25. September 2004 – VfL-Bremen 1:4 – „Willkommen zu Hause“

An dieses Spiel erinnere ich mich noch gut. Es war – erstens – mein erstes Jet-Lag-Spiel. Nach meiner ersten USA-Tour (Ostküste, von Boston bis Washington) landete ich morgens um sechs Uhr in Düsseldorf und verbrachte die Stunden bis fünfzehndreißig damit, nicht einzuschlafen. Und es war – zweitens – das letzte Pflichtspiel vor dem dramatischen Uefa-Cup-Aus gegen Standard Lüttich. Es gibt auch noch drittens: Meine ganze Familie begleitete mich ins Ruhrstadion. Kam nicht oft vor.

Den Text nannte ich „Willkommen zu Hause“, die Unterzeile lautet: „Das mehr als verpatzte Vorspiel für die große UEFA-Cup-Sause am Donnerstag“.

Hier geht es zum Blog-Eintrag, den ich „Willkommen zu Hause“ nannte:

Nein, Andi, nicht einschlafen. Nicht wegnicken. Drei Stunden noch; na gut, vier vielleicht mit dem Abendessen anschließend. Dann darfst Du endlich ins Bett. Endlich ins flauschig warme Deckchen sinken, im Palast der Träume versinken, die Augen werden schweeeeer… Nein, Andi, nicht einschlafen. Es ist alles so ungewohnt. Drei Wochen stapfte ich über amerikanische Bürgersteige. Über die von Boston. Von New York City. Von Philadelphia. Von Washington. Und nun ist mein Flugzeug kaum drei Stunden gelandet, und schon stehe ich im Ruhrstadion, reibe mir meine müden Augen. Weil sie müde sind, und weil ich’s nicht fassen kann. Mensch, ich hab doch noch Urlaub. Aber neben mir all meine Stadionfreunde; Gerd, Krüger (der belustigt uns alle mit einem verbundenen und geschienten Mittelfinger, sieht superwitzig aus), aaaaah, da hinten kommt ja auch der Sam. Und meine ganze Familie ist auch dabei. Bochum gegen Bremen, das ist so eine Art Symbolspiel für die Ernstens. Das haben wir uns schon so oft gemeinsam angesehen wie kein anderes Spiel. Sie sind alle da, und doch blicke ich mich um, blicke in den „Unsere große Liebe“-Schal meines Vordermanns, und kann’s nicht glauben. Vor nicht einmal 15 Stunden, Andi, da warst du 6000 Kilometer entfernt, hast am Dulles International Airport in Washington einen Doppelcheeseburger bei Burger King bestellt. Und nun hast du noch nicht mal so viel Hunger, um eine der leckeren Stadionbratwürste an deinem „Happy Place“ zu ordern.

Luft. Stadionluft. Ich atme tiiiief ein, husthust, jaja, stimmt, hier wird ja deutlich mehr geraucht als in den USA. Nicht einschlafen, Andi… nee, so langsam gehts. „Was habe ich verpasst, Jungs?“ Gespräche über das Dortmund-Spiel, das 2:2. Über die Pfiffe gegen Oliseh. „Bochum hatte nie einen besseren Spieler als mich“, hat er gesagt. Großmäulig regen wir uns über diese anmaßende Unverschämtheit auf, und kleinlaut geben wir zu, dass er damit nicht ganz unrecht hat. Und doch hat er durch seine ganzen Interviews ziemlich viel Porzellan zerschlagen. Genug Oliseh. Diskussionen über den verschossenen Madsen-Elfer. Ich erzähle meine Geschichte, dass ich in New York grad in einem Internet-Cafe mit Pudelmütze saß – und keiner scheint’s zu glauben. Über Lüttich. Den UEFA-Pokal. Das Rückspiel, den Donnerstag. „Auf meiner Dauerkarte steht Block N“, sagt Gerd. „Ich muss in den H-Block“, fügt Sam hinzu. Na super, also werden wir drei am Donnerstag in den verschiedensten Ecken des Ruhrstadions Platz nehmen müssen. Thommy erzählt seine mehr als lustige Geschichte von und mit Anton Vriesde. Beim Spiel in Lüttich, bei dem Thommy mich glänzend vertrat, stand unser ehemaliges, an dieser Stelle oft und zurecht gewürdigtes Abwehrtalent direkt hinter meinem Bruder. Ein supergeiles MP3-Interview mit Extragrüßen an seinen größten Fan Sam und ein sensationelles Foto mit Thommy sind neben dem 0:0 das zweite Ergebnis dieses denkwürdigen Abends. Anton Vriesde. Tse, da stellt der sich in die Bochumer Fankurve, obwohl er mehr oder weniger sanft aussortiert wurde. Uefa-Cup. Am Donnerstag. Fünf Tage noch bis zum Spiel, an das ich auch in den Staaten oft denken musste. Eins der wichtigsten der Vereinsgeschichte. Und ich werde dabei sein. Fünf Tage. Nicht einschlafen Andi. Nicht einschlafen. Heute ist Bremen da. Die Vorspeise? Einspielen? Untergehen?

Mein Ziel ist ein anderes als bei allen anderen 258 VfL-Spielen meiner bisherigen Bundesligakarriere. Ich will einfach nur nicht einschlafen (um das zum 1000. Mal zu verdeutlichen, aufgrund des Jet-Lags BIN ICH ABER AUCH verdammt müde). Mein Bruder strahlt wie Manuel Andrack nach einem gelungenen Witz von Harald Schmidt, weil er mit einem „Thomas Ernst“-Schal rumläuft, den ich ihm bei ebay für einsfuffzig ersteigert habe. Mensch, das sieht aber auch zu geil aus. Die Bremer laufen sich warm. Frank Fahrenhorst wird gefeiert. „FAHNE!!! FAHNE!!!“ „FAAAAAAHNE ist ein Boooochumer!!“ Tja, der Mann ist das größte Problem, das wir bisher haben. Weil er nämlich nicht mehr das blau-weiße, sondern grün-weiße Trikot trägt. Meine Mum ist zum ersten Mal seit dem sensationellen Dortmund-Spiel wieder dabei; mein Dad war noch länger nicht mehr im Ruhrstadion. Sie schauen sich um. Hat sich was geändert? Jepp, die Anzeigetafel. Wir haben einen guten Stehplatz erwischt, alle können gut sehen. Es ist kurzweilig, genauso wie der Urlaub. Mein Gedanke streift nur kurz „Shrek 2“, den Film, den ich mir im Flieger von Washington bis Amsterdam auf Niederländisch ansehen musste. Das ist erst ein paar Stunden her. Gestern, ja gestern wanderte ich noch durch Adams-Morgan, Georgetown, war in der Nähe des Weißen Hauses. Und nun? Andi, Urlaub ist vorbei, konzentrier dich auf Bremen. Ich hätte es mir leichter vorgestellt. Nach-Urlaubs-Melancholie?

Anpfiff. Vier Spiele verpasst. Vier Unentschieden verpasst. Noch keine Pflichtspiel-Niederlage in diesem Jahr kassiert. Bei uns spielt Bechmann erstmals von Anfang an. Neururer setzt auf die übliche 4-2-1-3-Taktik. Bremen ist nicht wirklich konstant gestartet, habe ich mir aus meinen Internetsessions in den USA gemerkt. Eine dicke Klatsche gab’s zum Auftakt in der Champions League – und auch in der Bundesliga fluppt’s noch nicht richtig. Auf geht’s. Stimmung ist solide. Bin wach. In der ersten Halbzeit passiert nicht viel. Aber auch nicht so wenig, dass ich den Jet-Lag spüren würde. Ich bin wach, gehe mit, klatsche mit, feuere mit an, reiße Witzchen mit meinen Kollegen, zum Beispiel über die komische Aufblasklapphandaktion des heutigen Tagessponsors (man, wie dumm), stelle fest, dass Gerd sehr spöttisch und eher schlecht gelaunt ist (warum eigentlich?), unterhalte mich mit Sam über seine wirklich interessierten Erfahrungen mit Washington. Er hat da mal ein Jahr gewohnt und ich ärgere mich tierisch, ihn nicht vorher nach seinen Eindrücken befragt zu haben. Unterhaltungen, Unterhaltungen, Unterhaltungen, zwischendurch ein Blick auf die Eltern, ob alles okay ist; und hoppla, Halbzeit. Vom Spiel hab ich gar nicht viel mitgekriegt.

Pause. Die Cheerleader kommen; „Rusty“ nicht mehr. Der Darsteller der Lok aus „Starlight Express“ sang vor dem Spiel irgendsoeinen Song, und das ganze Stadion hat gefeiert. Lokalpatriotismus heißt das wohl. Ich schwöre, ab sofort mehr auf das Spiel zu achten. Auf Taktik, auf Einzelkritik, auf Chancen. Andi, üüüüüüüben für die Arbeit, du musst wieder reinkommen in den Rhythmus. Aufpassen!! Aufpassen!! Aufpassen!! Wiederanpfiff. Bremen hat gewechselt. Klose spielt jetzt für den gelb-rot-gefährdeten Valdez. Ach ja, stimmt, da war doch in der ersten Halbzeit mal ein Spielergetümmel, aus dem der Valdez mit der gelben Karte hervorging. Stimmt ja. Und jetzt ist Pfeffer drin. Der VfL hat Mühe, das Tempo mitzugehen. Bremen lauert geduldig auf Fehler. Einen macht Zdebel in Minute 54. Konter, Borowski, 0:1. Maaaaaan, ich sag’s ja, Bremen ist unser Super-Angstgegner. Ich selbst hab nur gegen Bayern eine schlechtere Bilanz. Und von Sekunde zu Sekunde bin ich erschrockener. Der verletzte Madsen fehlt überall. Er fehlt als torgefährlicher Stürmer und vor allem als fleißiger Defensivarbeiter. In Minute 62 muss Wosz raus, nach einem Zusammenstoß mit Pasanen nach einem Kopf(!)ballduell. Ohne den ebenso fleißigen Wosz ist gar keiner mehr fleißig. Alle traben, behäbig, nicht engagiert genug, keine Kondition? Thommy lobt nicht einmal mehr seinen Lieblingsspieler Maltritz (der Name fiel in der von mir kaum beachteten ersten Halbzeit ziemlich häufig in meiner Umgebung). Die Viererkette ist doch eigentlich dieselbe wie im Vorjahr. Colding, Kalla, Bönig. Und Knavs statt Fahrenhorst. Macht es dieser eine Wechsel aus? Wir haben schon fast so viele Heimgegentore in drei Spielen wie in der kompletten letzten Saison…!!! Der Knavs wird nie mein Liebling. Die Ostkurve murrt, die Haupttribüne schon viel länger. Block A muss schon die Initiative ergreifen und laut „V-F-L! V-F-L!“ brüllen. Bechmann spielt schwach, genauso Preuß. Und Lokvenc zieht sich den Unmut von allen zu. Gegen Ismael und Fahne Fahrenhorst gewinnt er keinen Zweikampf, nicht mal ein Kopfballduell. Und weil seine Spielweise sehr statisch und unbeweglich aussieht, bringt er nicht mal einen Pass an den Mann. Das ist schwach. Das ist wirklich schwach. Und die Erklärung, dass es gegen den Double-Gewinner des Vorjahres gilt, ist eine ziemlich dürftige.

65. Minute, Standardsituation. Vielleicht wieder so ein Krümeltor. Trojan flankt, Knavs köpft wunderschön… TOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOORRRRRR! SCHALALALAAAAAAAAAAAAAlalalalalalalaaaaaaaaaaaa!!! Man, ist das unverdient. 1:1, ausgerechnet der Knavs, sollte es wieder zu einem Punkt reichen? Diese Standards reißen uns immer raus, und nach vier Spielen Pause feiere und brülle ich aus vollster Ekstase mit. Kaum ausgebrüllt, Gegenzug, Klose, 1:2. Und da war es wieder, diese Bremen-Krankheit. Der Rest ist eine Demontage. Gut, Kalla köpft nach Trojan-Freistoß aus derselben Distanz an die Latte, aber das ist die einzige Szene, in der wir überhaupt noch einmal die Mittellinie überschreiten. Das ist Aufgabe. Keine Arbeitsverweigerung, aber schon Lustlosigkeit. Bei uns gibts die nicht. „Und wir gewinnen, und wir gewinnen, und wir gewinnen am Donnerstaaaaaag!!!“ Fünf Tage noch, dann zählts. „LÜTTICH KANN KOMMEN!!!!“ 1:2? Egal! Klose setzt kurz vor Schluss sogar noch das 1:3 drauf. Macht nix, unsere Jungs denken halt auch schon am Donnerstag. Und jeder hat mal einen schlechten Tag. Ein paar VfLer wollen früher gehen. „Geeeeegen Lüttich wolln wir Euch nicht seeeeeehn!“, hallt’s durch unser Rund, und bei manchen kommt die Botschaft an. Klose setzt sogar noch das mittlerweile verdiente 4:1 drauf, und bevor es eine Packung gibt, verzichtet der Schiedsrichter auf die eigentlich zwingend notwendige längere Nachspielzeit und pfeift lieber pünktlich ab. Eine Leistung der Marke „unter aller Sau“, schwache Leistungsträger (bis auf van Duijnhoven und Wosz), mehr als dumme Fehler, und das gegen eine superstarke Bremer Mannschaft. Sollte uns die Doppel- und Dreifachbelastung doch schaden? Angst geht um im Ruhrstadion. Bei mir. Selbstgespräche. Im DFB-Pokal sind wir raus, in der Bundesliga erst ein Sieg nach sechs Spielen, und der war nicht einmal verdient. Stell dir vor, wir verlieren gegen Lüttich oder spielen nur unentschieden? Dann ist die ganze Saison schon am 1. Oktober total im Arsch!!! „Ach Andi, das war vielleicht gar nicht schlecht“, meint Thommy. „Die haben heute gesehen, dass man nicht immer nur mit Glück und Standardsituationen weiterkommt. Das wird schon!“

Ausnahmsweise bin ich pessimistischer als er. Sieben Punkte nach sechs Spielen – ziemlich wenig. Gerd und Sam haben fast fluchtartig den Ort des Debakels verlassen. Tief enttäuscht. Meine Eltern gehen mit einem Sack voll Erinnerung nach Hause und werden die heute Abend erst noch sortieren müssen.

1:4 gegen Bremen. Manmanman. Und dafür habe ich meinen Urlaub extra so ausgerichtet, dass ich am Samstagmittag wieder da bin. Ich hätte noch einen Tag bei 30 Grad in Washington verbringen können. Mit einem Sonnenbad vor dem Lincoln Memorial. Aber nein, ich bin dem gefolgt, was der Schal meines Vordermanns beschreibt: „Große Liebe!“ Herzlich Willkommen zurück in Deutschland, Andi! Wenigstens bin ich nicht eingeschlafen… das Spiel war also nicht ganz nutzlos.

Fünf Tage noch.

Ab sofort zählt nur noch Lüttich. Nur noch Lüttich!!! Wir packen es. Wir packen es. Wir packen es. Ich bin ganz sicher.

„Und wir gewinnen – und wir gewinnen – und wir gewinnen am Donnerstaaaaaaaaag!“

Nervös bin ich schon jetzt.

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