Bitter sweet symphony

Am 12. April 2003 begleitete ich den VfL zu einem Auswärtsspiel nach Berlin. Der VfL verlor trotz 49-minütiger Überzahl mit 0:1 bei der Hertha und rutschte in den Abstiegskampf – und an diesem Tag wollte nichts wirklich gelingen, nicht einmal Verabredungen.

Der Text trägt die Überschrift „Bitter sweet symphony – Frösche zerreißen die Nervenstränge und Sprechchöre saugen die Fußball-Lust aus dem Hirn …“ und geht so:

Geigenmusik dringt via Trommelfell in jede Windung meines Gehirns ein. Ein rot geschriebener Kurzsatz mit dem Inhalt „230 km/h“ blinkt auf dem Elektrodisplay des Zuges auf, und eine Stimme, die Richard Ashcroft von der Band „The Verve“ gehört, flüstert mir „It´s a bitter sweet symphony, but that´s life“ ins Ohr.

Ich bin gern in Berlin.

In keiner anderen Stadt außerhalb des Ruhrgebiets habe ich mehr Zeit verbracht. Nicht mal in Köln. Zum ersten Mal im Juni 1994, im Rahmen einer Klassenfahrt mit der 10. Klasse. Besoffene Lehrer, die den selbst gewählten Zapfenstreich überschreiten, wippen im uralten Aufzug, „quartern“ (ein Spiel für Insider), Blue Curacao/O-Saft; Erinnerungen, die niemand vergisst. Ein Besuch am Potsdamer Platz. Eine brach liegende Fläche; unbebaut. Große Pläne für eine ferne Zukunft. Reste der Mauer stehen noch.

Meine Güte, was habe ich in diesem Jahr ein Glück mit dem Wetter bei den Auswärtsspielen. Sensationell blauer Himmel in Wolfsburg, sensationell blauer Himmel in Rostock, sensationell blauer Himmel in Berlin – und diesmal stimmen zusätzlich auch noch die Temperaturen. Der Frühling kommt; sprecht’s aus – wer wars, Mörike? – „Frühling lässt sein blaues Band, wieder flattern durch undsoweiter“.

Was für ein Tag. Und ich würd am liebsten 85 Prozent der Bochumer VfL-Mannschaft verprügeln. So sauer bin ich. Man wie peinlich!!!

– It´s a bitter sweet symphony, but that´s life, tönt´s in meinem Ohr.

Erst ein Spiel habe ich überhaupt im Kalenderjahr 2003 verpasst, nämlich das 0:2 in Cottbus. Nee, das musste nun wirklich nicht sein. Ansonsten: Der VfL spielt und Andi ist dabei. Vielleicht bin ich höchstpersönlich dafür verantwortlich, dass der VfL die mieseste Rückrundenmannschaft ist… Berlin hätte ich – wie ich glaube – aber selbst dann mitgenommen, wenn ich 2003 noch kein Spiel gesehen hätte.

Ich bin gern in Berlin.

So ein Auswärtsspiel beginnt nicht immer erst am Morgen des jeweiligen Anpfiffs. Dieses hier zum Beispiel fand seinen Auftakt bereits drei Tage zuvor mit einem ganz simplen Telefonat. Stephan hat bei mir angerufen, ein „Mülheimer Straßenbahnfahrer“ (so hat er sich auch gleich auf meinem Anrufbeantworter verewigt, nicht etwa mit dem Vornamen…), den ich schonmal im oder auf dem Weg zum Ruhrstadion oder einfach nur in einer Bahn in Mülheim treffe. Wusste gar nicht, dass der meine Nummer hat. Ist auch wurscht, denn 15 Minuten „Lacherei“ (Stephans Lieblingswort) und eine Verabredung später („Andreas, ich bin auch in Berlin. Sehen uns in der Kurve!“) stellten wir unseren eigenen Spiel-Fahrplan auf. „Andi also ich sach ma: montachs da jeht dat ja noch. Das alte Spiel ist grad vorbei, das neue noch weit weg. Dienstach geht’s dann ganz langsam los, ab Mittwoch beginnt das Kribbeln, ab Donnerstach kommen die schweißnassen Hände. Freitachs läufste dann nur noch auf und ab. Oder?“ Stimmt irgendwie.

Ich bin gern in Berlin.

Ob es wohl ein Vorteil ist, dass ich schon oft hier war? Ob ich deshalb mehr von dieser Stadt sehe? Hab mich auch mit meinem Bruder Thommy verabredet, der zufälligerweise an diesem Tag einen literaturwissenschaftlichen Vortrag in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz hält. Kaum einmal in Berlin, direkt zwei Verabredungen. Thommy hat mal in Berlin gewohnt, direkt im Stadtbezirk Prenzelberg, 1998. Hab ihn besucht. Geile Zeit. Ein Jahr später waren wir wieder dort; zum Hertha-gegen-Bochum-Spiel. Thommy hat zudem Freunde getroffen. Auch eine geile Zeit, trotz 1:4-Klatsche. Und dann noch eine Freundin, die ich dort mal hatte, und mich im Winter 2000/2001 ein paar Mal lockte. Diese Zeiten sind präsent. Bei jedem Schritt. Erinnere mich an die Leute, mit denen ich am Reichstag war, durchs Brandenburger Tor sprintete, aus dem Bahnhof Zoo marschierte. Wenn ich eine Stadt außerhalb Essens zum Studieren suchen würde; meine Wahl wäre ohne zu zögern Berlin.

Einer der berühmtesten Söhne Berlins begleitet mich durch die ICE-Fahrt, nämlich Rudi Dutschke, der so allmählich einen gewissen Grad von Idolhaftigkeit für mich entwickelt, da uns doch ein paar kleine Dinge verbinden. Seine Tagebücher sind grad erschienen, und auch wenn ich um Längen nicht so theoriefest bin wie er… Hut ab.

Der Discman dudelt die Placebo-CD „Black Market Music“ rauf und runter, die ein ständiger Begleiter meiner Tagestouren geworden ist. Morcheeba kommt mit der elfenstimmigen Sängerin nicht durch. Etwas härteres muss in den Compactdisctoaster. Rase mit 216 Sachen durch die ostdeutsche Prärie. „Drei Punkte wären super. Achte mal auf den Stadionsprecher“, funkt Dirk per sms aus dem fernen München rüber. Steige ich schon in Charlottenburg aus? Joaa, könnt ich tun, mach ich auch. Vorher keine Späßkes in der Innenstadt, direkt das feine Fußballvergnügen im Olympiastadion.

Ich bin gern in Berlin.

Irgendwann muss die Scheißserie reißen. Wir dürfen nicht absteigen. Werde durchsucht. In der Wiederholungsschleife des Olympiastadions (geiles Wetter ist übrigens) läuft der Satz „Liebe Fußballfreunde – aufgrund der Umbauarbeiten blablabla“, Rest hab ich vergessen. Mächtig viele Kräne stehen hier; ich glaub, die wollten die Kanzleramtsgeräte nicht verschrotten und haben die einfach nur verlegt. Ja wer ist das denn? Ein Mann spitznamens „Locke“ nimmt vor mir Platz. Locke erweist sich als typischer VfL-Fan, der erstens schon anderthalb Stunden vor Spielbeginn meckert und zweitens jegliche Hoffnung auf einen Punktgewinn aufgegeben hat. Das Stadion wird bestimmt mal ein Knaller, wenn es komplett fertig ist. Und doch bleibt die Aura des Nationalsozialismus immer da. Dort, wo sich Adolf 1936 grüßen ließ, ist jetzt ne Baustelle.

Habe nicht mehr die bisherigen Tage in Berlin vor Augen. Sondern die letzten Auswärtsspiele. 1:4 in Dortmund, 1:1 in Rostock, 0:2 jeweils in Bremen und Wolfsburg. Lange nicht gewonnen; warum bin ich überhaupt hier? Die immer währende VfL-Sinnesfrage. Oh ja, da kommt der Schmerz wieder, Dezember 2000, 0:1 im Pokal bei Union Berlin, bis jetzt bitterste Niederlage in meiner VfL-Karriere. Geiles Wetter, ob ich wohl ein bisschen braun werde?

Ich bin gern in Berlin. It’s a bitter sweet symphony.

Die Spieler laufen ein, sich warm, und Locke weiß schon, wer Schuld sein wird. „Ohhhh, der Gefahrenhorst, wenn ich den schon seh!“ Erst bei der Aufstellung merkt er, dass der nicht mal auf der Bank ist. „Boooo, der Oliseh, schau mal, wie ein Balletttänzer läuft der sich warm. Und der Vriiiesde – Neururer: morgen biste weg!“ Einlaufen, hab den Titel des Hintergrundsongs schon vergessen, die Hände schwitzen schon. Ich merke: Heute wird’s ein krasses Spiel. Es verlangt mir alles ab. Ein Frosch hat sich in meinen Körper geschlichen, hüpft einerseits vom einen Ende zum anderen, und zerreißt andererseits meine Nervenstränge. Meine Sitznachbarn gucken schon blöd, meine Zitterei ist echt auffällig, bei jedem Hertha-Angriff. Und davon gibt es verdammt viele. Eine Großchance folgt der nächsten; glücklicherweise haben wir einen Torwart drin. Bereits nach 20 Minuten halten alle VfL-Fans die Klappe. Unfassbar schlecht. Es bleibt beim 0:0, ein Fußball-Wunder. Und noch eins deutet sich an: van Burik fliegt vom Platz, 41. Minute. 49 Minuten Überzahl, teile ich Dirk mit, das muss doch was geben. Auch Mama, die in der Halbzeitpause einfach so mal anruft, kriegt das zu hören. Das Zittern geht weiter. Klasse, wie der Stadionsprecher „Hertha“ ausspricht, und genauso wie er „Paule“ ruft und die Kurve „Beinlich“ antwortet. Dirk hat recht.

Pause aus. Die Frösche sind immer noch da, schaue mich um, drehe mich nach vorn und hinten, zerknülle die Stadionzeitung. Gudjonsson schießt vorbei, erste Ecke für uns erst in der 55. Minute, ist das schlecht, wir spielen, als hätten wir zwei Mann weniger und nicht einen mehr. Eine Erlösung irgendwie die 62. Minute. Flanke Goor, Schindzielorz verschätzt sich, Dardai volley; 1:0 für Hertha. Ich hab´s doch gewusst. Der Rest ein peinliches Gewurschtel wie in Bremen und Wolfsburg. Das grenzt schon sehr nah an Verarschung, tja, und fast hätte der Christiansen sogar noch einen gemacht in der 86. Minute. Ein Freistoß an den Pfosten, ich hätte gekotzt vor Glück. Doch die Zahl der Fans, die langsam von den oberen Sitzreihen nach unten schlendern, um den Spielern ihre Meinung zu geigen, wird kurz vor dem Abpfiff immer größer, und ich bin darunter. Natürlich Abpfiff. 0:1. Wieder verloren. Ein weiterer Sargnagel auf die mieseste Auswärtsbilanz, die ein Fußballfan in Deutschland hat. Freier, Kalla, Oliseh: alle verletzt. Schwieriges Restprogramm. Pfiffe. Ein Mann mehr. Fast 50 Minuten lang. Und wer hat den Schnüff, um sich bei den Fans zu bedanken? Colding, van Duijnhoven! Die beiden, die als einzige alles gegeben haben. Abgerutscht auf Platz 15. Und die Olympia 2012 geht nach Leipzig. Nicht in den Ruhrpott.

Ostkurven-Kumpel Gerd (der Richte!) sitzt in Düsseldorf auf der Kö und ist völlig entgeistert, wie er per SMS mitteilt: „Ich trinke auf die Ungerechtigkeit der Welt!“ Das würde ich auch liebend gern tun, und begegne doch nur den Resten der Friedensdemo, die in der Innenstadt 15.000 Menschen anlockte. Steige in den 200er-Bus, der via Potsdamer Platz zum Brandenburger Tor fährt. Beobachte die Menschen, spüre dieses Berlin-Feeling. Feeling der Stadt, der Menschen, meiner Erinnerungen. Etwas Besonderes. Würde so gern einen Abgesang auf diesen miesen Tag machen. Zu geiles Wetter. Zu geile Stadt.

Ich bin gern in Berlin. Bitter sweet symphony im Ohr.

Na klar, eindeutig ein Vorteil, dass ich Berlin-Erfahrung habe. Kenne die Bahnverbindungen aus der Westentasche. Das „Ernst“-Trikot ist an, das Foto für die Titelseite der Homepage im Kasten. Laufe zum Kanzleramt, dem Pariser Platz, „Unter den Linden“ entlang, blicke in den Dunst der Dämmerung und der Siegessäule entgegen, fahre via Potsdamer Platz zum Zoo zurück, telefoniere mit Thommy, zweimal, dreimal, viermal, schimpfe über den VfL. Höre nebenbei aus dem CD-Recorder jugendlicher Demonstranten „Wir müssen hier raus! Das ist die Hölle! Wir leben im Zuchthaus“ aus der wilden Zeit von Ton-Steine-Scherben. Berlin-Feeling. Thommys Vortrag war ein Erfolg. Diskussion dauerte länger als gedacht, sagt er. Rede ihm ein schlechtes Gewissen ein, hihi. Zoo, 19.57 Uhr. Dutschke erzählt vom Leben mit dem Schuss im Hirn, Widerstand, Revolution, Marx, Trotzki, seinem Sohn Hosea, seine Frau.

Ich bin gern in Berlin gewesen.

Thommy habe ich nicht gesehen.

Und Stephan auch nicht.

But that´s life.

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