11. September 2004. 6. Urlaubstag. New York.

Meinen Sommerurlaub 2004 verbrachte ich mit dem Rucksack auf dem Rücken an der US-Ostküste– in Boston, New York, Philadelphia, Washington. Nicht mein erster Rucksack-Urlaub, aber der erste ganz allein. Während dieser dreiwöchigen Reise führte ich zum ersten Mal ein Online-Tagebuch, das ich von meinem Bruder direkt auf meiner Homepage veröffentlichen ließ. Einige dieser Einträge habe ich “digitally remastered” und veröffentliche sie nun neu.

Dieser hier trug auf meiner “ersten” Homepage die Überschrift “Elfmeter” und stammt von meinem sechsten Urlaubstag, drei Jahre nach 9/11 in New York City – auch am Ground Zero. Ich übernachtete in einem sehr kleinen, überaus mies ausgestatteten Hostel namens „Whitehouse“ an der „Bowery“ in Greenwich Village in der Nähe der New York University. Bei der Buchung ließ ich mich vom Preis für eine Nacht (35 Dollar – etwa 25 Euro) leiten. Sensationelle Lage, keine Frage, und ich bekam ein Einzelzimmer. Aber: ein Gemeinschaftsklo (für etwa 30 Leute auf einer Etage), Gemeinschaftsdusche (für etwa 30 Leute auf einer Etage), kein Frühstück (für alle). Das alles ist gar nicht so schlimm – schon eher Gewohnheit für Backpacker. Wenn da nicht die Hellhörigkeit gewesen wäre…

Jetzt endlich rein in den Text vom 11. September 2004 – noch eins vorab: Nach meinem ersten „vollen“ Tag in New York war ich noch nicht begeistert. Inzwische bin ich’s. Der Text:

Das Schlimmste war der Elfmeter. Bochum gegen Dortmund, Spielstand 1:1, 10.42 Uhr in New York. Im VfL-Trikot und mit VfL-Pudelmuetze auf dem Schaedel hocke ich in einem Internet-Cafe. Elfmeter. Peter Madsen. Und der VfL-Online-Ticker ruehrt sich nicht. Sekuendliches Aktualisieren. Maaaaaan, ich werd noch waaaaaaahnsinnig. Drei Minuten spaeter die Nachricht. Verschossen.

Ich hab’s gesagt! Ich hab’s GLEICH gesagt! Diese SCHEISS KLIMANLAGEN!!!! Eine ganze Armee davon bombardiert die ganze Schlafetage im „Whitehouse“ mit so kuehler Luft, dass ich mich manchmal in einem Metzgerei-Kuehlhaus waehne, und das ist so aetzend, dass ich mir einen richtig dicken Schnupfen eingefangen habe. SCHEISSE!!! Meine Nase ist so voller Schleim, dass es nicht einmal zum fiesen Hochziehen reicht.

Aber das ist noch nicht alles. Die Nacht war die Hoelle. Mehr als das. Eine Gefaengniszelle ist sogar Luxus gegen meine Kammer. Von Durchschlafen kann keine Rede sein. Mal 30 Minuten Tiefschlaf, dann muss jemand kacken (die Toilette steht fuenf Meter Luftlinie von meinem Bett entfernt). Tolle Geraeusche. Lecker. Ausserdem ist hier New York, da kommt bis 3, 4, 5 Uhr alle 20 Minuten einer ins Hostel zurueck – und das nicht eben leise. Dazu noch ein paar Schnarcher und ein Bett, das nur 1,80 Meter lang ist (und ich, das sei erwaehnt, bin 1,86 Meter gross)… Bitter, und noch fuenf volle Naechte stehen mir bevor.

Verschnupft, muede, veraergert (scheiss Hotelwahl; ich wusste zwar ungefaehr, was mich erwartet, aber so schlimm haette ich es mir nicht vorgestellt) und hungrig (Fruehstueck ist selbstredend auch nicht inbegriffen) gehe ich um 9.20 Uhr raus; siehe oben – mit Trikot und Pudelmuetze. Ich schleppe mich angstschwitzend im Internet-Cafe von Tor zu Tor, manchmal verzweifelt auf der Tastatur haemmernd, manchmal in die Muetze beissend. Das Ruhrstadion ist so weit weg wie nie zuvor. Ich waer so gern da. Als Gegenmedizin hilft nicht einmal der Discman, die „Repeat“-Taste und Groenemeyers Bochum.

New York wird’s richten?

Hmm… Mehr gibt es von heute eigentlich nicht zu berichten. Angesichts meines wieder umfangreichen Plans ist das sicherlich ueberraschend, aber bisher, also fuer heute, ist New York fuer mich eine grosse Show, eine Illusion, eine Luftblase.

Erklaerungen?

Die Staten Island Ferry schifft mich 30 Minuten nach dem gesicherten Punkt gegen die Borussen ueber die See, an der Freiheitsstatue (Statue of Liberty) vorbei. Sie bietet einen Blick auf die Skyline Lower Manhattans. Aber ehrlich: Schon das haette ich mir spektakulaerer, intensiver, bedrueckender, begeisternder vorgestellt.

*hatschi*
– tschuldigung –

Beim staendigen Blick in meine drei Reisefuehrer von New York wird mir bewusst, dass diese Stadt nicht zu strukturieren ist. Nicht wie Boston, oder all die anderen Staedte, in denen ich bisher war. Also stelle ich eine ganz private Prioritaetenliste zusammen, und arbeite die in Ruhe ab. Zuerst geht’s von der Staten Island Ferry in Richtung „Ground Zero“, dem Gelaende des ehemaligen World Trade Center. Ich hoffe auf eine richtig dramatische Gedenkfeier angesichts des heute dreijaehrigen Terrorjubilaeums. Doch? Irgendwie interessiert das nur Touristen, Journalisten und Millionen von Bullen. Ein paar Blumenstraeusschen liegen herum, viele US-Fahnen schmuecken die Umgebung. Schon auf der Staten Island Ferry oder sonst auf den Strassen hab ich die Betroffenheit nicht gespuert. Beeindruckend ist nur die Wand mit den Namen aller Opfer, die seit geraumer Zeit am Ground Zero steht und die Ueberschrift „We honor and remember the brave and the innocent lives lost at the World Trade Center on September 11/2001 forever in our heart“. Unterlegt ist das mit den beiden Woertern „Never forget“, in Stars-and-Stripes-Buchstaben (die duerfen natuerlich nicht fehlen). Mir wird just in diesem Moment bewusst, dass (*hatschi* – tschuldigung -) der Nordkapp-Urlaub (auf dem Weg dorthin „erlebte“ ich 9/11 in the middle of nowhere in Finnland) schon so lange zurueckliegt. Manchmal fuehle mich in dieser Stadt ohnehin wie im Trollfjord. Auch dort ging es links und rechts ueber 100 Meter in die Hoehe. Allerdings war mir die Natur in Norwegen doch deutlich lieber…

Schwamm drueber. Ich schleppe mich in die Subway, nachdem ich mir eine MetroCard besorgt habe, mit der ich sieben Tage lang so oft ich will U-Bahn fahren kann (nur 21 Dollar, kann ich jedem Touristen waermstens ans Herz legen, denn ohne U-Bahn hat keiner in New York eine Chance). Die Subway koennte mal modernisiert werden und ist tatsaechlich kaum durchschaubar. Die Stationen sind kaum zu erkennen, und nicht wie in Deutschland (mit einem „U“ oder „H“ oder in Boston mit einem „T“) gekennzeichnet. Aber das ist nicht so schlimm, weil sich alle drei/vier Strassen sowieso eine neue Haltestelle befindet. Schnell stelle ich fest, dass es auch kein Problem ist, jede Station zu benutzen. Irgendwie fahren alle Bahnen „uptown“ oder „downtown“ und grob faehrt jede in die gewuenschte Ecke der Stadt.

Mein Weg fuehrt zur sagenumwobenen Haltestelle „42nd street – Times Square“. Und dessen Leb- und Neonhaftigkeit haut mich ein wenig um. Aber ein wenig und nur kurz, so dass ich sofort wieder aufstehe, mich zu „Starbucks“ bewege, eine „tall hot chocolate“ (sprich: Taaaaall haaaaaaat tschaaaklittt) schluerfe und dem Treiben vergnuegt und interessiert zusehe. Ich bummle hier und da, an den ganzen bekannten Musicals vorbei („Phantom der Oper“, „Mamma Mia“, „Lion King“), bewundere die vielen Anzeigetafeln (keine zeigt die Bundesliga-Ergebnisse, komisch), gehe hier und da rein (zum Beispiel in den Virgin-Mega-Musicstore, hurraaaa!) und sehe eine potenzielle Traumfrau nach der naechsten. Macht Spass, aber noch eins steht auf meinem Tageskalender.

Die Subway transportiert mich an die Kante der Brooklyn Bridge. Den 1,5 Kilometer langen Weg darueber lege ich zu Fuss zurueck (*hatschi* – tschuldigung -), und auch der ringt mir ein anerkenndes Nicken ab. Der Nachteil ist wohl, dass ich das Beeindruckende dieser Sehenswuerdigkeiten schon lange vorher erwartet habe. Ueberraschen sie mich daher nicht? Nach dem heute absolvierten Standard-Basis-Touriprogramm finde ich New York gut, interessant, aber ausser der Groesse erschliesst sich mir das besonders Andere nicht. Nicht heute.

Heute Abend gehe ich nicht aus. Erstens verlangen meine Fuesse nach abermals acht Stunden Laufen nach einer Pause, zweitens waere mein Schnupfen draussen sicher nicht gut aufgehoben. Drittens faellt es mir sowieso heute schwer, mich einer der Mini-Cliquen des Hostels anzuschliessen, einfach nur des Anschliessens wegen. Denn keine macht den Eindruck, dass ich sie mit meiner Anwesenheit bereichern koennte und dass ich mich wohl fuehlen wuerde. Und ganz alleine losziehen? Also dafuer bin ich in Manhattan an meinem zweiten Abend ganz und gar ungeeignet.

Im Fernsehraum verfolge ich nun mit einem Dutzend anderen Reisenden das wirklich grossartige Eishockeyspiel zwischen Tschechien und Kanada. Danach kommt College-Football. Ich aber vermisse Fussball. Schon nach sechs Tagen. Wie gern wuerde ich jetzt live ein schoenes Fussballspiel sehen. Zum ersten Mal waehrend dieses Urlaubs bin ich ein wenig traurig. Weil ich meine aktuelle Liebe im allgemeinen (Fussball) und im besonderen (VfL) nicht bei mir habe, und weil ich das 2:2-Spektakel gegen Dortmund nicht im Stadion miterleben durfte. Ich bin ein wenig traurig, dazu noch krank, und das in New York. Hier wollte ich eigentlich die Party meines Lebens veranstalten. Aber ich denke positiv: Hier kann es nur noch aufwaerts gehen!!

Jetzt bewege ich meinen Schnupfen und den mueden Rest ins Gefaengnis. Wir haben 23.25 Uhr und Kanada hat gerade das Golden Goal erzielt. Wartet eine weitere schlaflose Nacht? Hoffentlich nicht. Morgen sind wieder acht Stunden Laufen angesagt. Mindestens.

*hatschi*
– tschuldigung –

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