Die Welt steht still

Am 22. März 2003 bloggte ich über vier frühlingsnovellenartige Tage in Rostock und das Bundesligaspiel zwischen dem VfL Wolfsburg und dem VfL Bochum. Die Wolfsburger siegten 2:0 – doch die Welt dachte viel mehr an den zweiten Golfkrieg, der zu dieser Zeit ausbrach. Neben meiner Lieblingsplatte zu dieser Zeit – „Black Market Music“ von Placebo – hörte ich auch „Die Welt steht still“ von Jan Delay in der Endlosschleife. Wie das Spiel in der hässlichen VW-Stadt lief, weiß ich nicht mehr. Und doch ist diese Tour in ihrer Gesamtheit eine der denkwürdigsten meiner VfL-„Karriere“.

Der Blog-Eintrag trägt die Überschrift „Die Welt steht still – Es ist Krieg und ich ärger‘ mich über zwei Monate Abstiegskampf“:

Es ist Krieg.

Es ist Krieg im Irak. Aus irgendwelchen Gründen schmeißen die USA Bomben auf den Irak, Menschen werden sinnlos sterben. NEIN! Hört auf damit!

Es ist Krieg, und den Beginn bekomme ich in Rostock mit, tief in der Nacht. Die paar Tage Erholung bei Kunststudentin Judith (die ich auch im Rahmen der Spiele in eben Rostock und auch Bremen schon zweimal besuchte) haben mir sehr gut getan; und ehrlich – auch wenn mir das keiner von Euch glauben wird – ich hatte nicht vor, zum Spiel Wolfsburg gegen VfL Bochum zu fahren. Entgegen meinen sonstigen Gepflogenheiten habe ich mir diesmal keine Eintrittskarte geholt, eigentlich wollte ich schon am Freitag, 21. März, gen Ruhrpott abdüsen.

Es ist Krieg und Jan Delay singt mein Mottolied für die mittleren-März-Frühlingsbeginns-Tage. „Die Welt steht still“ näselt er durch die Lautsprecher. Immer und immer wieder.

Und die Welt steht wirklich still an diesem Samstagmorgen. Es deutet sich ein wunderbarer Tag an. Keine Wolke ist am Himmel zu sehen, die Sonne strahlt in grellen Farben. Es wirkt, als hätte jemand eine Atombombe auf Deutschland geworfen und lediglich ein paar Schaffner, Lukas´se (Lokomotivführer) und ich hätten überlebt. Außer den Zuggeräuschen ist nichts zu vernehmen; kein Ton, keine Stimme. Auf den Straßen Mecklenburg-Vorpommerns fährt kein Auto, auf den Seen dreht keine Ente ihre Runde. Zum Glück muss ich in den vier Stunden Zugfahrt von Rostock bis Wolfsburg viermal umsteigen, ansonsten wäre idie Einschlafgefahr ziemlich groß!
Was erwartet mich? In Schwerin, Ludwigslust, Wittenberge und Stendal ist mein Aufenthalt nicht lang genug, um die Städte zu erkunden. Also Wolfsburg. Der BAEDEKER bietet mir nur wenige Stichpunkte auf einer Dreiviertelseite – und das bei einer Stadt mit 123.000 Einwohnern. Das alles zusammengemengt mit Vorurteilen (Erzählungen von meinem Bruder Thommy und weiteren Personen) ergibt ein ganz finsteres Bild. Wolfsburg gleich Leverkusen?

Also bin ich doch wieder beim Auswärtsspiel. Man scheiße ich wollte es doch nicht. Nächste Woche ist doch sowieso spielfrei, dann hätte ich den Mist sogar für insgesamt zweieinhalb volle Wochen vergessen. Doch jetzt erwischt mich der Abstiegskampf mit voller Breitseite; direkt am Bahnhof, als mir die „Hurra hurra die Bochumer sind da“-Rufe entgegen schallen. Wolfsburg hat insgesamt nur zehn (!) Schließfächer am Bahnhof, mist, muss ich meinen ganzen Krempel zum Stadion mitschleppen. Im Bahnhofskiosk liegt eine BILD von Freitag. „Tötet Saddam!“ steht in roten Lettern darauf, Schriftgröße 90 oder so. Ach ja, es ist Krieg.

Ich war schonmal hier in Wolfsburg beim Fußball. Noch im alten Stadion am „Elsterweg“. Da waren wir im Februar 2001 Tabellenletzter und Rolf Schafstall bestritt sein erstes Spiel als VfL-Trainer. Acht Verteidiger standen in unserem Kader und alle acht haben gespielt. Der „gute alte Schafstall-Beton“ unkten wir damals auf der Stehtribüne und hofften auf ein 0:0. Was wurde es? Ein 0:0! Das witzigste 0:0 meiner bisherigen Fußball-Karriere, zweifelsohne.

Oh ja, das sind Erinnerungen, aber die haben unweigerlich mit Abstiegskampf zu tun. Das neue Stadion, die „VW-Arena“, taucht inmitten von ehrfürchtigen Gedanken an alte Zweitliga-Ängste am Horizont auf. Es liegt nur wenige Wosz-Pässe vom alten entfernt. Prima, die haben eine Gepäckaufbewahrung, wenigstens das, und Tausende von F-Jugendlichen begegnen mir auf dem Weg. Eine Aktion anscheinend, um das Stadion wenigstens mit 20.000 Zuschauern zu füllen. Das bringt den Wolfsburgern den Sprechchor „Eure Fans sind alle unter zwölf“ einbringt. So falsch ist´s nicht. Vielleicht knacken die auf diesem Weg im Jahr 2030 die 5000-Dauerkarten-Marke.

Überhaupt VfL Wolfsburg. Ich ignoriere diesen Klub so sehr, dass ich überhaupt keine Lust habe, meine Abneigung hier noch groß zu begründen. Wenige Stichpunkte reichen aus: reiner Firmenklub, lebt nur durch Finanzspritzen des großen Stadtsponsors (VW), wenig Fans (weil keine Tradition), eine Millionentruppe (freiwillig geht keiner nach Wolfsburg) und dazu ist Wolfsburg ne Scheiß-Stadt. Zurück in die zweite Liga – bitte schön! Für über 50 Millionen Euro hat VW dem VfL wenigstens ein ganz nettes Stadion auf ein Brachgelände gebaut, allerdings ist es so verdammt schuppig in dem Gebäude, dass alle fünf Minuten irgendjemand „Mach doch mal das Fenster zu“ brüllt und ich froh bin, einen Tag nach Frühlingsbeginn meine Winterpudelmütze in der Jacke verstaut zu haben (purer Zufall!).

Darf ich wieder einen Blick auf meine Serien werfen?

Halt, Telefon läutet. Mama ist dran, oh verdammt, hatte vergessen allen Mülheimern mitzuteilen, dass ich erst Samstagabend und nicht schon Freitag (wie ursprünglich gedacht) heimkehre, da wird mein Anrufbeantworter überquillen; aber jaja, ich lebe noch.

Also Bratwurst rein ins Maul, Serien ins Hirn!

Sieben Auswärtsspiele ohne Sieg, drei Niederlagen in Folge, sechs Spiele insgesamt ohne Sieg, von den letzten 13 Spielen nur zwei gewonnen. Alles finster, vor allem, als die Spieler gegen 15 Uhr zum Aufwärmen den Platz betreten. Da ich in Rostock war, bin ich über Aufstellung und Personalsorgen völlig uninformiert, aber so krass war´s lang nicht mehr. Gerade einmal zwei Profis sitzen auf der Auswechselbank (Hashemian, Fiel), ansonsten: alles verletzt. Zu meinem Entsetzen läuft sich Sergej-Kampfsau-Mandreko ebenso warm wie mein persönlicher Freund Michael Bemben. Das Spiel ist für mich schon verloren, bevor es angefangen hat. Egal wie es ausgeht, ich weiß jetzt schon, dass unser Trainer vor dem nächsten Spiel gegen Kaiserslautern sieben Änderungen vornehmen wird: Kalla, Fahrenhorst, Reis, Oliseh, Schindzielorz, Wosz und Hashemian rein.

Das kann wieder mal heiter werden; und wird es auch. Wieder versucht es unser Trainer mit Manndeckung (Tapalovic gegen Maric, Meichelbeck gegen Präger, Colding gegen Petrov), daher dirigiert (!) Anton Vriesde (!!) als Libero (!!!!) unsere Abwehr. Das hab ich in der F-Jugend aber mindestens genauso gut gekonnt, denn etwas anderes als die Kugel zweimal hochzuhalten, um sie dann mit 150 km/h auf die Tribüne zu pfeffern, fällt dem guten Anton, der wohl doch in der Regionalliga besser aufgehoben war, nicht ein. Wenigstens gewinnt er ab und an nen Zweikampf (um ihn nicht völlig durch den Kakao zu ziehen). Meine speziellen Freunde Bemben und Mandreko, die im defensiven Mittelfeld wirbeln (wo sonst Schindzielorz und Oliseh werkeln – uaaaahhh, welch Vergleich), beweisen einmal mehr, dass sie in der Bundesliga nichts zu suchen haben. Kein Wunder, dass unsere offensiven (Gudjonsson, Buckley, Christiansen, Freier) keine Pässe bekommen und auch nicht die geringste Lust auf Fußball verspüren.
Daher grenzt die erste Halbzeit verdächtig nah an Arbeitsverweigerung. Wir Fans müssen uns mit witzigen Sprüchen warm halten. Zuerst trifft es einen Schlagersänger, der „Olé Ola“ zum Besten gibt (Schlagersänger – ist das jetzt Mode in Stadien? Bitte nicht!) und der „Du machst Dich lächerlich“ abbekommt. Dann trifft es sehr zu meiner Freude die Stadt Wolfsburg und den dortigen VfL („Wolfsburg ist ne tote Stadt – heyheyhey“, „Neues Stadion – keine Stimmung – SCHEISS VW!“, „Ihr seid nur ein Alibi-Verein“ – ich kann nur nochmal auf meine Wolfsburg-Gehässigkeiten hinweisen) und weiterhin den Fanclub „Die Treuen“, die sich im Gegensatz zu uns auf dem Oberrang sitzend aufhalten und ihren Club-Geburtstag feiern.

Das gibt von uns „unten“ ein „Happy Birthday“-Ständchen. Inmitten des dicksten Gesangs fällt dann das 0:1. Schon in den ersten 20 Minuten hatte Wolfsburg drei Hundertprozenter, und seit der zweiten davon schaut sowieso kaum noch ein Blau-Weißer auf den Rasen. Das 0:1 ist ein Tor, das nur wir kassieren können. Karhan schießt, Maric fälscht ganz blöd ab, drin. Das bringt unsere (wie in Bremen) so durcheinander, dass direkt das nächste Scheiß-Tor hintendran fällt. Diesmal schläft unsere komplette Abwehr, so dass selbst ROY PRÄGER (der sonst NIE trifft) einmal jubeln darf. Das Ganze zum 2:0 in der 31. Minute. Biliskov erhöht gar auf 3:0 (34.), doch der Schiedsrichter erkennt das Tor nach langer Überlegungsphase nicht an (die „Tor“-Musik lief schon im Hintergrund). Nach dieser Szene wird’s selbst uns Sängern zu viel, und wir halten den Mund.

Das geht auch in Halbzeit zwei so weiter, als alles entschieden ist und sich die Wolfsburger nur noch den Ball zuspielen und uns auch ein paar Spielanteile gönnen. „Wir sitzen tief in der Scheiße, heyheyhey“ – dieser Song findet Anklang bei so manchem, genauso wie „Reißt Euch den Arsch auf!“ Dass die „Ultras“ die altbekannten Sprüche „Wir sind Bochumer und ihr nicht“ und „Wir haben die Schnauze voll“ auspacken, ist für mich unverständlich. Immerhin haben wir SIEBEN Verletzte, und bemüht haben die Jungs sich zumindest in der zweiten Halbzeit. Peinlich wird’s nur, als uns selbst in den letzten acht Minuten kein Tor gelingt, als Wolfsburgs Stürmer Klimowicz im Tor steht. Der etatmäßige Schnapper Reitmeier (der 39 wurde, auch gegen diesen Rentner gelang uns kein Tor) hatte sich verletzt. Tja, 0:2, dabei bleibt’s, die Spieler wollen uns zuwinken, werden aber gnadenlos niedergepfiffen. Ich warte darauf, dass die „Ultras“ bald streiken. Wär mal ne Idee.

Bleibt die Rückfahrt. Ich könnte so viele Fotos von Wolfsburg schießen, um zu beweisen, warum ich diese Stadt nicht mag (ihr wisst schon, kleine Gehässigkeiten). Wenigstens die Pizza schmeckt. Im Radio läuft „Only Time“ von Enya, der 11.September-Song, der den Krieg wieder ein wenig näher in meine Realität rückt. Im ICE gen Heimat sitzen die paar Jungs, die mit preiswerten Bahntickets – dem sogenannten BOZ-Fanexpress – unterwegs sind. Alles dieselben Leute wie immer, und stets ist es ein Highlight, die Gutverdienenden im ICE mit den besoffenen Fußballfans in Konfrontation zu sehen. „Ekelhafte Proleten“ stottert eine 65-Jährige vor sich hin, bis sie sich in ihr Pelzmäntelchen schmiegt und in die erste Klasse abwandert. Ein weiterer erzählt jedem ICE-Gast, dass Sunday Oliseh ihm die Hand geschüttelt hat („Die Niederlage is mir soooo egal. Der hat gesagt: Et wird allet wieder juuut. Abba auf nigerianisch!“). Ich grinse in mich hinein.

Dann steht die Welt ganz still.

Trost hab ich heute nicht nötig. Denn ursprünglich wollte ich eigentlich gar nicht nach Wolfsburg.

Dann tut´s auch nicht so weh.

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