Dreams – 8. November 2003 – VfL-Köln 4:0

Hach, wie gern setze ich mich in meinen DeLorean und reise zurück. Zurück in den wundervollen Herbst 2003. Unglaubliche neun Jahre ist es her, dass der VfL durch die Bundesliga spazierte. Jetzt steht der VfL am Abgrund. Pleite, 3. Liga, nur noch 8000 Zuschauer. Damals waren es 25 000, immer. Es gab in diesem Herbst nur wundervolle Spiele, zum Beispiel das 4:0 gegen den 1. FC Köln. Beim Effzeh saß zum ersten Mal Marcel Koller auf der Trainerbank. Ich nannte den Blog-Eintrag „Dreams“ und verpasste dem Text die Unterzeile „Surreale Tage im Oberhaus der Bundesliga! Beispiel? Raymond Kallas darf sein historisches erstes Tor köpfen!“

So geht der Text vom 8. November 2003:

Manchmal mitten im Schlaf sprinte ich durch Mailand. Oder durch Manchester. Durch Glasgow. Regentropfen fallen vom Himmel, verteilen sich überall auf meinem Gesicht. Dann schaue ich extra hoch in die Wolken, um die Tropfen gebührend zu empfangen, schmeiße meine Brille auf den Bürgersteig und brülle ganz laut „YAAAAAAAAAAWP!!!!!“, ganz wie Todd Anderson im „Club der toten Dichter“. Um meinen Hals baumelt mein blau-weißer Schal mit dem VfL-Bochum-Wappen drauf und vor meinen Augen laufen Bilder von Champions-League-Spielen. Die Tore, die weiß ich dann im Schlaf ganz genau. Freistoß Oliseh von halbrechts, auf den langen Pfosten, Kopfball Kalla, Unterkante Latte; 1:0, gewonnen. Ob in Mailand, Manchester oder Glasgow. YAAAAAAAAWP! Doch am Morgen, wenn dann der Wecker klingelt, dann blinzel ich kurz und wache in Mülheim auf, in meinem eigenen Bett. Dann sind all die Träume vorbei, und die Tabelle der Bundesliga flüstert mir zu: „Pssssst… Andi…. das ist der VfL Bochum… der wird niiiiiieeee in der Champions League spielen. Und der Kalla… der schießt sowieso nie ein Tor für den VfL!“

So ist das nach meinen Fußball-Träumen. Einen solchen hatte ich heute Nacht – zugegeben – nicht. Eigentlich weiß ich gar nicht mehr so genau, was überhaupt in meinem Gehirn vorgegangen ist. War es mein Traum-Urlaub in San Francisco? Schnorcheln im ägyptischen Roten Meer? Eine wunderschöne Frau? Null Ahnung. Nur noch die Hintergrundmusik ist hängen geblieben. Passenderweise natürlich „Dreams“ von den Cranberries.

Traumhaft schön waren die letzten beiden Spiele. 2:0 auf Schalke, 3:0 gegen Dortmund, das wird es so innerhalb einer Woche wohl nie wieder in der Vereinsgeschichte geben. Das ist Kapital 1 des Bochumer Surrealismus, der im Moment die Bundesliga überfällt. Vor der Saison stufte uns die gesamte Fußball-Expertenelite als Absteiger Nummer zwei nach Eintracht Frankfurt ein – und jetzt? Jetzt haben wir bewiesen, dass es doch geht, mit einem kleinen, aber feinen Familienverein in einem kleinen, aber feinen Stadion; in dem fast jeder jeden noch kennt, oben mitzuspielen. Nun gut, auch bei uns kriegen die Jungs Millionen, das ist schon klar. Aber in den meisten der anderen 17 Klubs kriegen die Spieler Aber-Millionen, und spielen in hochmodernsten, synthetischen, völlig unpersönlichen Arenen, die ruck, zuck in Konzertsäle, Veranstaltungshallen umgewandelt werden können. Wo bleibt inmitten des Profits das Vereinsprofil? Unser Ruhrstadion steht allenfalls Herbert Grönemeyer zur Verfügung. Das nenne ich konsequent!

Meine Fresse, ist das alles surreal. Surreal? Was heißt das eigentlich, surreal? „Kunstrichtung, die das Traumhaft-Unterbewusste künstlerisch darstellen soll!“ Na bitte. Traumhaft. Traum. Dream. Willkommen in der Rahmung dieses künstlerisch darstellenden Berichts. Da steht die Überschrift doch schon fest, bevor ich überhaupt losgefahren bin, frohlocke ich um kurz nach halb zwei, als ich mich auf den Weg zum Bahnhof mache, um in die S-Bahn zu hüpfen. S-Bahn? Genau, richtig gelesen. Die habe ich seit bestimmt fünf Jahren nicht mehr in Richtung Bochum benutzt, sondern stets immer brav auf den Regionalexpress gewartet. Der kommt aber aus Köln, und die ganzen rot-weißen Geißböcke zu sehen? Nee, das muss nun wirklich nicht sein. Also ab durch Essen-Steele, Essen-Steele Ost, Essen-Eiberg, Wattenscheid-Höntrop, und bis Bochum Hauptbahnhof. 14.30 Uhr treffe ich am Ruhrstadion ein, nach der Abhetzerei beim Dortmund-Spiel genieße ich das in vollen Zügen. Und denke an meine bisherigen Köln-Erfahrungen. Mensch, gegen den FC habe ich schon lange nicht mehr gespielt. Letztes Jahr waren die in der zweiten Liga, davor wir; und davor hat der VfL fast alle Spiele verloren, ein paar Jahre lang. Irgendwie waren mir die Kölner immer unangenehm, und jetzt kommen die auch noch mit nem neuen Trainer. Gefäääährlich, würde Faßbender sagen. Aber ist doch egaaaaaaaaal, wir können doch fünf Spiele in Folge verlieren, wir sind der VfL, wir haaaaben doch schon 18 Punkte. „Surreal“, schmeiße ich Gerd mein heutiges Lieblingswort auch mal entgegen. Die Kölner laufen ein und wir brüllen laut: „AB-STEI-GER! AB-STEI-GER!!!“ Aus unseren (!!) Mündern. Und wieder: „Surreal!“

Bruderhärzken Thommy ist wieder dabei, hat Kollege Harald mitgebracht, Gerd und ich vermissen allerdings unseren braunbegebrannten Freund Sam, der unentschuldigt fehlt (Setzen! Sechs!); dafür ist Heinz-Horst-Dieter-Günter (schlagmichtot, ich kenn seinen Vornamen nicht) da. Ein kleiner, circa 170 großer Mann, mit ganz kurzen Haaren, hat immer eine Brille auf und ein Baseball-Cap, ist gekleidet mit Jeans und Jeansjacke und ein genauso treuer Fan wie wir alle. Noch so eine reine Stadionfreundschaft. Außerhalb der Ostkurve könnte ich mit Heinz-Horst-Dieter-Günter nicht einen Satz wechseln. Ich wüsst nicht worüber. „Ey Jungs“, präsentiere ich mich als grandioser Mathematiker, „vier Tore Differenz und wir sind für heute vor Bayern!“

Die Sonne steht am Himmel, aber tief, sehr tief, denn der Herbst ist gekommen. Das sorgt auf der einen Seite für herbstliche Depressionseuphorie (spürt Ihr sie auch?), andererseits für einen völlig verwirrten FC-Torwart Wessels. Kaum hat das Spiel angefangen, hat der Wessels sich zweimal verguckt. Unsere beiden Top-Stürmer Hashemian in der achten und Madsen in der 15. Minute sind da und netzen zum 1:0 und 2:0 ein. Jaaaaaaa, Riiiiesen-Jubel… YAAAAAAAAAAAWP!!!! Und es geht alles wieder von vorn los. Wir haben mal wieder richtig mies angefangen; aber unsere Chancenauswertung ist so göttlich. Zwei Angriffe, zwei Schüsse, 2:0! „DER IST SO GUT, DER HASHEMIAN – DER IST SO GUT!“, frohlocken wir alle, schlagen ein, und bemerken kaum, dass Heinz-Horst-Dieter-Günters Birne brummt. Beim Torjubel zum 1:0 bekam er einen Bierbecher an den Schädel. Eine 5-Zentimeter-Risswunde ziert nun seine Rübe. „Gehts?“ „Klar, der Kopf ist noch dran!“ „Ach“, brüllt einer aus den oberen Rängen, „lass dat anne Luft trocknen. Kommt ne Kruste drauf!“ Was danach passiert, ist mit dem Begriff „Ergebnisverwaltung“ zusammenzufassen. Es ergeben sich grandiose Gegensätze. Wir, die wir trotz unserer Serie immer noch (so erscheint’s mir) unterschätzt werden, führen die Kölner vor. Drei Torschüsse kriegt der FC zustande, das ist nicht bundesligatauglich. Zeitweilig kommt der FC drei Minuten lang nicht an den Ball, was bei jedem Kurzpass laute „oooooooohhhhh-HEY“-Rufe zur Folge hat. Eine Demütigung. Langelangelange hat sich keine so schlechte Mannschaft mehr im Ruhrstadion präsentiert (nicht mal Cottbus im letzten oder Schweinfurt im vorletzten Jahr). Für eine Mannschaft, die seit einer Woche einen neuen Trainer hat, ist das ein Armutszeugnis. Keiner spricht auf dem Rasen, niemand schnauzt sich an, nicht beim 0:1, beim 0:2, 0:3 und erstmal gar nicht beim 0:4. Wehrlos. Lieblos. Zahllose Flanken ins Niemandsland, unfassbare Missverständnisse. Uns genügt eine durchschnittliche „Wir-geben-nur-75-Prozent“-Trainingsspielleistung, um den FC völlig problemlos zu distanzieren.

Doch langweilig wird es aus zwei Gründen nicht. Erstens ist dafür ein herrlicher Fan-Gegensatz zuständig. Wir sind alle froh, glücklich, und trauen unseren Augen nicht (Stichwort „surreal“), die Kölner ironisieren das Geschehen; stimmen ein bei „Oh wie ist das schön“, „So ein Tag, so wunderschön wie heute“ und feiern ihrerseits den Ex-Kölner Sunday Oliseh. Und der zweite Grund? Eine kleine winzige Episode in diesem Spiel in der 45. Minute und doch eine große für viele VfL-Fans. Ein ganz normaler Freistoß aus der Halbposition (da sind wir die stärkste Mannschaft der Liga, könnte ich schwören), ein Kopfball von unserem Raymond Kalla, dem wir es alle sooo sehr gönnen, und der kullert, stolpert, hüppelt tatsächlich zum 3:0 ins Eck. DER KALLAAAAA!!!! Surreale Tage im Oberhaus? „Der Kalla schießt doch nie ein Tor“, flüstert die Tabelle eigentlich. Nun nicht mehr (und der Sam hat´s verpasst, hihi!).

In einer objektiv langweiligen, aber subjektiv grandiosen zweiten Halbzeit verfliegt die Schlussphase im Ferrari-Tempo. Stevic streichelt einen Freistoß in den Winkel, in der 87. zum 4:0. Und Abpfiff. Slawo Freier hat nach seiner Verletzung mal wieder gespielt und ist nicht mal aufgefallen; Hashemian wird immer noch nicht solo gefeiert (Vahid, Du hast einfach einen Scheiß-Namen zum Feiern, Christiansen war da viel melodischer!), Kalla dafür umso mehr. „Wir wolln Euch tanzen sehn!“, fordern wir in aller Euphorie, und van Duijnhoven und Oliseh legen einen perfekten Tango aufs Rasen-Parkett. Das ist es, jaaaa, 4:0 gewonnen, es ist nicht zu fassen, es ist nicht zu fassen, es ist nicht zu fassen. Da verkrustet Heinz-Horst-Dieter-Günters Risswunde doppelt so schnell. 21 Punkte nach elf Spielen. 13 Punkte Vorsprung vor dem ersten Abstiegsplatz. Kann nicht wahr sein.

Am Schluss, ganz am Schluss, als die Spieler nach dem 4:0-Tanz wieder auf dem Weg in die Kabine sind, hauchen wir alle gemeinsam das große 1996-er-UEFA-Cup-Lied. „Uuuuuefa-Cup, uuuuuuefa-Cup, und wir ham das blau-weiße Licht bei der Nacht und wir ham das blau-weiße Licht bei der Nacht, uuuefa-cuuuup, ueeeeeeefa-cup!“ Aber wir hauchen es nur, ganz leise, damit es möglichst schnell wieder im Wind verweht. Denn wir sind der VfL Bochum; und wir alle kommen nervlich mit dieser Tabellensituation nicht wirklich zurecht. Es ist, als ob ein gut verdienender Beamter auf einmal eine Million im Lotto gewinnt. Dabei ist er mit seinem bisherigen Leben hochzufrieden und weiß nicht, wohin mit der Kohle. So geht es uns allen. Für heute sind wir also auf Platz fünf, und sogar vor dem FC Bayern. Und das am elften Spieltag (und nicht am ersten).

Lasst es uns tatsächlich nur hauchen, ganz leise. Brüllen können wir es nur zu Hause, im Schlaf.

Und dann vielleicht sogar in „Old Trafford“ in Manchester, im „Ibrox Park“ von Glasgow oder im Mailänder „San Siro“, in den ganz großen Stadien.

Denn träumen, das dürfen wir. Und beim VfL sind wir darin ganz besonders gut.

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