Bochum, wir haben ein Problem!

Am 16. Oktober 2004 berichtete ich für mein VfL-Blog unter der Überschrift „Bochum, wir haben ein Problem“ über das Fußball-Bundesligaspiel zwischen dem VfL und dem Schlusslicht Hansa Rostock. Es war das erste Heimspiel „danach“. Nach dem unaussprechlichen Aussetzers eines brasilianischen Noch-Schalkers gegen eine belgische Mannschaft. Ich reiste danach in den Urlaub, nach Skandinavien, schlenderte durch Turku in zerissenen Jeans, um zu vergessen. Doch ich vergaß nicht. Und dann das. Bochum spielte schlecht, verlor 0:1, ich verfasste als Vorspann die Zeile „Erfolg ist vergänglich – dem Fußball-Orgasmus vor fünf Monaten folgen das Nichts und ein Nachmittag zum Schämen“.

Hier geht es zum Text:

Fünf Monate ist es her, dass ich mich freudestrahlend, siegestrunken, überglücklich und fassungslos an diesen Computer setzte und die Zeilen „Wir sind im UEFA-Cup“ verewigte. Zwei Jahre lang war diese Homepage eine einzige Partyorgie, ein verbaler Fußballorgasmus, ein fortlaufender. Elf Pflichtspiele und einen Sommer später hocke ich auf meinem höhenverstellbaren Schreibtischstuhl, habe mich nach ganz unten gedrückt, ganz so, wie es meine Gemütsverfassung momentan will, und mir sprudeln die Worte wieder heraus. Aber diesmal bin ich nicht freudestrahlend. Nicht siegestrunken. Nicht überglücklich. Aber doch fassungslos.

Es ist das erste Mal, dass ich das Ruhrstadion nach „dem“ Spiel betrete. „Dem“ Spiel, dessen Name wir alle nicht mehr aussprechen wollen. In den letzten Tagen, in den letzten zweieinhalb Wochen habe ich Abstand gebraucht. Musste Zeit für mich gewinnen. Es klingt danach, als sei ich von der Liebe meines Lebens verlassen worden, und ein bisschen was davon hatte dieser Moment auch. Er hat so weh getan. So weh, dass mich dieses Tor in „diesem“ Spiel bis in meine Träume verfolgt hat. Ich an der Stelle von Edu, und ich haaaaauuuuu den Ball weg, bis zum Hauptbahnhof, bis nach Essen, bis nach Mülheim, der Ball fliiiiiegt, und wir sind weiter. Ich wusste eine Sekunde später, dass ich diesen Moment in meinem ganzen Leben nicht vergessen werde. Ein Moment, den mir niemand mehr nimmt. Was ist da nur passiert? Deprimiert schlich ich durch Turku, durch Stockholm, durch Mülheim. Ab und zu hämisch beklatscht, meist aber bemitleidet. Bitter, so bitter. Das „Bochum“-Lied von Grönemeyer höre ich eigentlich selten bis nie zwischen den Heimspielen. Zur Aufmunterung hörte ich es in den letzten Tagen täglich. Und das dreimal.

Okay, Neubeginn.

Der „worst case“, der größte anzunehmende Unfall, das Schlimmste ist eingetreten. Raus aus dem UEFA-Pokal. Raus aus dem DFB-Pokal. Und in der Bundesliga stehen wir weit unten. Eigentlich können wir schon mit der Planung für 2005/2006 beginnen, absteigen werden wir wohl nicht. Es sei denn, ja es sei denn, wir schaffen nochmal… aber dann müssen wir heute damit anfangen. Heute, gegen Rostock, den Tabellenletzten, den vermutlich sicheren ersten Absteiger dieser Saison. Voller Tatendrang ziehe ich mein Kalla-Trikot über den Kopf, stopfe meine Digitalkamera in die rechte Hosentasche, und motiviere mich selbst, die Spieler, den Trainer, alle VfL-Fans: „LOS!!! HEUTE!!!“ Muss das bescheuert aussehen. Huch, was ist das denn? Die aktuelle Stadionzeitung „Mein VfL“ für das heutige Spiel steckt in meinem Briefkasten. Merkwürdig. Ist das üblich für Mitglieder? Wenn ja: Warum kriege ich die heute zum ersten Mal? Mitglied bin ich schon etwas länger! Egal. Gutes Omen? Schlechtes Omen? Gar kein Omen. Sortier dich, Andi, sortier dich. Wofür war das UEFA-Pokal-Aus gut, frage ich mich im Regionalexpress. Ich überlege und denke nirgendwofür. Dass wir alle wieder auf dem Boden der Tatsachen sind, ist zwar korrekt, aber wer will schon auf dem Bürgersteig der Tatsachen herumlaufen? Wo es doch in schwindelerregenden Höhen so schön ist! Der Bochumer Hauptbahnhof ist eine Baustelle. Wie der VfL. Und im U-Bahn-Tunnel wird auch gebaut. Erstmals geht es mit Sonderbussen zum Stadion. Und der scheint einen Umweg über Mülheim zu nehmen. Das dauuuuert und dauuuuert. Endlos. 30 Minuten später hocke ich in der Kurve, mit einer Bratwurst in der Hand. Das Stadion steht noch. Deprimiert sind wir alle geblieben. Viele empfangen ihre Kurvenkollegen (ich auch) mit dem Satz „Wir konnte deeeer bloß über den Ball treten?“ Es verfolgt uns alle. Es ist keine leichte Zeit für die Stadt Bochum. Der VfL scheint wieder da anzukommen, wo er ein paar Jahrzehnte verbrachte – und dem Opel-Werk droht die Schließung. Es ist eine traurige Atmosphäre. Auf den Pupillen der meisten Zuschauer ist die Anzeigetafel vom UEFA-Cup-Spiel mit dem „1:1“ zu erkennen. Und im Sinn haben viele das Opel-Werk. Einige Mitarbeiter dieser Firma kommen auch zum VfL, und solidarisch ist auch der Rest. „Bochum ohne Opel ist wie der VfL ohne Ball“, steht auf einem Plakat, „Gemeinsamer Kampf um jeden Arbeitsplatz“ auf einem anderen. 4000 von 10.000 sollen abgebaut werden, von den Zulieferfirmen ganz zu schweigen. Im Opel-Werk läuft ein Streik, und wir brüllen laut „Opel! Opel! Opel!“

Keine leichte Zeit.

Das „Bochum“-Lied kommt zur rechten Zeit. Die Melodie bohrt sich fest im Kopf, obwohl sie schon 1000-mal mein Gehirn erreichte, meine Sinne streichelte. „Tief im Westeeeeeen….“, eiert Grönemeyer durch die Lautsprecher. Und es versöhnt ein wenig. Mit der Ungerechtigkeit der Fußballwelt. Mit dem Herbstwetter. Ach mit wasweißich. So richtig aus sich raus geht niemand heute. Zumindest zu Beginn. Dass fast 25.000 Zuschauer da sind, ist für mich ohnehin ein Wunder. Folgt eine Trotzreaktion? Es wäre zu schön. So können wir uns nicht aus dem internationalen Geschäft verabschieden. Doch wie lange dauert die erneute Rückkehr? Nicht an dieses Spiel denken. Nicht! „Andi, wir wollten doch nicht darüber reden“, sagt Stadionkumpel Sam zu mir, und JA, er hat Recht. Aber, by the way: Wie konnte der Edu da über…!?! Neeeein… Rostock, unser Angstgegner. Ein offensives Spiel kündigt sich an. Beide Trainer setzen auf drei Stürmer. Bei uns spielt Peeeeeeeeter Madsen wieder – Preuß muss raus. Und Meichelbeck vertritt den verletzten Knavs in der Abwehr. „Ich hab“, unkt Sam, „ein verdammt gutes Gefühl, dass die das klar gewinnen.“ Doch nichts passiert. Dieses eine Gegentor in diesem einen Spiel scheint unseren Jungs die Fähigkeit, gepflegt Fußball spielen zu können, zerstört zu haben. Kaum ein Pass findet einen Abnehmer. Die Bemühungen, einen Zweikampf zu gewinnen, enden zwar oft im Erfolg – aber genauso oft verschwindet der Ball danach im Niemandsland. Langsam, behäbig, schlecht. Die Rostocker haben Platz, nutzen den Raum für ihr gutes Kombinations- und Direktspiel. Und haben eine Chance nach der anderen. Oft verschränke ich meine beiden Arme, noch öfter halte ich mir die flache rechte Hand vor die Augen. Will nicht mehr hingucken. Ist es wieder da, das Abstiegsgespenst? Schaut es mal wieder vorbei in Bochum, hat es geklingelt, ganz nach dem Motto „ich wollte mal wieder alte Bekannte auf nen Kaffee besuchen?“ Im Moment machen alle Fehler. Der Trainer, die Spieler, auch die Fans.

LAUT UND NOCH LAUTER müsste es in dieser Lage werden, doch immer leiser wird es. Rostock vergibt eine Riesenchance nach der anderen. Zweimal rettet Sören Colding auf der Torlinie, was Sam zum Satz „Wenigstens auf der Linie sind alle gut“ treibt. Dass es zur Pause 0:0 steht, ist so glücklich, dass die Mannschaft in der Kabine ein Rubbellos freirubbeln sollte. Gewinn an einem solchen Tag garantiert. Wir schauen uns ratlos an. Verstehen die Welt nicht mehr. Was ist da los? Wenigstens lassen wir uns die Laune nicht verderben. „Hängt sie auf die schwarze Sau“, brüllen Unverbesserliche, und Sam schaut über seine Schulter und meint lässig: „Jaja, immer auf die Schwarzen.“ Ganz groß. In der Halbzeitpause beim Torwandschießen hat Sponsor Novoferm ein elektrisches Garagentor ausgelobt. Habe ich auch noch nicht gehört.

Jetzt, auf die eigene Kurve, jetzt müsste es doch gehen. V-F-L, V-F-L, WEEEEN LIEBEN WIIIIIR??? V-F-L !!!!! Jaaa, brüllt, noch lauter, doch die Stimme versagt. Genauso wie den Spielern die Füße zu versagen scheinen. Das Wetter versagt auch ein bisschen. Mal Regen. Mal Sonne. Man Petrus: Jetzt ENTSCHEIDE dich doch mal endlich! „Bochum, wir haben ein Problem!“, stellt Sam messerscharf fest, irgendwann in einer langweiligen Sekunde zwischendurch, als ich Gerd frage, ob er für sein Haus in Bochum-Dahlhausen, das er im November bezieht, IKEA-Möbel kauft. In Minute 75 passierts. Rade Prica hält aus geschätzten 58 Metern drauf, und drin. 0:1. Hochverdient, längst überfällig, wie erwartet Riesenpfiffe. Und ausgerechnet der in den letzten Jahren konstanteste, unser heute bester Mann, patzt. Im Moment läuft alles schief und schräg. Zwei Jahre nur Glück gehabt, und jetzt dreht sich der Wind. Jetzt knallt uns die volle Pech-Breitseite mitten ins Gesicht. Mitten ins Tor trifft Prica. Genau in die Mitte. Und das nichtmal feste. Doch van Duijnhoven zeigt null Reaktion. Einen klareren Torwartfehler gibt es nicht. Der Rest geht in Pfiffen unter. Gut, eine Chance nach einer Ecke für Madsen gibt es noch, aber er wollte den negativen Unterton dieses Textes nicht zerstören. Einer ist scheinbar schuldig für diese Pleiten, Pech und Pannenserie: Vratislav Lokvenc. Jede unglückliche Aktion unseres neuen Stürmers wird kritisch beäugt, jeder Fehlpass, jede verunglückte Chance mit wütenden Beschimpfungen begleitet. Der Mann gibt alles, aber er hat kein Glück. Er ist ein wenig langsam, statisch, unbeweglich, aber er meint es doch nicht böse!! Außerdem hat er es schwer. Fast alle Pässe kommen auf Halshöhe und ständig wird er von zwei Gegenspielern umringt. Hart. Nach dem x-ten Ballverlust brüllt die halbe Kurve „LOKVENC RAUS!“ und das unüberhörbar laut. Ich schäme mich. Mit einem Hammer möchte ich mich in den Boden hauen, als wäre ich in einen Asterix-Comic verpflanzt worden. Was soll das? Einen eigenen Spieler auspfeifen? So etwas ist wirklich das Allerletzte! „LOKVENC! LOKVENC!“, brüllt sogleich die andere Hälfte der Kurve, und kurzzeitig befürchte ich eine Schlägerei in blau-weiß. Lokvenc stolpert nur noch mehr herum. Er tut mir leid. Das hat er nicht verdient, obwohl er – wie gleichwohl alle anderen auch – einen unerträglichen Mist auf dem Rasen produziert hat. „Das gibt Abstiegskampf“, zieht der vor dem Anpfiff noch unglaublich optimistische Sam sein eigenes Fazit. Natürlich bleibt es beim für Bochum noch schmeichelhaften 0:1 in diesem Grottenkick.

Erfolg ist vergänglich, würde der Literat zigarettenrauchend und Kaffee trinkend auf seinem Laptop verewigen. Aber ich bin keiner. Vor fünf Monaten, da haben wir alle „Europa wir kommen! Europa wir haben’s geschafft!“ gesungen. Vor fünf Monaten hat es Lokvenc mit seinem Tor für Kaiserslautern gegen Dortmund erst ermöglicht, dass wir im UEFA-Cup spielen. Und jetzt scheint alles kaputt. Bochum in Liga zwei, Opel weg. Eine Beerdigung ist gegen diese Stimmung eine Comedyshow. Auf der 30-minütigen Busfahrt zurück zum Hauptbahnhof reagieren viele panisch, reden von Burghausen, Aue, zweiter Liga. Wir haben erst sieben Punkte, richtig, aber es sind noch 26 Spieltage! 26!!! Erfolg ist im Fußball wohl vergänglicher als anderswo.

„Tief im Westeeeeeen“, klingt von weither, aus irgendeinem Lautsprecher am Hauptbahnhof, aus irgendeiner Kneipe, in Richtung Andis Trommelfell.

So bitter und traurig klang es lange nicht mehr.

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