Der tanzende Stern

Am 7. April 2002 bloggte ich über das Auswärtsspiel des VfL Bochum bei Arminia Bielefeld. Der VfL verlor zwar 0:3, stieg aber weniger als einen Monat später nach einem fulminanten und unvergesslichen Finale in Aachen als Tabellendritter – neben Bielefeld und Hannover – in die Bundesliga auf.

Der Text trägt den Titel „Der tanzende Stern“ und geht so:

Sonntag, 9.30 Uhr, die CD im Radiowecker springt mit dem selben Ton an wie jeden Morgen, es dudeln die ersten Takte von Ashs „Shining light“. Da bin ich schon wach, denn an jedem Morgen ist dieser unverwechselbare Ton des Anspringens schon laut genug. Sonntag, 9.30 Uhr – die gewohnte Aufstehzeit an diesem Tag, aber heute ist mal nicht die Arbeit schuld. Ich habe frei – sonntags tatsächlich eine Rarität für einen Sport-Journalisten. Es ist Zeit für ein Auswärtsspiel. Arminia Bielefeld. Schon letzten Montag beim 3:0 gegen Frankfurt hieß es: „Nächsten Sonntag stürmen wir die Alm“. Und ich stürme mit. Als Linksaußen.

Müsli rein, Trikot an, Schal um, ab zum Bahnhof. Schon in Mülheim drei VfLer da, Essen, Wattenscheid, Bochum – der Laden wird gerammelt voll. Lauter blau-weiße Schals fliegen mir ins Gesicht. Schweißperlen stehen mir auf der Stirn; aber nicht, weil es aufgrund der Sonne so warm ist, nein! Sondern aus Nervosität. Jaja, keiner von Euch kann das nachvollziehen. Aber stellt Euch vor, Ihr müsstest eine entscheidende Klausur schreiben, einen Vortrag halten; eine Prüfung bestehen; ich habe dieses Lampenfieber, dieses ängstliche Gezittere, lang nicht mehr gespürt. Irgendwie geht es heute um mehr als Fußball. Steigt der VfL nicht auf, droht die ewige Zweitklassigkeit, vielleicht die Pleite, also die ewige Bedeutungslosigkeit. Für den Saisonverlauf ist dieses Spiel von ungeheurer Bedeutung. Ein bislang stets treuer und – doch – wichtiger Punkt in meinem Leben könnte wegkippen (was er sowieso früher oder später wird). Ich habe nunmal diesen unvergleichbaren Fußball-Tick!

Ach was…

ich schüttel mich dreimal, mein Kleinhirn brüllt das Großhirn an
– Es ist doch nur ein stinknormales Fußballspiel und ein Ausflug nach Bielefeld
und ich lausche.
Ganz alte VfLer sind in den NRW-Express gestiegen; Leute, die seit 20 und – nicht wie ich seit 7 – Jahren eine Dauerkarte im Portmonee verstecken. Alle leeren die Dosen Bier im Drei-Minuten-Takt, gehen pissen im Fünf-Minuten-Takt und hauen die Dönnekes raus im Sieben-Minuten-Takt. Der Nichtraucher-Wagen wird zum Raucher-Wagen umfunktioniert.
– Beschwerden schriftlich an mich,
schreit ein 65-jähriger 120-Kilo-Rentner. Okay, ich beschwer mich lieber nicht.
– Preisfrage
trompetet der Vokuhilaoliba (also vornekurzhintenlangoberlippenbart) in die Runde, als der Zug am Bahnhof von Heessen hält.
– Welcher VfL-Torjäger hat bei Eintracht Heessen seine Karriere angefangen?
Staunende Gesichter.
– Volker Abel? Heinz-Werner Eggeling? Uwe Leifeld?
Neeeneee, alles falsch.
– Jungs, ich geb Euch einen Tipp – Nachname fängt mit „K“ an…
– Ja sicher…
raunen sich zehn Leute zu
– JUPP KACZOR!
Boa glaubse, dat machste nur im Zug im Ruhrpott mit. Alles Arbeiter aus alten Bergbau-Familien, könnt ich schwören. Einmal SPD-Wähler, immer SPD-Wähler.

Raus in Bielefeld, eine wirklich witzige Zugfahrt. Ich liebe Fußball-Fans (in Dortmund flötete es aus dem hinteren Teil des Wagens in grellen Stimmen: „Ihr seid schwarz, ihr seid gelb, ihr seid die schwulsten Fans der Welt“, da schallte es zurück: „Ihr klingt aber auch ganz schön tuntenhaft…“ und zack, wurde es mucksmäuschenstill)! Zu Fuß geht´s zur Alm, ein erster Eindruck von der Ostwestfalen-Metropole (ähem…) und um 13.10 Uhr schon rein ins Stadion. Wenig los, also die stadionübliche Currywurst mit Pommes rein ins Gesicht.

Es wird später und später, voller und voller, mein Gesicht schweißiger und schweißiger… Mein Bruder Thommy kommt drei Minuten vor dem Anpfiff angesprintet. Er hat um 11 Uhr für Blau-Weiß Mintard II bei Preußen Eiberg gespielt und 0:3 verloren. Ist dafür aber pünktlich angekommen.

Anpfiff, Lampenfieber auf dem Siedepunkt. Das Stadion ist ausverkauft, bestimmt 5000 Bochumer da. Im Gäste-Stehplatzblock sind maximal 700 Plätze, aber 900 Fans da. Die Arminia-Ordnerdeppen haben auch die Karten nicht kontrolliert. Nicht zu fassen! Astreine Stimmung, endlich mal wieder. Laut geht’s zu. Die Stehplätzler fragen in 900-facher Lautstärke: „Wen lieben wir?“ Die Sitzplätzer antworten: „V – f – L !!!“ Immer wieder macht das sinnlose Singsang von den „Ostwestfalen-Idioten, scheiß Arminia Bielefeld“ die Runde. Das Spiel ist gut, Bochum hat Bielefeld nach ner halben Stunde im Sack. Dann ein Stellungsfehler, 0:1 Kauf. Ja scheiße.

Halbzeit, Wiederbeginn, Lärmpegel steigt. Doch die Bochumer gehen ein, werden eingeseift, nach allen Regeln der Kunst vorgeführt – mehr treffende Phrasen fallen mir grad nicht ein. Chance über Chance, alle auf der falschen Seite, sehen können wir nix, aber das ist vermutlich auch gut so. 0:2 Hofschneider, 0:3 Albayrak, rote Karte für Colding. Aua, das tut weh. Hoffentlich kein Debakel. Dann 16.46 Uhr, Abpfiff, Feierabend, Hände vors Gesicht. War´s das? Blick ins Portmonee, drei Oddset-Scheine hätten 70 Euro gebracht, wenn… ja wenn. Das Papier muss herhalten; zerbröseln, in 1000 Stücke, kleiner und kleiner. Was für eine Leistung.

– Du kannst in Bielefeld verlieren, aber die Art und Weise machts aus
ist das erste, was ich mich meinem Bruder zuzurufen traue.

Kaum zu glauben – 0:3. Und du kannst froh sein, dass es kein zweites Oberhausen, kein zweites 1:6 wurde. Die Sauf-Laune steigt sekündlich, doch das ist das harte Brot des Anti-Alkoholikers – saufen verboten. Sogar so schnell wie möglich aus Bielefeld verschwinden darf ich nicht. Fünf Minuten zu Fuß von der Alm weg wohnen Oliver und Sonja, zwei Mitarbeiter von Thommys Prof, bei dem er in Bielefeld promoviert. Er half den beiden vor einem Monat beim Umzug und will mal vorbeischauen. Mein Blick wandert in der Kaffeetasse hin und her. Vom linken Rand bis zum rechten Rand. Vom oberen bis zum unteren. Auch davon ändert sich das Ergebnis nicht mehr. Die Jupp-Kaczor-Story wird von Minute zu Minute unlustiger. Mein Blick bleibt an einem Nietzsche-Spruch hängen, der an einer Tür klebt:
– Nur wer ein bisschen Chaos in sich trägt, kann einen tanzenden Stern gebären.
Ein bisschen Ablenkung tut gut.
– Ich lausche dem Gespräch
ranze ich Thommy zu, als er versucht, mich einzubeziehen. Keine Ahnung, worüber die geredet haben. Der Abpfiff ist anderthalb Stunden passé, da beschließen wir, noch die nah gelegene Uni aufzusuchen, schließlich wird Thommy hier bald Seminare geben und ein wenig Zeit verbringen. Ein hässliches Ding. Ähnlich grob in die Landschaft gesetzt wie die Unis Essen, Dortmund und Bochum – und mindestens genauso grau und trist. Der Gesang von den
– Ostwestfalen-Idioten
schießt mir durch den Kopf, als uns die Bahn Richtung Hauptbahnhof vor der Nase abfährt. Ach was soll’s. An so nem Tag. Pur haben mal gesungen: „An so nem Tag erlieg ich jedem süßen Attentat“. Pizza Hut und Spaghetti-Eis locken. Was für ein süßes Attentat. Thommy strahlt, ich bewunder ihn dafür. Mit Mintard II 0:3 verloren, Bochum hat 0:3 verloren, bestimmt 50 Mark ausgegeben am Tag; und trotzdem ist er überglücklich. Wie macht er das? Ich schaue mir etwas von seiner positiven Denkweise ab und versuche mir auf der Rückfahrt, bei so ganz klassischen Haltestellen wie Rheda-Wiedenbrück, Gütersloh oder Ahlen, einzureden, dass ich wenigstens nicht arbeiten musste und das Wetter wirklich schön war.
Ein bisschen Chaos habe ich in meinem Kopf. Ein bisschen viel sogar.

Aber mit einem tanzenden Stern bin ich nicht schwanger.

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