. Verpennt, leider. 15.26 Uhr, „Tief im Westöööhööön“ brüllt Grönemeyer. Gänsehaut auch beim 323. Spiel, Adrenalin, hoffentlich hört das nie auf. Spüre meine Socken (also die Stutzen), meine Jeans (also meine Fußballhose). Habe die Videofunktion meines Handys entdeckt. Ab der letzten Strophe (ab „Du bist das Himmelbett für Tauben“) zeichne ich die Atmosphäre live auf – damit ich etwas greifbar habe, falls ich einen Euphorieschub brauche, gute Laune, Gröltherapie.

Die Sonne steht tief. Ganz tief. Im Westen. Zdebel gewinnt die Seitenwahl. Zuerst spielen wir auf unsere Kurve, damit Drobny nicht in die Sonne schauen muss. Warm ist’s. Vermisse meine in Köln/Bonn verloren gegangene Jacke kein Stück. Das Spiel ist – selbstverständlich – ausgeglichen. Wir sind zwar ganz leicht feldüberlegen, aber noch nicht zwingend genug. In Minute 26 stürmt Bönig über links auf und davon. Die Sonne ist inzwischen hinter dicksten Wolken verschwunden, egal. Flanke auf den zweiten Pfosten, suuuper, wusste nicht, dass der Bönig so etwas kann, Dabrowski köpft den Ball zurück an den Fünfmeterraum, Gekas steht völlig frei und macht’s per Flugkopfball. SUPER herausgespielt, GROSSER Jubel, eine FÜHRUNG, das ist das, was wir brauchen. Tanzeinlagen auf der Tribüne während der „Sirtaki“, laute „Gekas! Gekas! Gekas!“-Rufe, herrlich. FUSSBAAAAAALLL!!! Halten. Das 1:0 bloß halten. Selbstverständlich klappt das nur ein paar Minuten lang. Bönig verstümpert links hinten erbärmlich den Ball, Aachens Rösler lupft den Ball aufs Tor, aber so schwach, dass Drobny den Ball sicher halten MUSS. Hey, den halt ICH sogar. Doch Drobny lässt die Kugel fallen, Fehler, Ibisevic staubt ab, 1:1. Da deutete NICHTS drauf hin. NICHTS! SCHEISSE!!! Stadionkumpel Gerd erhält eine sms von einem Kumpel, der arena in der Bochumer Bar „Threesixty“ guckt. „Kauft euch endlich einen vernünftigen Torwart“, steht drin. Spott. Zurecht. Pausenpfiff 1:1. Gleich beginnt’s zu regnen.

Die Aachener kommen schon nach acht Minuten wieder auf den Platz, Erik Meijer spricht mit jedem Spieler (was hat der Frontzeck eigentlich für eine Funktion? Prügelknabe?). Jeder im Stadion weiß: Jetzt ist Abstiegskampf. Es nieselt, regnet, Wind, heftig, selbst wir in der überdachten Ostkurve werden nass. Jede Grätsche endet erst nach zwanzig Metern, es macht jedem Spieler richtig, richtig Spaß, das ist zu sehen. Ecke für uns, kurz ausgeführt, Misimovic auf Trojan. Flanke in den Strafraum, abgewehrt, Epalle steht am Sechzehner, undurchsichtig, doch plötzlich zappelt das Netz! TOOOOOR! 2:1! Epalle jubelt, feiert mit einem Handstand-Überschlag und Salto hintendran. Die Aachener protestieren wegen einer angeblichen Abseitsposition, der Schiri gibt das Tor. Schalalalalalalalala!! Halten!!! 52. Minute. Es regnet und regnet und regnet. Vier Minuten später der Schock. Auf einmal steht Lehmann 20 Meter vor unserem Tor ganz frei und schlenzt den Ball an den rechten Innenpfosten, halbhoch. Drin. Wieder Jubel gegenüber. SCHEISSE. Kann nicht wahr sein. Aachen stürmt weiter. Zwei Minuten später köpft Dum an die Latte. Glüüüüüück!

Wechselbad geht weiter, Stimmung ist überall aufgeladen. Auf dem Zaun hat sich außer dem Megafon-Mann noch ein zweiter aus dem Ultra-Umfeld postiert. Er wird etwas belächelt und provoziert. Auf einmal steigt er ab vom Zaun und will sich mit einem älteren Fan aus meinem Umfeld prügeln. Provokationen, Schubsereien, schlichten, ein Ordner kommt. Mittlerweile ist’s wieder trocken, auf dem Rasen passiert nur noch wenig, beide Mannschaften sind scheinbar zufrieden mit dem Punkt. Abpfiff, aus, vorbei, zweimal in Folge ungeschlagen, doch was heißt das schon? Hamburg gewinnt, Mainz gewinnt, Cottbus gewinnt. Wieder nur auf Platz 15.

In einer leisen Vorahnung sage ich direkt nach dem Abpfiff: Das war’s.

Schnell flüchte ich aus der Kurve. Wieder nicht nachgelegt. Brause über die A40. Höre K’s Choice. I’m not an Addict. 20.000 Seconds. Etwas umgedichtet: „20.000 Seconds since I left and I’m still counting.“ Flüchte in den Central Park. Zu Hause, während der Sportschau, weicht die Skepsis wenigstens etwas Realität. Wenn wir absteigen, sind wir erstens zu Hause abgestiegen (zu viele Spiele verloren) und zweitens gegen Aachen. Fünf Punkte verschenkt!! FÜNF!! Die können fehlen. Am Ende. Umkleidekabine Wohnzimmer. Hole die Mineralwasser-Flasche, kippe sie mir ins Gesicht. Schnüre die Schuhe auf, ziehe das Trikot aus. Lege meinen Kopf in beide Hände. Bin traurig. Unentschieden.

Noch ist’s nicht vorbei. Fünf Spiele müssen wir noch gewinnen.

Höchstens. Nächste Woche in Bremen wird’s wohl nichts, unsere schwarze Serie dort – noch nie gewonnen in drei Jahrzehnten – kennt schließlich jeder. Für mich ist es das 100. Auswärtsspiel meiner VfL-Karriere. Hundertmal reisen, hundertmal Gästekurve, hundertmal Kontrollen, hundertmal Polizisten, hundertmal den VfL repräsentieren.

Ich freu mich drauf.

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