20. September 2004. 15. Urlaubstag. Washington.

usa-7-andi-und-das-kapitolMeinen Sommerurlaub 2004 verbrachte ich mit dem Rucksack auf dem Rücken an der US-Ostküste– in Boston, New York, Philadelphia, Washington. Nicht mein erster Rucksack-Urlaub, aber der erste ganz allein. Während dieser dreiwöchigen Reise führte ich zum ersten Mal ein Online-Tagebuch, das ich von meinem Bruder direkt auf meiner Homepage veröffentlichen ließ. Einige dieser Einträge habe ich “digitally remastered” und veröffentliche sie nun neu.

Dieser hier trug auf meiner “ersten” Homepage die Überschrift “Meter machen” und stammt von meinem 15. Urlaubstag, den ich in Washington DC verbrachte. Ich übernachtete in einem Einzelzimmer in der städtischen Jugendherberge, 15 Fuß-Minuten vom Weißen Haus entfernt.

Jetzt endlich rein in den Text vom 20. September 2004:

Es war ein exzellenter Tag. Ein Tag, an den ich mich bestimmt mein Leben lang zurueckerinnern werde. Was nicht heisst, dass ich DC zu meiner Lieblingsstadt erkoren haette, das wohl kaum… nein; das Wetter, die Emotionen, die Gedanken, die Eindruecke, mein durchgezogenes Programm: Das Puzzle des 20. September passte einfach perfekt.

Keine Ahnung, wie es Euch geht, aber bei mir hatte sich vor diesem Urlaub ein irgendwie unnahbares USA-Bild aufgebaut. Wie viele Filme, wie viele Serien, die in diesem Land spielen, habe ich mir Tag fuer Tag angesehen, und Sammelsurien von Bildern in mich aufgenommen. Eine ganz andere Welt. Ganz anders? Als ich meine Aeuglein frueh am Morgen aufkneife, faellt mir sofort – warum auch immer – das Wort „entmystifiziert“ ein. In diesem Zusammenhang trifft es voll zu.

Ja, das nenn ich doch mal einen Sommertag. Vorgestern, ach wer denkt schon noch an vorgestern!?! Minutenlang stehe ich am Fenster, vor dem Duschen, nach dem Duschen, und ich finde nicht die fisseligste Wolke.

Am Fruehstueckstisch entwickle ich meinen Tagesplan neu. Nix mit U-Bahn fahren, bei dem Wetter wird alles zu Fuss erkundet, so lange das auch dauern mag. Wer weiss, wie lange ich in Europa wieder auf einen solchen Traumtag warten muss? Doch Fruehstueck… wo isn hier das Fruehstueck? Jemand deutet auf einen einzigen Tisch. Darauf stehen zwei Kannen Kaffee, mehrere O-Saft-Paeckchen und zwei Pappkisten mit Muffins drin. Das ist alles. Mager, aber es ist eben eine Jugendherberge.

Auf, Andi, auf zu einem nochmal ganz neuen und anderen Tag. Let’s go!

Auch Washington ist schachbrettartig angelegt, so ist das nun einmal in den USA. Das faellt mir als erstes auf, als ich von der 11. Strasse – also der Jugendherberge – in die 10., 9., 8. usw. laufe. Die Ost-West-Achsen tragen Buchstaben, die Nord-Sued-Strassen Zahlen. Aber halt! Als ich noch eine Querstrasse ueberquere, Richtung Kapitol spazierend, meinem ersten Tagesziel, stosse ich auf die Pennsylvania Avenue. Stimmt, die gibt es ja auch noch. Ich lasse mich aufklaeren, vom Baedeker, von Schautafeln, von Eindruecken. Als der erste Praesident George Washington gemeinsam mit dem Architekten L’Enfant die Hauptstadt entwarf, ging es nicht nur um Standorte fuer das Weisse Haus und das Kapitol. Die Stadt sollte das Land auch moeglichst gut und pompoes repraesentieren. Also durchschneiden nach L’Enfants Plan nun mehrere Avenues das Schachbrett, und muenden in grosse Plaetze. Auch den Baustil legten L’Enfant und Washington fest. Angelehnt ans antike Athen und ans antike Rom entstanden prachtvolle Palaeste. Je mehr ich auf der Pennsylvania Avenue voranschreite, mit dem Weissen Haus im Ruecken, desto mehr… schwitze ich … nee, das auch, aber desto mehr schuettele ich den Kopf. Links und rechts masslos uebertriebene Regierungsgebaeude und vor mir das Kapitol (ja richtig, dieses und das Weisse Haus liegen an derselben Strasse; geplant natuerlich). Kapitol, Sitz des US-Kongresses, mit der weltberuehmten Riesenkuppel. Gewaltig, riiiiesig, aber schoen? „Was massen die sich hier an?“, ist mein erster Gedanke. Das alles ist eine Spur zu gross, zu gewagt, unpassend fuer diese Stadt, sprich: groessenwahnsinnig. Hey, wir sind Menschen, wollen alle friedlich zusammenleben; sind da solche Angebergebaeude noetig?

Die Bibliothek „Library of Congress“ (Anmerkung an meinen Bruder: 100 Millionen Buecher!) und das oberste Gericht „Supreme Court“, ebenfalls auf dem „Capitol Hill“ genannten Huegel, sehen genauso aus. Breite, lange Treppen, viele Saeulen, Marmor, Prunk. Spontan kommt mir in den Sinn, womit ich Kapitol und Supreme Court bisher immer verband; naemlich mit einer Folge der Serie „Eine schrecklich nette Familie“, in der Al Bundy mit seiner Gruppe „No Ma’am“ nach Washington zieht, um gegen die Absetzung seiner Lieblingsserie „Psycho Dad“ zu demonstrieren. Ueberall rennen aalglatte, dauertelefonierende Anzugtraeger rum. Ach, die koennen mich alle mal. Ich leg mich auf eine Bank auf dem „Capitol Hill“, schliesse die Augen und…!?! Sonne, herrlich!

Vor mir liegt ein langer Marsch, der die ganze zweite Tageshaelfte beanspruchen wird. Egal, das Wetter ist geil genug. Als Naechstes kommt der „West Potomac Park“ am anderen Ende der Innenstadt Washingtons. Der Schweiss prickelt auf meiner Haut, so dass ein kleiner Film entsteht, und ich muss dauernd husten. Die Luft in DC ist heute schlecht. Ueberall wird gebaut. Gebaut. Gebaut. Gebaut. Fast an jeder zweiten Strassenecke scheint ein Kran zu stehen, der unendlich viel Staub in die Gemaeuer und Luft pustet. Husthust. Der Tag ist einfach sensationell schoen. Nach 20 Brutto-Fussminuten erreiche ich das „Washington Monument“, das weithin sichtbar ist. Logisch, bei 183 Metern Hoehe ist es das groesste „Ding“ der Stadt. Besteigbar ist es aber erst wieder 2005. Ist ne Baustelle gerade… Vor dem Weissen Haus schiesse ich die Pflichtfotos (das liegt auf der Strecke) und beschliesse, mich gar nicht erst auf die Suche nach einer moeglichen Besichtigungstour zu machen. Diesen geilen Tag (Sonneeee!) will ich nicht mit Warteschlangen und Klimaanlagen verbringen!! Ich lege mich laengs auf die Wiese vor dem Weissen Haus, benutze meine Tasche als Kopfkissen, schalte „Believe“ von K’s Choice ein und lasse die Welt eine Scheibe sein. Momente, die ich liebe.

Kurz vor Sonnenbrandgefahr wandere ich weiter. Heute „mache ich Meter“, so heisst das im Fussballjargon. Mache Meter wie der Sesi Schindzielorz in seinen besten VfL-Zeiten. Im „West Potomac Park“ am gleichnamigen Fluss stehen ich und Massen an Eichhoernchen vor dem „Reflecting Pool“. Irgendwie habe ich mich darauf am meisten gefreut. Ich schreite gemaechlich die 600 Meter entlang, in Richtung „Lincoln Memorial“; denke an den Film „Forrest Gump“, wie Tom Hanks alias Forrest durch den Pool seiner grossen Liebe (verflixt, wie heisst sie noch gleich?) entgegensprintete. Hab Tausende von Menschen vor Augen, die im Wasser und daneben stehen in der 60-ern gegen Rassismus demonstrieren. Und hab Martin Luther King im Ohr, der hier seine „I have a dream“-Rede hielt.

Ich schreite die Stufen zum Memorial hinauf (nicht fuer den Schalke-Mittelfeldspieler, sondern fuer den US-Praesidenten Abraham Lincoln, in dessen Amtszeit die Abschaffung der Sklaverei fiel), erblicke das Schild „Quiet! Respect please!“… und Respekt floesst der sechs Meter hohe Lincoln schon ein. Aber hallo. Im totalen Schatten hockt er in einer Art Tempel (uebertrieben natuerlich) und schaut streng in Richtung Reflection Pool und Washington Monument. Nach ein paar Minuten mache ich kehrt, fotografiere noch kurz ein Paerchen aus Frankfurt. Unterhaltung. Klingt schon geil, wenn ich sage „Aehem, ich war schon in Boston, New York und Philadelphia…“ Die beiden haben nur zwei Wochen Florida zu bieten und beantworten meinen Hurrikan-Entsetzensblick mit einem „War nicht so lustig!“ Endlich darf ich mich in meinem Urlaub mal an einen Pool legen. Ich tu’s!

Auch die grossen Parkanlagen mit viel Gruen, viel Wasser (angelegte Seen, Wasserfaelle und Brunnen en masse) waren geplant. Die Memorials – eins nach dem anderen – kamen sukzessive hinzu. Beim „Vietnam Memorial“ erschrecke ich. An zwei Staenden wird „US Army“-Zeugs in allen Varianten verkauft; es stehen Geldsammelbehaelter mit der Aufschrift „Save the troops“ davor; und die werden fleissig gefuellt. Von den vielen Tafeln mit den Namen aller US-Gefallenen in diesem sinnlosen Krieg: Patriotismus. Salutierende Veteranen, trauernde Menschen in USA-Shirts. „Respect please!“ Was waere passiert, haette ich mein Vietnam-Trikot getragen? Also darauf kann ich gar nicht!

Unter dem Geleitschutz des gigantisch blauen Himmels klappere ich auch das Koreakrieg-, das Roosevelt- und das Jefferson-Memorial (zwei weitere Ex-Praesidenten) ab; mal am Potomac River entlang, mal am angelegten Ableger „Tibal Basin“. Es ist so gruen, dass ich’s hier schoen finde und viele Joggstrecken entdecke (und Jogger natuerlich). Ich lasse mich zum Sonnen nieder, vor dem Jefferson-Memorial. Die Minuten verrinnen, es schlaegt schon 17.10 Uhr, und trotz der vielen Kilometer bin ich keine Spur kaputt. Nur etwas durstig.

Hier zu leben ist bestimmt seltsam. In einer Stadt mit so einer exorbitant hohen Verbrechensrate, voellig uebertriebenem Prunk (ich muss es nochmal sagen), miesem Lobbyismus (Stichwort „Watergate“, moechte nicht wissen, was hier sonst noch passiert), keinem Flair und viel Security – aber auch in der politisch bedeutendsten Stadt der Welt, mit vielen schoenen Gruenflaechen, historisch wichtigen Hausern und bestimmt intellektuellem Kulturangebot.

Immer wieder setze ich mich auf dem Rueckweg hin, lese, entspanne, wechsle die CD. Einem Halt bei „Kinko’s“ folgt noch ein geldsparender bei Maeckes und schon in der Dunkelheit der Nacht erreiche ich die Herberge. Zehn Stunden nonstop unterwegs. So langsam spuer ich’s doch.

Aber das war es wert. Es wirkt, als wuerde ich in diesen Tagen den Lohn bekommen fuer all die Muehe, all die Vorarbeit in den letzten sieben Monaten. Mit einem zufriedenen, mueden Grinsen im Gesicht gehe ich schlafen. Viel sehen, kritisch reflektieren, entspannen, das alles gewuerzt mit Superwetter – das nenne ich einen exzellenten Urlaubstag. Siehe Beginn.

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