26. Oktober 2004 – VfL-Gladbach 3:0 – „Das Feuer ist zurück“

Am 26. Oktober 2004 bestritt der VfL Bochum sein 1000. Bundesligaspiel – und holte beim 3:0 drei Punkte gegen Borussia Mönchengladbach.

Hier geht es zum Blog-Eintrag, den ich „Das Feuer ist zurück“ nannte – mit der Dachzeile: „Das 1000. Bundesligaspiel für den VfL – und die Statistik freut sich über drei weitere Punkte und drei weitere Tore“:

Fan des VfL Bochum zu sein, ist nicht leicht. Nun gut, das ist keine allzu große Neuigkeit, schon gar nicht nach den Tausenden von Definitionsversuchen an dieser Stelle… aber seitdem ich diese Homepage nun „betreibe“, gab es immer positive Ereignisse und Erlebnisse zu berichten. Kaum etwas Deprimierendes. Nur eine einzige schlechte Serie, und die war aufgrund von einer unheimlichen Verletzungsmisere auch noch erklärbar. Doch in den letzten Wochen merkte ich, warum ich diesen Verein so schätzen und lieben gelernt habe. Gescheitert im DFB-Pokal, knapp, unglücklich, unverdient. Gescheitert im UEFA-Pokal, knapp, unglücklich, unverdient. An heftigen Zusatzeinnahmen vorbeigeschrammt, knapp, unglücklich, unverdient. In der Liga ganz weit unten, nach dem 0:3 in Wolfsburg sogar erstmals unter Neururer auf einem Abstiegsplatz, und das knapp, unglücklich, unverdient, weil uns in diesem Jahr schon drei korrekte Treffer aberkannt wurden, die zusammen vier Punkte gebracht hätten. Gescheitert. Allüberall. Und nun muss ich all den Hohn und Spott ertragen, den ich zweieinhalb Jahre in aller Überheblichkeit über den Rest der Fußballwelt um mich herum ausschüttete. „Aha, sind wir also doch endlich Tabellennachbarn“, unken die Fans des zurzeit auf einem fast schon unheimlichen Zweitliga-Höhenflug schwebenden MSV Duisburg. Und Gerd schickte schon eine sms mit dem Inhalt: „Na spitze, so eine Saison mit langem Abstiegskampf hatten wir schon lang nicht mehr.“ Es ist nicht leicht, Fan des VfL Bochum zu sein. Vor allem in diesen Tagen.

Es ist spät abends im Herbst. Das bedeutet eigentlich an der Straßenecke zwischen Oktober und November mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Nebel, Wind und Nieselregen. Es regnet nicht, der Wind ist nur schwach, und eine Nebelwolke hat sich auch nicht über das Ruhrstadion gelegt. Aber doch: Es ist ein Herbsttag, um 18.45 Uhr, und an der Castroper Straße strahlt nur das Ruhrstadion hell. Wie lange schon warten wir auf ein waschechtes Flutlichtspiel? Der Duft der Bratwurst wirkt abends wie der Duft eines glänzend komponierten Joint in einem Amsterdamer Coffeeshop und nicht nur wie der Duft einer Bratwurst. Die Kohlensäurebläschen in der Cola streben abends nicht einfach nur nach oben, sie scheinen miteinander Walzer zu tanzen. Wenn Ihr einen sucht, der ein Plädoyer für Freitagabendspiele in der Bundesliga halten soll: Ich bin Euer Mann. Im Bus vom Hauptbahnhof zum Stadion – so eine Scheiße, die U-Bahn-Röhre ist immer noch gesperrt – höre ich per Discman zur Feier des Tages „Footballs coming home“ von den Lightning Seeds, ignoriere die lauten „Bochumer Frauen, ficken und verhauen“-Sprechchöre von grün-schwarz gekleideten Fans, die danach noch ein „Ohne Bullen habt Ihr keine Chance“ nachlegen. Was ist bloß los mit dem VfL? Ich kann diese Frage nicht mehr hören. Das ist eigentlich die Standardfrage an mich nach jedem Spiel, und in den letzten beiden Jahren beantwortete ich sie auch immer fröhlich, freundlich und gern. Aber im Moment geht mir die Frage einfach nur auf den SACK! Jaaaaa, wir sind Vorletzter! Jaaaaa, es droht wieder Abstiegskampf. Jaaaa, wir spielen im Moment den größten Mist zusammen. Angekommen am Ruhrstadion. Das Flutlicht brennt.

Solche Abendspiele haben den Vorteil, dass der Tag schon rum ist, und jeder einzelne Fan mit einer ganzen Ansammlung von aktuellen Erlebnissen ins Stadion geht. 30 975 aufgeladene Gefühlsknubbel sind heute da; vermutlich ist es das, was die Abendspiele neben der Dunkelheit so auszeichnet. Am Samstag oder Sonntag sind alle Fans gerade einmal ausgeschlafen oder immer noch verkatert… wochentags stehen alle voll im Saft, sind hellwach, konzentriert, bereit, lauter zu werden als sonst. Ich habe noch die Stadionzeitung des VfB Speldorf im Kopf, die ich heute Morgen erstellen musste, für das Freitagspiel gegen Viktoria Goch (nochmal Flutlicht, hurra), und vor allem das Germanistik-Seminar zum „Spracherwerb“ an der Uni, in dem es unter anderem über „melodisches Brabbeln“ geht. Ein netter Begriff, den ich glatt aufgreifen kann, um das Geschehen in der Stunde vor dem Anpfiff zu beschreiben. Gerd ist auch schon da. Jeder von uns verschlingt eine Bratwurst, und ab geht es auf den Stammplatz. Sam kommt auch, sogar mit seiner Frau, Krüger ist sowieso da, und um 19 Uhr traue ich meinen Augen nicht. 1000 Spiele leuchtet auf der Anzeigetafel auf, und stiiiiiiimmt, heute feiert der VfL ja Jubiläum!?! Und von links nach rechts werden unsere alten Helden nacheinander interviewt. Thomas Kempe, Ata Lameck, Dieter Bast, Peter Közle und Rob Reekers. Herrlich. Alle werden beklatscht, gefeiert. „Közle, zieh das Trikot an“, möchte Gerd sogar anstimmen. Aber er lässt’s.

Man, das ist heute ein gar nicht mal so unwichtiges Spiel… wenn wir verlieren, sind wir vermutlich Letzter, haben schon den Anschluss an die einstelligen Plätze, an denen wir so gern schnuppern würden, verloren. Oh neeein, bloß das nicht. Aber heute ist Borussia Mönchengladbach zu Gast. Keine andere Mannschaft habe ich so oft gegen den VfL spielen sehen. Und die Gladbacher sind ein saukomisches Volk. Jahr für Jahr bezahlen sie bei uns in Bochum den absolut gemeinen „Top-Zuschlag“ für das in den meisten Fällen nahezu ausverkaufte Abstiegsderby und meist holen sie sich zum Dank dafür noch eine unverdiente Niederlage ab. Auch heute sind wieder mehrere Tausend Gladbacher da. Und sie sind besser gelaunt als wir. Kurz vor dem Anpfiff leuchtet noch einmal die Zahl „1000“ auf der Videowand auf. Ich habe 171 Spiele gesehen. Nur einen Bruchteil.

Die Spieler laufen ein. „In BLAU“, ruft Sam, als er die Trikots unserer Mannschaft erblickt. „Dann kann ja nichts schiefgehen.“ Zuletzt war Weiß unsere Heimfarbe. Zuerst auf die Ostkurve… fertigmachen zum Jubeln?!? Das Spiel wird keins, das in die Annalen meiner VfL-Fan-Geschichte eingeht. Oh nein, wirklich nicht. Es ist 90 Minuten lang „intensiv“ (Scheiß-Wort für einen Fußballbericht, aber das trifft’s nun einmal am besten), hart umkämpft, bietet unendlich viele Kopfballduelle und Zweikämpfe, doch in den ersten 75 Minuten sind gelungene Spielzüge über mehr als drei Stationen die Seltenheit. Aber was erwarte ich?

Der Reihe nach. Anpfiff. Die ersten Minuten vergehen. Es ist ein anderer „Zug“ in der Mannschaft. Die Spieler attackieren früher, sind aggressiver in den Zweikämpfen. Egal, ob Lokvenc, Maltritz oder Meichelbeck. Meichelbeck? Jooo, der spielt für den jungen Matip. Nach seinem enttäuschenden Debüt hockt der arme Marvin jetzt erst einmal wieder auf der Tribüne. Doch auch die Borussia hält dagegen. Fouls, Unterbrechungen und eine Rauchbombe im Borussia-Block. Pfui! Spielnote vier, Kampfnote zwei. So schaut’s aus. In Minute 18 der erste Aufschrei. Einen Ulich-Kopfball kratzt van Duijnhoven mit Ach und Krach von der Linie. Puuh, durchatmen. Bis zur Grundlinie oder in den Fünf-Meter-Raum dringt keine Mannschaft entscheidend vor. Bei uns zimmert Misimovic (auch der darf von Beginn an spielen) zweimal knapp vorbei, und auch Gladbach hat zwei gute Weitschusschancen. Dann ein Schock für uns, in Minute 29. Kalla muss raus, unser einziger noch verbliebener Innenverteidiger. Dann müssen es Meichelbeck und Maltritz alleine richten. Klappt bis zur Pause gut. 0:0. Die Stationettes kommen. Soso, also 1000 Bundesligaspiele. Das verpflichtet. Die VfL-Fans, die beim letzten Heimspiel durch die Lokvenc-Kritik viel Kredit verspielten, machen einiges wieder gut: Bei mir und beim Wratislaff. „Lokvenc“-Sprechchöre hallen mehrfach durchs weite Rund, wenn die immer besser gelaunten Gladbacher mal nicht die Lauteren sind. Halbzeit 0:0. Die Stationettes bilden wie immer zum Abschluss ihres Mini-Tanzes eine „VfL“-Formation.

Noch 45 Minuten. 45 Minuten Zeit bis zum ersten Heimsieg. 45 Minuten alles geben, rennen, kämpfen, brüllen. Gegenseitig hangeln wir uns das Seil bis zu den drei Punkten hinauf; man, das ist ein JUBILÄUMSSPIEL, und solche Spiele gewinnt „man“ gefälligst. Noch 45 Minuten. Noch eine Halbzeit. Misimovic nach zwei Minuten – vorbei. Startschuss?

Startschuss! Das Spiel bleibt erst zerfahren, nur selten blitzt die technische Stärke der beiden Mannschaften auf. Minute 54. Lokvenc lässt den Ball mit dem Kopf kurz auf Preuß abprallen, zwei Drehungen, ein Schuss, Kampa fällt wie ne Bahnschranke, EINS ZU NULL!!!! YEEEEEEEEEES!!!!! Schicke eine sms zum Urlauber Dirk in die USA. Freude auf zwei Kontinenten über ein Tor. Über ein blödes Tor nach einem individuellen Fehler. Erleichterung. Erster Heimsieg in dieser Saison? Fünf Minuten später. Strasser foult Lokvenc. Gelb-Rot für Strasser, und ich klatsche doppelt so laut. Denn dieser Luxemburger ist einer der letzten aus der Fußball-Generation der Arschlöcher. Der Mann ist so unsympathisch, dass sich Krusty der Clown weigern würde, ihn zu belustigen. Strasser, wenn der nicht gerade in deiner eigenen Mannschaft spielt, dann ist er der Todfeind jedes Fans. Unfair, nicht einsichtig, stets tretend und laut meckernd. Und jetzt muss er gehen. Tschüss!

Die Gladbacher wirken k.o.; und das nach 60 Minuten. Mittlerweile lässt sich auch Gerd auf die „Lokvenc“-Sprechchöre ein, und ach, wie wär ein Tor jetzt doch schön und passend? Aber 1:0… das Gefühl kenne ich. Die mitlaufende Uhrzeit auf der Videowand vergeht nicht und vergeht nicht. „Der bringt doch wohl nicht den Edu“, ruft jemand von oben. Ein bisschen Ironie klingt in seiner Stimme. Die Gladbacher lassen aus irgendwelchen Gründen nach. Sie kommen nicht mehr richtig in die Zweikämpfe, und Konterchancen gibt es gar nicht mehr. Führung und Überzahl, brennt da noch was an? Nein, vor allem dank unserer Abwehr. Martin Meichelbeck macht als Abwehrchef wohl das beste Spiel in seiner Zeit beim VfL. Jede Grätsche sitzt, fast jeden Zweikampf bestreitet er erfolgreich. Hut ab! Erstmals erntet er ganz laute „Martin Meichelbeck – schalalalalalala“-Sprechchöre. Gerd und ich wollen die „Erste Runde Budapest… Europapokal!!“-Nummer anstimmen – sind nur noch fünf Punkte, wenn wir gewinnen – doch das wird missverstanden. Oh jee, der Lüttich-Schock sitzt doch noch. Und die Gladbacher? Die sagen nüscht. Gar nüscht.

Fünf Minuten vor Schluss ist der Tag für sie vollends gelaufen. Nach einem ganz ganz üblen Schnitzer von Korzynietz netzt Wosz zum 2:0 ein. YEEEEEEES, UUUUUUHHHHHH, TOOOOOOR!!! Madsen packt sogar noch das viel zu hohe 3:0 drauf, nach Flanke des lange zu Unrecht nicht berücksichtigten Thoddi Gudjonsson, und so haben wir sogar noch einen Kantersieg zu sehen bekommen.

Der Rest ist die Versöhnung zwischen Fans und Mannschaft. Zwischen zwei sich kurzzeitig fremden Gruppen, die sich zwei Jahre lang super verstanden, und nun fast getrennte Wege gingen. Ein wichtiger Sieg in einem packenden, aber nicht sehr niveauvollen Fußballspiel. 45 Minuten dauert die Busfahrt auf den völlig überfüllten Straßen bis zum Hauptbahnhof. Wäre ich doch gelaufen. Im Bus sehen sich zwei nach ein paar Wochen mal wieder :“EEEEEYYY, Du SITTICH!“, brüllt der eine zur Begrüßung. Gute Idee… mach ich morgen auch mal.

Ich höre mir noch einmal die letzten Takte von „Footballs coming home“ an. Dahinter nochmal „Bochum“ von Grönemeyer. Heute kriege ich selbst nach dem Abpfiff noch Gänsepelle, so schön klingt das. Ich glaube, den Lüttich-Schock habe ich jetzt verdaut. Denn das Spiel brachte zwar keine neuen Erkenntnisse über die taktische Entwicklung des Fußballs in Gegenwart und Zukunft.

Aber es brachte etwas anderes: nämlich mein Feuer zurück!

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