Rock am Ring 2003

Insgesamt viermal weilte ich bei Deutschlands größtem Musikfestival „Rock am Ring“ – viermal waren es höchst unterschiedliche Aufenthalte. Im Jahr 2003 fuhr ich nur für einen Tag und eine Nacht, um Metallica zu sehen und schloss mich einer Mülheimer Kleingruppe an, aus der ich nur zwei Personen kannte. Der Tag begannsehr, sehr holprig – und endete mit der Mutter aller Konzerte!

Nun rein in den Text über mein persönliches Rock am Ring 2003:

Und nun sitze ich also im Bus, stütze mein Kinn wie so oft in die Innenseite meiner rechten Hand und starre wie paralysiert aus dem Fenster. Oh man ist das hell. Das wird wohl ein Dauergeblinzel. Nee, Sonnenbrille auf, dann wirds doch gleich angenehmer. „Tut mir leid, die Klimaanlage ist kaputt“, frohlockt der Busfahrer, und mein Kinn rutscht auf die Kante der Fensterbank. Ganz schön schweißsiffig, meine Hand. Mensch, das sind mindestens 58 Grad in diesem verdammten Bus. Und im Radio zupft Suzanne Vega ganz sanft an ihren Gitarrensaiten und haucht „My name is Luca, I live on the second floor. I live upstairs from you. Yes I think you´ve seen me before!“ durch die Lautsprecher mitten in die Hitze. Das T-Shirt versinkt im Schweiß, mein Kopf lehnt am Fenster, die Augen (Hitze macht müde) schließen sich langsam.

Auf der A61 fliegen die blauen Autobahnschilder an mir vorbei. Richtung Bad Neuenahr-Ahrweiler geht´s, dann noch ein Autobahnkreuz für den Weg Richtung Trier. Oder war´s Saarbrücken. Noch ein paar Kilometer, dann wartet der Nürburgring. Ansonsten fahren Schumi eins und zwei dort um die Formel-1-Weltmeisterschaft, doch über die Pfingsttage trifft sich die Jugend der Welt, um Rockbands zuzuhören. Zwei Jahre ist es her, als ich schon einmal die Wiesen der riesengroßen Zeltanlagen mit meiner Anwesenheit beehrte. Jetzt noch einmal die Augen schließen? Und dran denken? Nein. Vergangenheit ist Vergangenheit, Gegenwart ist Gegenwart, und in Gedanken habe ich schon soviel Geld ins Phrasenschwein eingezahlt, dass ich davon einen Vier-Wochen-Urlaub in der Karibik bezahlen könnte. Die 2001-Stimmung behalte ich für mich. Für melancholische Momente in der Einsamkeit.
Meistens im Herbst. Im Winter. Warmer Kakao. Kerzenschein. Verdammte Scheiße ist das HEISS in diesem Bus. Ach so, kein Winter, auf gar keinen Fall, Sommer ist´s. Nürburgring noch neun Kilometer, verrät das Schild, und die ersten Zelte tauchen am Straßenrand auf. Es kommt wieder, dieses Festival-Gefühl. Und auch die Schmerzen sind da, die ich fühlte, als ich an vergangenen beiden Tagen zwischen 0 und 3 Uhr vor dem Fernsehgerät saß und in West 3 den grandiosen Auftritten von Iron Maiden, The Hives, Dave Gahan, Zwan und natürlich Placebo zusah. Ich will auch hin, dachte ich, blickte auf meine Eintrittskarte und wusste: Noch 15 Stunden!
Nein, es ist richtig, dass Du nur einen Tag fährst. Es ist das Körpergefühl, das nicht zu beschreibende, das mir sagt: Diesmal nur anderthalb Tage im Zeichen des Rings. Nicht schon wieder vier Tage voller Strapazen. Tribüne D10. „Hallo Zander! Bin da! Wo muss ich hin?“ „Da, wo wir vor zwei Jahren auch waren!“ Zander, Mit-Abiturient 1997, guter Freund, Urlaubskumpel der unvergesslichen Mallorca- und Zell-am-Gerät-Trips und derjenige mit dem besten Musikgeschmack in meiner näheren Umgebung (mein Bruder mal ausgenommen, aber der gehört ja zur Familie). Zander ist also da. Hat mich per sms an den letzten Tagen über den Stand der Dinge informiert. Über das heiße Wetter, den laufenden Alkohol, die Reisegruppe. Kurz vorgestellt… „Hallo, ich bin Andi!“ Die Namen fliegen mir um die Ohren. Ich kenn nur Jenny, auch von 2001. „Wenn Du Dir die anderen Namen alle gemerkt hast, dann Hut ab!“ Nee, keine Chance. Schlafsack ins Zelt, auf die Straße klettern und schauen.

Nach links. Nach rechts. Zelt neben Zelt. Und HOPPLA, Leiche neben Leiche. Das ist sehr krass. Es gibt drei Arten von Leichen. 1. Die Alkohol-Leichen, 2. Die Sommerwetter-Leichen, 3. Die beides-Leichen, die wirklich halbtot sind und in ein Krankenhaus gehören. Es ist ein erschreckendes Bild. Und doch werden alle zu Hause von einem tollen Wochenende berichten. Und die Worte „heavy“ und „krass“ fallen vermehrt. 75.000 Menschen, oder sogar 100.000 auf einem Fleck. Vier Tage lang. Ich fühle mich, als geriete ich in eine fremde Stadt, ins Ausland. Obwohl sich Zelt an Zelt reiht, und keiner den anderen kennt, entsteht ein Gemeinschaftsgefühl. Ein nur schwer in Worte zu fassendes. Wer zu spät kommt, den bestraft undsoweiter undsoweiter. Das Publikum ist jünger geworden. Ich glaub einige von den Leuten sind noch nicht einmal in der Oberstufe – und doch schon völlig zu. Der Musikfestival-Geruch liegt in der Luft. Eine schon viel zitierte Mischung aus Amsterdamer Coffee-Shops (Joints), Alkohol (die volle Palette, von Bier bis Strohrum), Urin und Kotze. Dazu noch die zahlreichen Lagerfeuer. Im Hintergrund Musik aus Tausenden von Kasi-Toastern. Erinnert Ihr Euch an den Typen aus „TV Total“, der gleichzeitig pisst und kotzt? So einen hab ich gesehen, fast direkt auf der Straße. Das ist so schäbig, dass ich schmunzeln muss. Oh ja, Du hast mir gefehlt, Du Festival. Ich bin wieder der einzige, der sich nicht berauscht. Ich könnte es SCHWÖREN!!! Es scheint ein Ritual für 98 Prozent aller Besucher zu sein. Ein Ritual für die Jugendlichen, ein Ritual für die jungen Erwachsenen. Na klar, ihre Lieblingsmusik wird gespielt, aber einmal aus der Rolle, für vier Tage lang keinen Aufpasser spüren, ob es Lehrer, Eltern oder die Bosse im Betrieb oder Büro sind. Vier Tage lang berauschen, daneben benehmen, alles tun, was sonst verboten ist. Soziologen wie ich haben einen Riesenspaß daran. An den Ursachen und Gründen, warum ein Musikfestival bestens dazu geeignet ist, sich „die Hörner abzustoßen“.
Es ist 14 Uhr. Zehn Minuten gönne ich mir den Ausblick, bis ein Wagen vorfährt, mit einem Typen mit Megaphon. „Zelte absichern, weil Unwetterwarnung“, sind die Worte, die meine Ohren erreichen. Na prima. Kaum da, direkt Unwetter. Nee, noch sind die schwarzen Wolken weit entfernt. Ein Platz im Campingstuhl ist frei. Schnell hingesetzt, neben John und „Jazzman“ (Jessica), die scheinbar ein Teil unserer Gruppe sind. Und total fertig. Jazzman ist heiser, John hört deutschen HipHop. Dann setzt sich irgendein Typ zu uns. Einer, der so zu ist, dass er seinen Namen nicht mehr weiß. Er kommt scheinbar aus Schleswig-Holstein, der Dialekt verrät ihn. Spielt Didgeridoo, und nervt. „Zander, lass uns gehen.“

Ein holpriger Start. Der noch holpriger wird, als ich meine Eintrittskarte in ein festivalobligatorisches Armbändchen umtauschen möchte. 99 Euro hat die Karte gekostet, doch kurzfristig wurden Tagestickets für 60 Euro angeboten. Doch kriege ich die 39 Euro erstattet? Nee. Was für ein Beschiss! Drauf aufs Gelände, auf den Schock erstmal was für die Gesundheit tun, ne gefüllte Festivalpizza und ein Crepe mit Vanillepudding bestellen. Dann noch den Geldbeutel leeren, einen Kapuzenpulli holen, und sich ärgern: Boaaah, bei 35 Grad mit Pulli rumlaufen? Aber Petrus hilft. Der Himmel verdunkelt, und ZACK, ein Gewitterschauer jagt den nächsten. Soviel zum Thema holprig. Die ersten drei Bands „Disturbed“, „Queens of the Stone Age“ und „Deftones“ von 16 bis 19.30 Uhr bekommen wir nur am Rande mit. Mal stört das Gewitter, mal fallen die Mikrofone aus, der Sound ist sowieso ziemlich mies. Was hängen bleibt? Drei Bands, von denen ich nicht viel mehr bemerkt habe als sinnloses auf den Musikinstrumenten Herumgekloppe. Nicht mein Ding.
Es wird voller. „Das ist wohl der Zoo-Effekt!“, ulkt Zander. Das erste Highlight steht an. Oh Mist, es wird wieder heller. Das bedeutet zwar wieder einen Temperaturanstieg und doch schockt Marilyn Manson wohl nur im Dunklen. Erwarte nicht viel von der knapp anderthalbstündigen Show. Einfach mal angucken. Und doch stelle ich nach kurzer Zeit schon fest: Es ist gut. Marilyn Manson. Der Mann, der schocken will, der provozieren will. Der auf einem seiner CD-Cover als Jesus am Kreuz hängt. Er läuft weiß geschminkt über die Bühne. Tritt als Micky Maus vor die Kanzel. Lässt seine Tänzerinnen mit gewagten Kleidern räkeln. Der Mann, dem das Schul-Massaker von Littleton angekreidet wurde, weil die Täter nur seine Musik hörten. Der Mann, der deshalb bei „Bowling for Columbine“ auftrat. Sein Name? Eine Mischung aus Marilyn Monroe und Charles Manson, den gegensätzlichen Symbolen für die USA. Viel habe ich über Manson gelesen, und doch trifft ihn nichts wirklich. Mal ist er ein „leicht depressiver junger Mann“, dann sind seine Platten durchzogen von einem „futuristischen und nihilistischen Trend“, dann sind sie „doch von Leidenschaft dominiert, intelligent, dynamisch und doch mit vielen Facetten.“ Dann ist die Band auch mal wieder eine „Kabarett-Attraktion der Hölle, deren optische Splatter-Maskerade zur Karikatur dient“ und die „Industrial-Metal-Apocalypse“ bietet mit „diabolischer Düsternis und trotzdem viel Musikalität.“ Die einen halten Manson für einen „Clown“, die anderen sehen den „künstlerischen Anspruch“. Einmal Marilyn Manson sehen. Es überzeugt. Es schockt nicht. Und ich bin mir doch nicht sicher, wie es bei einem Großteil seiner jungen Fans ankommt. Provokation?
„We´re all stars now in the dope show“,
singt er und charakterisiert damit die ganze große Menge, die sich vor ihm erhebt und die Hände zum Applaus in die Höhe reckt. Dann noch „Rock is dead“ – „Rock is deader than dead, shock is all in your head, your sex and your dope is all that we fed, so fuck all your protests and put them to bed. God is in the tv.“

Und das bei „Rock am Ring“.

Es ist eine nette Vorspeise, aber nicht mehr. Die Menge wird unruhig. Drückt von hinten nach. Die Sekunden vergehen langsamer und langsamer. 22 Uhr und eine Sekunde… zwei… drei… noch ne Viertelstunde warten, kein Regen mehr, kein Durst mehr, kein Hunger, ich will nur noch die Jungs sehen. Die Ikonen des Heavy Metal. Die WAHREN Ikonen des Heavy Metal. Alice Cooper, Iron Maiden, Manowar, Megadeath, Iron Maiden oder Motorhead waren zwar eher da, sind aber doch nicht mit Metallica zu vergleichen, den Jungs aus San Francisco. Mit der 1983er-Scheibe „Kill ‚em all“ schockten die Vier die harte Gitarrenwelt. Die erste brutal harte Metal-CD der Geschichte, mit „hyperschnellen Maschinengewehr-Riffs, kreischende Highspeed-Soli, filigranen Monsterbaßläufe, Drum-Gepolter, das jeder Großbaustelle lärmtechnisch den Rang abläuft.“ So heißt es in einer Rezension. Es folgten weitere Alben, Klassiker wie „Master of puppets“ und „… and justice for all“ und zu einer 60-minütigen Hymne wurde das schwarze Album, das schlicht „Metallica“ heißt. Es verlieh einer ganzen Generation, nämlich der meinigen, einen Schimmer Hoffnung und bereicherte das Leben. Keine Kinder-Musik mehr wie von den Ärzten oder den Hosen, die zwar auch wichtig ist und mich immer begleiten wird, nein, wer einmal „Nothing else matters“ oder „The Unforgiven“ hört, der weiß, wie toll Musik sein kann.

Metallica fehlen mir noch in der Liste. Der einzig wahre Headliner, den ein Musikfestival haben kann. Als Kirk Hemmett, Lars Ulrich, der neue Gitarrist Rob (heißt er so?) und der unvergleichliche Sänger James Hetfield die Bühne entern, gibt es kein Halten mehr. Zwei Stunden lang fegen die Jungs über die Bühne, rocken, was das Zeug, bieten eine Wahnsinns-Show. Massen an Leuten bewegen 120 Minuten ihre Köpfe headbangend mit 200 km/h auf und ab. Die haben bestimmt in zwei Jahren noch Kopfschmerzen und Schwindelanfälle. Mir wird schon nach 10 Sekunden übel. Egal. Das ist kein Vergleich zu allem, was ich bisher gesehen habe. Obwohl die vier Jungs nur ganz alte und ganz neue Songs spielen. Die Mainstream-Phase in den 90ern, mit den hitparadentauglichen Songs „Until it sleeps“, „Mama said“, „Whiskey in the jar“, „No leaf clover“ und „Fuel“ sparen sie völlig aus. Verzeiht uns, scheinen sie zu rufen, und trommeln stattdessen „Sad but true“ und „Seek and destroy“. Zwei Songs rühren zu Tränen. Natürlich „Nothing else matters“ („Never cared for what they do, never cared for what they know, but I know… so close, no matter how far, couldn´t be much more from the heart, forever trusting who we are, no nothing else matters!“), der einzigen Ballade, die gespielt wird, und das unvergleichliche „One“ von der „… and justice for all“-CD. Eingeläutet mit einem kurzen Feuerwerk wird es eine Bombe. Das ist kein Krach. Das ist Metallica. Hart und doch Waahnsinn. Das ist die Mutter aller Konzerte. Danke, dass ich das miterleben durfte. Dafür allein haben sich die 99 Euro gelohnt. Dankedankedanke.

Als Dessert Moby. Da geht nichts mehr drüber. Oder doch?

Moby bei einem Rock-Festival. Ist das nicht der Techno-Fuzzi? Nein. Eine Stunde sprintet der kleine Mann auf der Bühne hin und her. Und es ist ein unvergleichliches Spektakel, das alle in seinen Bann zieht. Moby, der bekennende Veganer. Der Anti-Alkoholiker. Der sich dafür entschuldigt, dass George Bush US-Präsident ist („Fuck this stupid man!“), der sich über all die Sänger kaputt lacht, die nur „motherfucking…“ und „fuck“ rufen. Der in jedem Stück ein anderes Instrument spielt, mal Keyboard, mal Bongo-Trommel, mal Gitarre, mal gar nichts. Und der verdammt gute Musik macht. Musik zum Nachdenken, Musik zum Tanzen. Ganz toll „Bodyrock“, der „Natural blues“. Zu „We are all made of stars“ wird die Bühne in ein Meer aus kleinen bunten Lichtlein getaucht, die sich mit dem realen Sternenhimmel wunderbar ergänzen. Und zum Ende des Abends und damit des kompletten Festivals begeistert Moby mit einem der fantastischsten Techno-Songs, die jemals geschrieben wurden. „Feeling so real“… Ekstase pur. Superklasse.

Der Tag begann holprig.

Und endete im Traum.

Der Rest ist Geschichte. Von 2.30 Uhr bis 8.45 Uhr pennen. Sehr unruhig. Sehr kalt. Sehr ungemütlich. Aufstehen. Von der Bahn um 13,50 Euro bescheißen lassen (das neue System ist nicht nur blöd, sondern auch noch unlogisch), um 13 Uhr die Haustür in Mülheim aufschließen. War nur 27 Stunden weg. Und fühle mich wie nach einem dreiwöchigen Urlaub.

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