31. Januar 2004 – VfL-Wolfsburg 1:0 – „Wir sind Helden“

Im ersten Rückrundenspiel der Saison 2003/2004 traf der VfL Bochum auf den VfL Wolfsburg – Endstand 1:0.

Hier geht es zum Blog-Eintrag, den ich „Wir sind Helden“ nannte – Unterzeile: „Vom Winde verweht in der fernen Zukunft“

Nur ungern gebe ich es zu, aber manchmal haben lange Haare auch Nachteile.

Der letzte Tag im Januar ist angebrochen. Auf den Straßen schmilzen gerade die letzten Reste des donnerstäglich gefallenen Schnees. Die Äste auf den Bäumen tanzen miteinander Walzer. Es ist windig. Es wäre Herbst, wenn nicht Winter wäre. Genau vor einem Jahr, beim ersten Spiel 2003 gegen Nürnberg, da habe ich mich noch als Fußball-Junkie bezeichnet. Und ja, am liebsten würde ich diese Passage für diesen Text hier kopieren. Es hat sich nichts geändert. Ein Sturm draußen, Regentropfen am Fenster, Durchzug in der Wohnung, nasse Haare von der Dusche, und die Gewissheit, helau, in ein paar Stunden sehe ich meine Jungs wieder. Es sind unzerstörbare Rituale. Die Trikot-Auswahl zwei Tage vor dem Spiel ist komplizierter als das Wahlverfahren für den US-Präsidenten. Jedes einzelne Kleidungsstück will Andis ganz eigene Wahlmänner auf sich vereinen, sei es das Uwe-Wegmann-Trikot von 1993, oder das von Peter Graulund, oder auch von „Gustl“, oder Paul Freier… Nee, diesmal ist wieder das Raymond-Kalla-Trikot dran. „Wir schießen die Wolfsburger aus dem Stadion“, trompetet mir unser Trainer aus der WAZ entgegen, während ich mir eine Cornflakes/Haferflakes/Kakao/Milch-Mischung in die Rübe donnere. Lasst mich nochmal die Tabelle auf der Zunge zergehen: FÜNFTER! WIR SIND FÜNFTER!!!!

Es ist die bisher windigste Saison. In Bremen wehte es ein bisschen, gegen Frankfurt ziemlich doll, und das heute, das schlägt alles. Die Wortfetzen vom Mann rechts neben mir an der Verkehrsampel gehen nicht am einen Ohr rein und am anderen raus, weil sie so unbedeutend sind, nein, es stürmt so sehr. Bahnhof. Viertelvorzwei. Wer wohl kommt? Mit dem VfL ist das wie früher mit dem Ringlokschuppen. Auch wenn ich mal allein zum VfL gehen müsste – irgendeiner aus meinem Kollegenkreis ist immer da. Heute hat sich die komplette Mannschaft angesagt. Fünf Wochen Winterpause sind auch genug. Mehr ist uns nicht zuzumuten.

Gegen wen spielen wir überhaupt? Ist doch egal. Wolfsburg oder so. Mist, der blöde Regen fliegt aufgrund des Winds mitten in die Kurve. Gut, dass ich die Brille zu Hause gelassen hab. Mein Stadion steht noch. Mein Stadion. Unser aller Stadion. Zum 176. Mal betrete ich es bei einem Heimspiel, fühle mich so allmählich wie ein Rekordfan, wohl wissend, dass es noch paar Tausend gibt, die noch bekloppter und noch länger dabei sind als ich. Keine Zeit für Melancholie. Jungs begrüßen. Gerd ist da. Er lebt noch, da er seinen Limerick-Vortrag in Dortmund („ich steh hier im dortmunder norden/um mich herum: goldkettchenhorden/und dealer und diebe/und käufliche liebe!/was ist aus dem norden geworden?“) scheinbar überstanden hat. „Ich war gar nicht da“, versichert Gerd. Alleeeees klaaaaar. Feige Sau! Thommy hat irgendeinen Kommilitonen getroffen, sie stehen rechts über mir. Ja wer kommt denn da von links? Der Krüger, oder wie auch immer er heißen mag. 30 Minuten noch bis zum Anpfiff, die Musik wird besser. „Hells bells“ von AC/DC, und – ja, wirklich – „Zu spät“ von den Ärzten. Zum ersten Mal höre ich die goldenen Zeilen „Warum hast Du mir das angetaaaaan? Ich habs von eineeem Bekannten erfaaaahrn!“ in einem Fußballstadion. Und es ist gut. Ich hab richtig Bock auf Fußball. Wir alle. Obwohls vom Winde verweht und kalt und wasweißich noch ist. Wir sind doch alle irgendwie Helden.

Na gut, und die größten Helden, das sind ja immer noch die elf Kerle, die im blau-weißen Trikot rumlaufen. In der Winterpause, da haben die Experten im Land fast nur über Dortmund und Schalke geredet. Dortmund, weil der Klub fast pleite ist, und Schalke, weil die den Rest der Liga leerkaufen. „Die beiden sind die eingeschlafenen Riesen“, meint unser Trainer. „Und wir der aufgewachte!“ Wär das doch wahr. Wie sieht die Realität aus? Bremen kauft uns Fahrenhorst weg, Leverkusen wedelt bei Freier mit dem dicken Scheckbuch, den Oliseh können wir wohl auch bald nicht mehr bezahlen. Harte Welt. Es ist aber das Gefühl, das ich, das wir alle so mögen am VfL: Wir alle gegen den Rest der Liga, auch wenn wir grad Fünfter sind, auch wenn die Ärsche unsere Mannschaft wieder schwächen. Wir sind noch da. „Wie steht es bei Köln gegen Mönchengladbach?“, fragt einer aus den hinteren Reihen. „Keine Ahnung, ist Abstiegskampf, interessiert mich nicht“, antworte ich. Für VfL-Fans ist das ein gelungener Witz. Als Frankfurt gegen Bayern ausgleicht, errechnet einer den Rückstand auf einen Champions-League-Platz. „Ach hör mir mit dem Scheiß auf“, meint jemand. „Wir wollen doch nicht so blöde Geldsäcke werden!“ Mein Reden.

22 Spieler stehen auf dem Platz, ein Ball ist dabei, und der Wind verarscht sie alle. Knapp 20 800 sind da, die Sportpresse des Landes wird diese Zahl mit einem „nur“ versehen (ich kann damit leben), wir gründen wieder den Anton-Vriesde-Fanklub und gehen den um uns herum Stehenden tierisch auf den Zeiger. Ja, der Anton, der verhinderte holländische Nationalspieler (hihi, keine Ahnung, warum der sich nicht gegen Jaap Stam durchgesetzt hat), der hat´s uns allen angetan. An jeder Szene ist unser Anton irgendwie beteiligt. Und selbst wenn nur der Wosz einen guten Pass gespielt hat („Antons Aura!“). Wir alle zusammen geben wieder eine ganz schön lustige Runde ab, und lachen vor allem sehr über Hertha BSC (Gong, 0:1 in Bremen – Gong, 0:2 in Bremen – Gong, 0:3 in Bremen; und das innerhalb von zehn Minuten). Für unseren pleite gehenden Dortmunder Nachbarn entwerfen wir mögliche neue Trainer-Duos, sofern der Sammer fliegt (unser Favorit: Lattek/Brehme), und – ach so – Sport wird ja auch getrieben auf dem Rasen-Rechteck. Eine große Puuuuuuhhhh-Chance hat der lange Klimowicz für Wolfsburg, der nach zehn Minuten sowas von frei steht, aber den Ball auch sowas von vorbeischiebt… Glück gehabt! Wie lang sind wir zu Hause ungeschlagen? Seit dem Bayern-Spiel im März 2003?

Es hat sich über den Winter zum Glück nichts geändert. Die Jungs geben ein unglaublich geschlossenes, kompaktes, intaktes Gebilde ab, genauso wie wir das mögen. Die Stimmung ist sehr positiv. Sogar zwei Spieler mit Zweitligaformat (Bemben, Vriesde) schleppen wir durch (naja, okay, Vriesde ist ja eigentlich ein verkappter Weltklasse-Verteidiger). Die Stärken? Van Duijnhoven im Tor! Ihm kann der Wind nur wenig anhaben, außer der Klimowicz-Chance brennt nicht mehr viel an. Dann noch Oliseh im Mittelfeld, der Stratege. Und vorn? Peter Madsen, unbezahlbar. Ein riesiger Einkauf. Der hat wirklich eine unglaubliche Kondition und ein riesiges Kämpferherz. Irgendwann wird der auch mal einen Elfmeter kriegen, heute klappte das gleich zweimal nicht. Unsere größte Stärke ist auch geblieben: Die Standardsituationen. Bei der fünften Ecke von Wosz steht Frank Fahrenhorst endlich frei und köpft das 1:0. Das erste VfL-Tor im Jahr 2004, und ich hab´s gesehen… Und warum hat Frank getroffen? Sam ist sich sicher: „Weil der Anton ihm den Weg freigesperrt hat!“ „Anton-Vriesde-Fußballgott-Sprechchöre“ gehen nicht durch. Leider.

„Du bist heute so kontrolliert“, flüstert mir Gerd zu. Ja, bin ich diesmal. Ich genieße eher im Stillen, schreie nur bei den „V-F-L—V-F-L“-Stakkati mit. Halbzeit. Regen. 1:0. Wir bleiben Fünfter. Dirk aus München grüßt den „belgischen Kommunisten“ Thommy und freut sich über die Führung. Und die Helden sind nicht müde. Wir auf der Tribüne nicht, die Jungs auf dem Rasen auch nicht. Wolfsburg bestätigt eindrucksvoll seine Auswärtsschwäche, leistet sich einige denkwürdige Querschläger, und in bester Abstiegskampf-Manier retten wir das 1:0 über die Zeit. Zum Einstieg in eine für mich anstrengende (und teure) Rückrunde wird das volle Programm geboten: Riesige Konterchancen (Paule Freier unterstreicht dabei, dass er seine Bestform wohl noch immer sucht), unnötige Gefahren in der eigenen Deckung, dazu noch Applausstürme bei Auswechslungen (Wosz) und ein abgefeierter Trainer nach dem Abpfiff (Neururer). Scheiß-Wetter, 1:0 gewonnen, drei Punkte geholt, Platz fünf verteidigt, eine Menge liebe Leute gesehen, viel gelacht, und am Ende sogar die Currywurst im City-Grill mitgenommen. That´s what it is for. Ein Spiel, an das ich mich am Saisonende (schau nach beim Hertha-Bericht) beim Rückblick garantiert nicht als erstes erinnern werde, das aber trotzdem sehr wichtig für mich an diesem Tag war. In zwei Wochen wirds noch wichtiger. Dann kommen endlich die Bayern.

Der Rest des Spätnachmittags geht rasendschnell vorbei. Die Zuganzeige will mir sogar mitteilen, die Zeit sei schon bis zum 16. September 2023 fortgeschritten… und ein bisschen fühl ich mich wie bei „Zurück in die Zukunft“. Was passiert, wenn ich den Regionalexpress verlasse, und der VfL Bochum ist schon dreimal Meister geworden!?! Und ich hab alle Meisterpartys verpasst? Doch ein Blick auf den Block mit der unausgefüllten Statistik des Handballspiels DJK VfR Mülheim-Saarn gegen HSV Dümpten holt mich auf den Boden. Ach ja, ich muss ja jetzt noch arbeiten. Muss all die Helden aus meinem Kopf verdrängen. Und muss meine vom Wind völlig zerzausten Haare aus meinem Gesicht wegräumen.

Ich sagte ja: Manchmal haben lange Haare auch Nachteile.

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