7. Tag – Seattle – 15. November 2018

Ich habe die Seahawks im CenturyLink Field siegen sehen – gegen Aaron Rodgers, einen der besten Quarterbacks der Football-Geschichte.

Schöner hätte ich den Tag nicht träumen können.

*

Ich erwache früh, kein Wunder, dass ich nicht so hammermäßig geschlafen habe – bei dem Ereignis, das heute vor mir liegt… Ich schmeiße schnell ein Starbucks-Kaffeepad in die Maschine in meinem Zimmer, trinke zwei Tassen, duschen, anziehen und raus, raus, raus; die Uhr schlägt gerade halb zehn. Um 14.30 Uhr muss ich in der Südwest-Ecke des CenturyLink Field meine Karte abholen, ich will zum Stadion laufen (ganz einfach, nur 35 Minuten die 3rd Avenue entlang) – also: 13.30 Uhr los.

Space Needle - im Januar 2010 (r.) und knapp neun Jahre später (l.).

Im Januar 2010 (r.) und knapp neun Jahre später.

Mit einem in einem Mini-Supermarkt erworbenen kleinen Frühstück in der Hand – Schokodonut, belegtes Brot mit Schinken und Cheddar-Käse, Cola Zero, 0,5 Liter – mache ich mich auf den Weg zur Space Needle. Ich will auch diesmal einmal über meine Stadt schauen. Die Sonne scheint, gut möglich, dass die Fernsicht ganz okay ist. Auf dem Fußweg durch mein Viertel „Belltown“ muss ich an das Lufthansa-Magazin denken, das ich beim Hinflug noch las. In der großen Aufmacher-Reportage geht es um … tataaa… Seattle. Tenor des Textes: Die Stadt boomt zum zweiten Start-up-Silicon-Valley und behält doch den coolen, hippen Punk-Charme – im Gegensatz zum „echten“ Silicon Valley in der Nähe von San Francisco, das inzwischen weder besonders cool oder hip noch etwa persönlich oder bezahlbar sei. Amazon und Microsoft haben in Seattle oder Umgebung ihren Hauptsitz.

Die Space Needle.

Die Space Needle.

Auf dem Weg zur Space Needle im „Seattle Center“ am Rande des Wohnviertels „Lower Queen Anne“ – aufgebaut zur Weltausstellung 1962 – fallen mir Dutzende „Cheeseheads“ auf. So werden die reiselustigen Fans der Green Bay Packers aus dem Bundesstaat Wisconsin genannt. Würden sie die „Toten Hosen“ kennen, wäre „Auswärtsspiel“ ihr Lieblingslied. Denn sie sind auswärts so erfolgreich wie der VfL Bochum in der Abstiegssaison unter Ralf Zumdick. Vier Spiele, vier Niederlagen – und das trotz Aaron Rodgers.

30,50 Dollar kostet der Eintritt inzwischen, puh, aber okay, bin ja nicht jede Woche hier. Zusammenfassen will ich die Momente auf der Space Needle nicht, jeder empfindet jedes Reiseerlebnis ohnehin extrem individuell. So viel: Es fühlt sich verdammt gut an, auf meine Stadt zu schauen. Ja, meine Stadt, so weit gehe ich inzwischen. Bestimmt fünfmal umrunde ich das Außendeck, um fast jedes Haus einzeln zu entdecken. So richtig überragend ist die Fernsicht leider nicht; der Stadt-Berg bzw. Stadt-Schichtvulkan (so ist es geologisch richtig) Mount Rainier ist am Horizont durch Nebel verdeckt. Schwamm drüber, muss ich leider noch einmal wiederkommen.

Blick über Seattle mit Puget Sound.

Blick über Seattle mit Puget Sound.

Ich spaziere ein wenig über den Campus des Seattle Center, schlendere über die Wiesen, an den Museen vorbei, die ich bei meinem ersten Besuch hier im Januar 2010 besuchte. Ich sehe der Monorail-Bahn zu, die mich immer an eine Simpsons-Folge erinnert, in der Homer sich als Monorail-Fahrer bewirbt, das Konzept in Springfield aber scheitert und Homer die Stadt vor einer Katastrophe retten muss. Ich schenke sie mir diesmal, eine Fahrt (die zwei Minuten dauert) kostet inzwischen 2,25 Dollar. Muss ja nicht sein.

Die Key Arena auf dem Gelände des Seattle Center wird bald plattgemacht und neu gebaut – um dann ein NHL-Team hier unterzubringen. Nach Profi-Football mit den Seahawks, Profi-Baseball mit den Seattle Mariners, Profi-Fußball mit den Seattle Sounders und College-Sport aller Art mit den Washington Huskies endlich auch Eishockey in dieser sportverrückten Stadt. Und über eine Rückkehr der Basketball-Liga NBA wird auch schon diskutiert.

CenturyLink Field am Tag.

CenturyLink Field am Tag.

Ich schweife ab. Denn inzwischen ist es Zeit dafür, die Space-Needle-Kluft gegen ein Hemd und einen seriösen Schal zu tauschen. Ist ja ein Feiertag.

*

13.40 Uhr, schick bin ich. Und lasse mich über die 3rd Avenue treiben. Vorbei an großen Kaufhäusern wie Macys oder Target, vielen kleinen Bars, Pubs, Restaurants. Je näher das Stadion rückt, desto mehr Seahawks- und Packers-Fans schlendern ebenso gemütlich wie ich.

14.20 Uhr, 2:55 Stunden vor dem Kick-off sind die Stadiontore noch geschlossen. Voll ist es schon, um eine kleine Bühne auf Vorplatz sammeln sich besonders viele Fans. „SEA! HAWKS!“- und „GO PACK GO!“-Sprechchöre wechseln sich ab. Ich sehe: Auf dieser Bühne sitzen die vier Moderatoren und Experten von Fox. „Thursday Night Football“ ist in den USA etwas ganz Besonderes. An der Ostküste, die für diese Übertragung maßgeblich ist, beginnt das Spiel zur Prime Time um 20.15 Uhr. Eine überragende Einschaltquote ist garantiert. Die Seahawks haben in der Ära von Quarterback Russell Wilson eine phänomenale Bilanz an Donnerstagen: 11:2.

Drin!

Drin!

Zunächst gehe ich zum falschen „Will-Call“-Schalter, im zweiten Versuch habe ich Glück. Karte abholen, Taschenkontrolle – und: REIN! CenturyLink Field; eins der drei lautesten Stadien der NFL. 72.000 Plätze, zwei riesengroße, überdachte Flügel mit drei Rängen, unüberdachte Tribünen an den Längsseiten. Alles sehr eng. Legendär.

Im Bauch der Arena befindet sich kein Rundlauf – wie zum Beispiel auf Schalke, sondern eine große, überdachte „Halle“ mit Zugang zum Fan-Shop und endlos vielen Fressständen. Ich suche „meinen“ Eingang zum Medienbereich, es geht ab in den Fahrstuhl und hoch unters Dach. Zweieinhalb Stunden verbleiben noch bis zum Kick-off.

Duell des Tages.

Duell des Tages.

Auch hier muss ich feststellen: Die Presseplätze befinden sich nicht unter freiem Himmel auf der Tribüne, sondern mit Dach überm Kopp hinter Fensterglas. „Press Box“ ist auch in diesem Fall wörtlich zu nehmen und in der NFL offenbar Regel und nicht Ausnahme. Hintergrund ist zum Beispiel, dass die Ergebnisse der komplizierten Spielzüge in der „Press Box“ per Mikrofon verkündet werden (Beispiel, übersetzt: „20-Yard-Pass von Wilson auf Baldwin zum First Down, Tackle von x, assistiert von y.“), was jeder verstehen soll. Auch der Blick auf die zahlreichen Bildschirme soll nicht gestört werden. Schade, dass dann von der Atmosphäre im Stadion ein wenig verloren geht. Ich sitze aber in Reihe eins.

Die Hawks kommen!

Die Hawks kommen!

Mit Ausnahme einer kurzen Esspause bleibe ich auf meinem Stuhl sitzen. Schaue ein wenig in das Stadionmagazin, studiere das Packers-Roster (das der Seahawks kenne ich inzwischen); auch in Seattle füllt sich das Stadion extrem gemächlich. Ab etwa 20, 25 Minuten vor dem Kick-off beginnt das Rahmenprogramm in der Dämmerung des pazifischen Nordwestens mit Blick auf die Skyline der Stadt – und erst jetzt kommen die Fans ins Stadion. Ein dressierter Seeadler dreht seine Runde im Stadion, ein 91-jähriger Weltkriegs-Veteran (auch hier ist Salute-to-Service-Spieltag) darf die Fahne der Seahawks-Fans mit einer „12“ (steht für den zwölften Mann, genannt „Twelves“) hissen, mit Pyro-Show betritt die Mannschaft das Spielfeld – und dann geht‘s mit (wie immer) Nationalhymne und Münzwurf („Coin Toss“) rein.

Das Spiel wird der nächste Thriller, wie schon vor vier Tagen im L.A. Coliseum. Gleich beim allerallerersten Spielzug nach vier gespielten Sekunden rutscht Runningback Chris Carson nach einem Tackle der Ball aus der Hand – ist ihm noch nie passiert. FUMBLE! Die Packers-Defense erobert den Ball, nur eine Minute später läuft Aaron Jones in die Endzone. Touchdown. 7:0 Packers. Schockstarre bei den Hawks-Fans unter den 69.000 Anwesenden. Es sind nur „Go Pack Go!“-Rufe zu vernehmen.

Nationalhymne!

Nationalhymne!

Wilson bleibt geschockt, versemmelt die ersten drei Spielzüge. Ballbesitz-Wechsel. Rodgers startet überragend, die Packers kommen zu einem Field-Goal-Versuch. Gerade einmal vier Minuten sind da gespielt. Mason Crosby setzt den Schuss neben die Stangen, hätte das 10:0 sein müssen. Glück gehabt. Wieder Ballbesitz Seahawks. Wilson sieht in der Endzone den ganz freistehenden Doug Baldwin, wirft den Ball aber weit über ihn hinweg. Unglaublicher Fehler; Kopfschütteln bei allen. „Nur“ ein Field Goal von Janikowski, 3:7 noch.

Doch Rodgers bleibt in traumhafter Form. Einen magischen 54-Yards-Hammer fängt Davante Adams in der Seahawks-Endzone, innerhalb von Sekunden ist die Menge ganz, ganz still. 14:3 für die Green Bay Packers nach etwa zehn Minuten – und NICHTS geht bei den Seahawks. Die Form ist schlecht, die Playcalls passen nicht, die Fehler sind vermeidbar. Jeder im Stadion merkt das, es wird leiser und leiser.

Klare Aufforderung!

Klare Aufforderung!

Erst im zweiten Quarter bessert sich die Form. Wilson führt die Seahawks erstmals langsam nach vorn, findet Baldwin in der Endzone – Touchdown zum 10:14. Endlich kann die Hawks-Defense danach einmal Rodgers stoppen, erneuter Ballbesitz. Carson läuft in die Endzone – Touchdown zum 17:14. Hoppla, auf einmal eine Führung. Das hatte sich lange nicht abgezeichnet. Doch es gibt ja noch Rodgers; der wirft den Ball in die Arme von Jones – 21:17 für die Packers zur Pause. Verdient.

Ich muss mich bei so vielen Ereignissen erst einmal schütteln, gönne mir einen Hot Dog, doch die Wege sind so weit, dass es direkt weitergeht, als ich zum Platz zurückkehre.

Vor dem entscheidenden Touchdown.

Vor dem entscheidenden Touchdown.

Und nach so vielen Highlights in der ersten Hälfte wird die zweite von den Abwehrreihen dominiert. Die Seahawks bringen Rodgers insgesamt fünfmal zu Fall („Sack“ nennt sich das), die Packers Wilson zweimal – nach schon einem Sack vor der Pause. Oft müssen die Angriffsreihen nach nur drei Spielzügen wieder runter vom Feld („Three and out“). Der deutsche NFL-Profi EQ St. Brown fällt bei den Packers kaum auf.

Das dritte Quarter endet – unerwartet – 0:0, es bleibt beim 21:17 für die Packers. Es folgen zwei Field Goals, zunächst für die Seahawks (Janikowski zum 20:21), dann für die Packers (Crosby zum 24:20). Viertes Quarter, Crunchtime, die Entscheidung naht. Und kaum ein Quarterback ist so nervenstark in der Schlussphase wie Russell Wilson.

Und das bestätigt er auch diesmal. Mit zwei Superpässen auf Tyler Lockett führt er die Hawks kurz vor die Packers-Endzone, dann überwindet er mit einem Pass durch die Mitte auf Ed Dickson die Blitz-Verteidigung – Touchdown! 27:24, sechs Minuten vor Schluss.

Wie wird Rodgers reagieren? Nach drei durchschnittlichen Versuchen sind noch zwei Yards für ein neues First Down zu überwinden, „4th and two“ wird in der „Press Box“ verkündet; die Packers stehen aber noch in der eigenen Hälfte, 4:20 Minuten vor Schluss. Rodgers und Packers-Coach McCarthy diskutieren: den riskanten vierten Versuch wagen oder den Seahawks den Ball per Punt schenken? Es gibt einen Punt, eine Entscheidung, die McCarthy sicher gut wird begründen müssen.

Doug Baldwin in der Kabine.

Doug Baldwin in der Kabine.

Denn das Zeitmanagement der Seahawks ist großartig. Sie geben den Ball nicht mehr her. Gewonnen! 27:24! Feuerwerk!

*

Ich packe meine Sachen zusammen und stelle fest: Ich kehre mit so vielen NFL-Reportagen aus den Staaten zurück, nur geht es leider in keiner um die Seattle Seahawks. Die Hawks haben mit fünf Siegen und fünf Niederlagen nur noch vage Play-off-Hoffnungen, die Saison läuft nicht deutlich schlechter oder deutlich besser als erwartet. Jetzt mal nüchtern formuliert.

Durch die Katakomben des großen Stadions bewege ich mich wie eine Ameise, die am LAX von Terminal 1 zu Terminal 7 will. Ich lande in der riesengroßen Kabine der Seahawks und in der kreisligakleinen der Packers; bassbetonte Musik überall, die Stimmung aber höchst verschieden, natürlich. Ich verfolge die Pressekonferenzen, notiere alles für meine Geschichten, die in den kommenden Wochen folgen – will ja nicht jeder jeden Tag was über die NFL lesen im Ruhrgebiet.

CenturyLink Field in der Nacht.

CenturyLink Field in der Nacht.

Gegen 21 Uhr ist dann leider wirklich alles gesagt und erledigt. Die Zugänge zu den einzelnen Blöcken des Stadions sind längst abgesperrt, die Kollegen verschwinden allmählich – und ich dann auch. Natürlich kann ich mir vornehmen, noch einmal ein Spiel im CenturyLink Field zu verfolgen, und doch weiß ich: Das wird schwierig. Ich atme ein, aus – und spaziere dann in der Dunkelheit über die 3rd Avenue Richtung Hotel und in die Nacht. Wow.

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