Gebt mir Abstiegskampf – 4. Oktober 2003, VfL-FCK 4:0

Im Herbst 2003 entwickelte sich allmählich die euphorische Stimmung, die uns am Saisonende in den Uefa-Cup spülen sollte. Das 4:0 gegen Kaiserslautern am 4. Oktober 2003 war so ein Spiel, an das ich mich total gern erinnere. Wahnsinniger Proll-und-Pöbelfaktor, vier blitzsaubere Tore innerhalb von 38 Minuten in Hälfte zwei, zwei Derbys vor der Brust, ein Platz im Mittelfeld. Wunderbar. Und so ist auch der Text für mein Blog ein sehr launischer geworden.

So geht der Text:

Stephan hat das so formuliert: „Also weisse, wenn dat 1:0 steht nä, wir kennen ja unsere“, und winkt ab dabei, „dann hält da ma einer den Fuß hin, und zack hasse Kakao im Gesicht. Aber ich muss sagen: Heute, dat war, dat war so richtig schön zum Angucken, der Ball lief flott. Nee, hat Spaß gemacht!“ Nennt mir einen besseren Straßenbahnfahrer in Mülheim! Einen besseren als Stephan. Gibtet nich!

Eigentlich ist alles schief gelaufen heute. Komm grad von einer eher öden Karaoke-Party (ich steh da nicht so drauf). Und wie der Tag erst angefangen hat: Bin zu spät aus dem Bett gekommen, hab die Straßenbahn Richtung Oberhausen verpasst (musste dort etwas abholen), bin dann doch hin und wieder zurück gefahren, hab aber meinen angestammten Regionalexpress um 13.46 Uhr nicht mehr gekriegt. Will dann mit dem 133er-Bus Richtung Hauptbahnhof fahren, der kommt nicht, und in den zehn Minuten, in denen ich zum Bahnhof sprinte, regnet es in Strömen. Kaum unterm Dach des ersten Gleises angekommen, hört es auf. „Boooh is dat n Scheiß-Wetter, Alter ich schwör“, meint jemand, und mir ist trotz des grammatikalischen Ohrenschmauses nicht nach Lachen zumute. Ich glaub Petrus will mich verscheißern. Und dann kommt auch noch mein Angstgegner Lautern nach Bochum, nur gegen Bayern hab ich eine miesere Bilanz. „Wir können gleich zu Hause bleiben“, kapituliere ich zu Thommy, der extra früher aus Belgien zurückgekehrt ist, nur um sich so ein matschiges Rumgewurschtel anzuschauen. Gerd teilt per sms mit, dass es ihm „pein5ich ist, aber ich bin schon wieder nicht da“ (die 5 steht tatsächlich an der Stelle) – und das passt doch ins Bild. Etwas angesickt drohe ich ihm eine Verwarnung per Homepage an (und die GELBE KARTE sei Dir hiermit gezeigt, bei ner Roten wird ein Essen im Three-Sixty im Bermuda-Dreieck fällig!).

Lasst mich zu Gedanke Nummer drei springen: „October“ von U2 säuselt in meinem Ohr, als ich – vom Regen noch ganz nass – im Regionalexpress meinen Rock-am-Ring-Kapuzenpulli auszuwringen versuche. „October – and the trees are stripped bare“, summt U2-Sänger Bono. Thommy leert grad ein Döschen Köpi und versucht mir weiszumachen, dass der VfL meinen miesen Vormittag doch wiedergutmache. Da wir schon ein bisschen zu spät dran sind, betreten die Kurve, als sich Rein van Duijnhoven schon längst aufwärmt. 14.59 Uhr, noch 31 Minuten bis zum Anpfiff, und kaum eine Sau ist da und will sich den ganzen Kram reinziehen. Da kann der Peter Neururer noch so sehr schimpfen und trommeln und fordern: Mehr als 20.000 kriegste im Moment gegen normal-gute Mittelklasse-Gegner einfach nicht ins Ruhrstadion. Bochumer Fans brauchen einfach diesen Nervenkitzel, diese Existenzangst. „Gebt uns Abstiegskampf!“, fordern der mittlerweile eingetrudelte Sam, Thommy und ich. Immer nur auf 8, 9 oder 10 stehen – wer will denn diese emotionslose Scheiße? Hmm…, wenn Bochum wieder unten steht, denke ich bestimmt anders, aber jetzt? Scheiß drauf. Hier ist doch so lange schon kein echtes Feuer mehr gewesen.

Sam hat bald Geburtstag. Er lässt sich ein holländisch-oranges Nationaltrikot mit der Aufschrift „Vriesde“ schenken. Das ist doch mal eine Idee. An der Aufstellung gibts nichts zu meckern, Momo spielt für den Wikinger Thoddi – das heißt wieder 4-3-3 statt 4-4-2 – und in der Kurve passiert nix Neues. Die „Ultras“ kommen mit dem üblichen Megaphon, dem üblichen Megaphon-Man, und ihren üblichen Sprüchen („Bochum ist die geilste Stadt der Welt!“, „Alles außer Bochum ist Scheiße“, „BVB-Hurensöhne“, „Wiese Du Fotze“ – wahlweise für alle Torhüter – „Arschloch-Wichser-Hurensohn“ – beim Torwartabschlag). Der Stadionsprecher ist immer noch der gleiche Stuten wie immer (wann lässt der endlich bei der Aufstellung das „VAN“ bei „Rein van Duijnhoven“ weg? Wir Fans beanspruchen das „VAN“ für uns! Wir wollen nicht immer nur „Duijnhoven“ rufen!). Alles nix Besonderes.

Nix Besonderes? Haaaaa, jaaaaa, es regnet wieder ein bisschen, ein Hauch von Union-Berlin-, von Alemannia-Aachen-Stimmung – und, jepp, es entwickelt sich ein munteres Spielchen. Nicht so ein wie-vertrimme-ich-am-langweiligsten-das-Spielgerät-Gebolze wie gegen Hertha und in Mönchengladbach. 22 heiße Spieler laufen auf. 22 mit Spaß am Job und mit Spaß am Grätschen. „Endlich mal ein bisschen Power“, schaukeln wir uns auch ein bisschen hoch und entfachen das Feuer mit. Und es nicht einmal gelogen und fehl am Platz. Eine halbe Stunde ist alles ganz ausgeglichen, die beste Chance hat Klose für Lautern in der 25. Minute. Eine „Puuuuuuuuh“-Durchatmen-Chance, eine Chance, bei der sich alle Fans einmal um die eigene Achse drehen, das Gesicht hinter den Händen verstecken und einmal feste reinpusten. Noch mal gut gegangen. Gegangen ist ein gutes Wort. Fünf Minuten später bringt Hristov das Stadion ganz zum Beben, als er Wosz wegmäht und dafür mit Gelb-Rot vom Platz muss. Beim Verlassen desselben schießt er dem Wosz den Ball in den Rücken. Dann Neururer-Sprint auf den Platz, Gerets auch, alle drumrum, und „FCK-Hurensöhne“-Gebrüll von allen Tribünen (aber nicht von mir). Naja, ein gutes Bild geben die hier nicht ab. Treten, meckern und sehen das dann auch nicht ein… tsetsetse. „Ich kenn ja unsere“, denkt Stephan auf der Sitzplatztribüne. „Die kriegen dann bestimmt einen rein!“ Aber nicht mehr in Halbzeit eins. 0:0. Ein nettes Fußball-Spielchen, mit hohem Brüll- und Prollfaktor – so wie ich´s gerne mag. Mit elf gegen zehn, das müsste zu schaffen sein.

Die zweite Halbzeit beginnt, und unser Lieblingstalent Anton Vriesde (eingewechselt für Kalla) ist noch nicht mal negativ aufgefallen. „Eigentlich ist der Platzverweis korrekt“, frohlockt Thommy über einen geglückten Scherz: „Die haben einen Mann weniger – und wir Vriesde!“ Aber fortan wird der Lieblingsspieler von Sam nicht mehr gebraucht. Hätte ich ein Kartenspiel dabei gehabt, dann hätte ich mit van Duijnhoven und Anton aus Tirol ne Runde Skat gekloppt. Es passiert etwas, was Thomas Wark als „Fußballfest“ bezeichnen würde, und wozu Günter Netzer das Wort „Demontage“ gewählt hätte. Keine drei Minuten in der zweiten Halbzeit sind gespielt: Freistoß Wosz in den 16er, Gewurschtel, Hashemian trocken rechts ins Eck, 1:0! HUB-HUB-HUBSCHRAUBER-EINSATZ!!! Lautern gibt sich auf, einfach nur auf – da kann Stephan (siehe oben), noch so bangen. Oliseh ganz überragend im Mittelfeld. Stopft jedes Loch, stark im Zweikampf, fast jeder Pass kommt an, selbst die langen; er tanzt kurz vor Schluss demütigend mit dem Ball als Partner. Madsen und Hashemian rochieren ständig, rackern unheimlich. Wosz nun wie aufgedreht und kaum wiederzuerkennen. Colding und Bönig wechseln die Seiten im Sekundentakt, um das Spiel zu verlagern und Lautern zu verwirren. Himmlisch.

Nächste Chance für Momo Diabang, 52., Wiese hält. Lautern ist gar nicht mehr auf dem Platz, eine tote Mannschaft, taumeln und joggen nur noch, keine Sprints mehr. „Yes Baby! Wenn ich nicht da bin, ist sogar Lautern schlagbar. Feiert schön!“, trägt Gerd zu unserem Freudentaumel bei. Ach ja, Lautern, mein Angstgegner. „Lasst Sie laufen, die Arschgeigen!“, brüllt einer vom Fanklub, der auch in unserer Reihe steht. Ja, und das lassen sie: Riesenpass von Wosz auf Madsen, 60., der steht freeeeeeeeiiiii, Kopfballllllll, in die Ecke! „Deeeeeeeeer neue Spielstaaaaand: VfL Bochum????“ „ZWEI !!!!!!“ „Kaiserslautern?“ „NULL!!!!!“ „Danke!“ „BITTE!“ Herrlich. Die Vorentscheidung. „Wir singen Lautern-Lautern-zweiiiite Liiiigaaa!“ Schwach. Nur noch ein Torschuss in der gesamten zweiten Halbzeit. Bin gespannt, wie die das schönreden wollen. Wahrscheinlich kommen die mit der Platzverweis-Nummer. Dabei war der sonnenklar und wir hätten auch mit elf gegen elf die zweite Halbzeit so bestimmt. Jede Wette! Wir demütigen Lautern. Hashemian verwertet einen Klassepass von Buckley auf 3:0 in der 76., und als Madsen mit dem Schlusspfiff nach einem Zdebel-Pass auf 4:0 erhöht, da gucken wir uns alle nur ungläubig an. Gebt uns Abstiegskampf, so viel Höhenluft tut dem Ruhrstadion gar nicht gut. Dann schon lieber solche Brachial-Sprechchöre wie in der U-Bahn zurück: „Auf der Alm da steht ne Kuh—halleluja—die macht ihr Arschloch auf und zu—halleluuuja—und die Scheiße fällt und fällt—halleluja—auf Arminia Bielefeld—hallelujaaa!“. Gegen die haben wir zwar gar nicht gespielt, aber das hat Thommy und mir grad noch gefehlt. Wir schlagen quietschvergnügt ein, rechnen die Tabelle aus, freuen uns wie kleine Jungs. Über das Spiel. Das Ergebnis. Die Huuuut-ab-Leistung der Mannschaft. Die „So-steigen-wir-niemals-ab“-Stimmung. Die Currywurst-Pommes-Majo“ im City-Grill. Was habe ich gesagt? Das war ein verkorkster Tag? Wenn der VfL gewinnt, und dann auch noch so, das heißt mit einem brillanten Sieg, dann ist mir alles andere völlig schnuppe. Die nächsten beiden Spiele, auf Schalke und gegen Dortmund, sind am Sonntag. Muss eigentlich arbeiten. Aber egal. Sollen sie mich doch rausschmeißen.

Also Stephan hat das so formuliert: „Weisse, auffe Arbeit, da bin ich ja immer ganz groß mit der Klappe, von wegen Champion und so, auch nach drei Niederlagen“, und er grinst. „Abba irgendwie gucken wir doch auch nur alle auf Platz 16!“ So sind wir, wir Bochumer. Richtig nette und lustische Gesellen, mit einer unendlich nervenden großen Schnauze. Aber insgeheim gilt der Blick nur dem 16. Platz. Auch heute, trotz der Jubelorgie.

Aber das verraten wir natürlich keinem.

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