7. September 2004. 2. Urlaubstag. Boston.

Meinen Sommerurlaub 2004 verbrachte ich mit dem Rucksack auf dem Rücken an der US-Ostküste– in Boston, New York, Philadelphia, Washington. Nicht mein erster Rucksack-Urlaub, aber der erste ganz allein. Während dieser dreiwöchigen Reise führte ich zum ersten Mal ein Online-Tagebuch, das ich von meinem Bruder direkt auf meiner Homepage veröffentlichen ließ. Einige dieser Einträge habe ich “digitally remastered” und veröffentliche sie nun neu.

 

Dieser hier trug auf meiner “ersten” Homepage die Überschrift “Der Bergsteiger” und stammt von meinem zweiten Urlaubstag. Ich übernachtete in einem Mittelklasse-Hotel am Boston Common.

 

Jetzt endlich rein in den Text vom 7. September 2004:

Heute waren die ersten versprochenen Postkarten faellig. „So richtig angekommen“, notierte ich um 16.15 Uhr, „bin ich noch nicht.“ Sieben Stunden spaeter bemerke ich nun, welch Irrtum das war.

Als sich mein rechtes Auge zum ersten Mal von allein, aber mit allergroesster Muehe oeffnet, blinkt der hoteleigene Radiowecker und zeigt in roten Zahlen 7 12. Minus sechs Minuten (soviel Vorsprung hat die Uhr), macht 7 06. Jet-lag-Folgen? Traeume Andi traeume. Schlaf weiter. Klappt nicht. Aufstehen um 8 Uhr. Man, das hatte ich lange nicht mehr.

Ein Staedte-Tourist hat etwas von einem Bergsteiger, finde ich. Genauso wie der Bergsteiger topfit und konzentriert sein muss, um sein hohes Ziel zu erklimmen, muss einer wie ich in diesem Urlaub seine ganze Kraft aufbringen, um die einzelnen Gipfel jeweils von neuem zu erobern. Um im Bild zu bleiben: New York ist der hoechste Touriberg der Welt, ein 9000er quasi. Und Boston dagegen „nur“ ein 5000er. Und gestern waren mir selbst die ersten 50 Meter zu steil.

Also back to the roots; zurueck zum alten Nordkapp-Urlaub-System von 2001. Das beinhaltet erst aufstehen, dann duschen, dann Reisefuehrer waelzen (zum 1000. Mal), und das Ziel strukturieren, aufteilen. Dann noch aufs Wetter achten (Na bitte! Das Regengebiet kommt doch erst morgen, sagt der Wetterkanal) – und gemaess Plan losmarschieren. Doch erstmal das Fruehstueck. Im Hotel. Oh manoman, daran werde ich mich nie gewoehnen. Nur so suesses Labberzeug. Ein Waffeleisen steht auf dem Mini-Bueffet – und der Teig daneben. Zwei Saefte, Kaffee, drei Teesorten, daneben Gebaeck zuckerhaltigster Art, zwei Paletten Toast, verschiedene Marmeladen sowie Milch und Cornflakes. Der Fernseher fehlt nicht – CNN laeuft. Immerhin gibt’s ueberhaupt Fruehstueck. Das ist in US-Hotels wohl eher untypisch.

Was sagt mein „Darauf-musst-du-achten“-Kalender? Erst mal das Bahnticket fuer die Freitagtour nach New York besorgen. Ich wandere zum ortsansaessigen Hauptbahnhof, der „South Station“. Das dauert zu Fuss 20 Minuten. Danach habe ich mir – nach 2001er-Manier eine Aussichtsplattform ausgesucht, um einen Ueberblick ueber Boston zu bekommen. Und U-Bahn fahren ist Pflicht. Ob ich in dieser Reihenfolge mehr von der Stadt mitkriege?
Die Sonne muss kaempfen. Mal knallt sie, mal pfeift der Wind und Wolken schieben sich davor. Das ist um 10, 13, 17 und 20 Uhr so. Und auch, als ich ohne jedes Problem die Tickets fuer Freitag und die U-Bahn besorge. Aber noch immer faellt mir das amerikanische Leben schwer. Fahrenheit statt Celsius, Eastern Time statt MESZ, Dollar statt Euro. In der South Station drueckt mir jemand einen Zettel in die Hand. Boston/New York fuer 15 Dollar mit dem Bus. Ich bezahle mehr. Nun denn. Dann merk ich mir mal die Alternative. Fuer das naechste Mal?

Ich schreite die Treppen zur U-Bahn- (der Subway-Station) hinunter und erschrecke: Kabel haengen von der voellig zerkratzten und zerfurchten Decke, ueberall wird gebaut, die Bahnwaggons sind aus den 70ern. In Muelheim waeren die laengst aussortiert worden. Und U-Bahnlinien gibt es nur fuenf, huebsch nach Farben geordnet. Das alles macht die Stadt… irgendwie … menschlicher. Boston hatte die erste U-Bahn Amerikas. Viel dran gemacht wurde nicht in den 300 Jahren seitdem. Mein Weg fuehrt zum Hancock-Tower, 241 Meter hoch. Dort ist die Aussichtsplattform geschlossen. Na gut, aber da ich im Hightower-Viertel bin, gibts noch Alternativen. Ich besteige das „Prudential Center“, das Boston am meisten verunstaltet. Ein Aufzug katapultiert mich in Etage 52 – und so gross ist die Stadt doch nicht. Eben doch „nur“ 575.000 Einwohner. Eben doch nur so gross wie Essen. Sie verliert in meinem Gehirn langsam die Groesse, aber weissgott nicht ihren Glanz. Ich beginne sie zu packen. Aber ich hab sie noch nicht.

Es geht zurueck zur U-Bahn. Als naechstes habe ich mir den „Freedom Trail“ notiert. Ihr muesst Euch Boston so vorstellen: Mitten in der Stadt, ganz zentral, liegt die schon erwaehnte Parkanlage „Boston Common“. Die war schon da, als fast noch kein Haus stand, also im 17. Jahrhundert. Drumherum entstand – so sagen es die Reisefuehrer – der Wille zur Unabhaengigkeit von England. Die wichtigsten Gebauede dieser Zeit sind mit dem 4,8 Kilometer langen „Freedom Trail“ verbunden. Der ist mit einer huebschen roten Linie auf dem Buergersteig gekennzeichnet, damit sich auch ja keiner verlaeuft. Also wandere ich vom Massachusetts State House zum Old State House und zur Fanuil Hall (die Bedeutung der Haeuser erspare ich Euch). Zwischendurch halte ich an, fotografiere, lese im Baedeker nach. Es ist das Touri-Standard-Sightseeing-Programm. Entlang des Trails haben sich zahlreiche Restaurants und Souvenirshops angesiedelt, ist ja Amerika hier. Verfaelscht das nicht das Bild von Boston? Ich grueble und laufe. Durch den Wind.

In dieser Stimmung verfasse ich vor der Fanuil Hall die Postkarten. Ich winke der Stadt zu und bruelle: HIIIIIIERRR BIN ICH!!! HOL MICH AAAAB!!! Aber die Stadt versteht mich nicht. Ich werfe die Karten an der naechsten Trail-Station, dem Quincy Market, ein. Das ist ein Platz mit irre vielen Kneipen, Bars, Pubs, Restaurants, Cafes und Geschaeften. Es geht so sympathisch kreuz und quer, dass ich Querkopf nicht auffalle.

Es ist, als naehme ich 500 Meter auf einmal.

Es gibt ein zweites „Cheers“ hier. „Where everybody knows your name“, lautet die Titelmelodie. Hier kennt zwar keiner meinen Namen, aber vom einen auf den anderen Moment fuehle ich mich angenommen, akzeptiert. Unerklaerlich. War’s das Cheers? Der auf Postkarten abgeladene Frust? In schoenster Sonne traegt mich die Subway zurueck zum in helles Licht getauchten Boston Common. Am Frog Pond (einem Froschteich ohne Froesche in diesem Park) und auf den Wiesen sitze ich mit Sonnenbrille, hoere „The passenger“, „Ueber den Wolken“ und „99 Luftballons“, lache darueber, dass ich im Cheers-Praesentshop eine Hotel-Mitbewohnerin (vom Fruehstueck erkannt) wiedergetroffen habe. Und denke darueber nach, wie es wohl waere, wenn meine Familie, meine Freunde und ich hier wohnen wuerden. Grosser Treffpunkt zum Joggen waere bestimmt der Boston Common. Moeglichkeiten zum Weggehen gibt’s genug, zum Beispiel die Pubs am Quincy Marken und endlose Underground-Kneipen und Diskos rund um die Unis – zum Beispiel in Cambridge, wohin ich noch fahren werde. Da waeren auch noch Karaokebars, die ich im „North End“ des Freedom Trails, also auch der Innenstadt, entdeckt habe.

Sportveranstaltungen – leider keine in diesen vier Tagen – und das Theaterdistrikt sind auch noch da. Ich wuerde meinetwegen beim „Boston Globe“ arbeiten. Sport gibt’s hier genug, ob Basketball (Celtics), Baseball (Redsox), Eishockey (Bruins) oder Football (Patriots). Ich glaube, in den USA ist der Lokalpatriotismus deutlich ausgepraegter selbst als im Ruhrpott. Na klar, fast jede Grossstadt hat eine eigene Zeitzone, eine eigene Geschichte, eine eigene Bedeutung. Jeder Einwohner zittert mit allen lokalen Sportteams – ein „Fan-tum“ wie in Deutschland ist nicht vorhanden. Beruehmstester Bostoner war John F. Kennedy. Beruehmte Musiker sind Tracy Chapman und Aerosmith – und dann sind da noch die Mighty Mighty Bosstones und die Dropkick Murphys. Klingt doch gut.

Meine Gedanken sind es, die mir zeigen, dass ich Zugang zum Berg „Boston“ gefunden habe. Wenn ich versuche, mich in die Gedanken der Einheimischen zu versetzen, ist das ein verdammt gutes Zeichen. Im Boston Common wird der Blick auf die Skyline immer schnuckeliger. Ehrlich. Auf der Wiese gegenueber hat das Fussballtraining begonnen. Ich sehe interessiert den Kindern zu, wie sie die einfachsten Uebungen machen. Es ist die besondere Note des Tages. Der hat eine ueberraschende Wendung bekommen.

Gegen 16.20 Uhr.

Voellig erledigt erreiche ich um 20 Uhr die Bar „Bennigan“ direkt neben dem Hotel. Der „American Burger“ begeistert mich (nix hier mit dem billigen Burger bei uns im „American Way“ in Muelheim), die Cola dazu ist umsonst. Sogar der zweite halbe Liter auch. Meine Fuesse qualmen. Eins ist klar: Erholung ist das nicht. Nee, zwei ist klar: Bei aller anfaenglichen Abwehrreaktion habe ich Boston nun lieb gewonnen, mit den kleinen Haeuschen, den roten Backsteinstrassen, und der fuer New-England-Staedte doch vorhandenen Ueberschaubarkeit. Organisation ist halt alles, auch oder gerade beim Staedtereisenden. Ich haette Reisebuero-Inhaber werden sollen.

„Walking on sunshine“ laeuft im „Bennigan“ gegen 22 Uhr. Ich schlurfe danach die paar Meter bis zum roten Hotelteppich und nehme mir vor, in diesem Tagebuch die (WIRKLICH) auffaellig vielen Klimaanlagen zu kritisieren. Im Fernsehen laufen parallel Baseball, Tennis und „Sex and the city“. Im North End koennte ich jetzt Karaoke singen. Mit einer grossen Gruppe waere das ein grosser Spass. Gibt es diese Art der gemuetlichen Kneipenkultur auch in New York? Es heisst NEIN.

Das Alleinreisen ist immer noch schwer. „Hier wuerdest du gern mit deinen Freunden hin“, denke ich ganz ganz oft. Bislang hats nur zum Smalltalk vorm „Cheers“ gereicht, damit mich ein Paerchen fotografiert. Vorsichtig bin ich noch immer, und meine Kontaktfreudigkeitsstufe ist aufgrund dieser Vorsicht gaaaanz unten.

Voellig satt – gespart und gefastet wird ab morgen, vielleicht – drehe ich mich gleich um und penne. Vom politischen Amerika traueme ich nicht. Waffennarren, der Wahlkampf, Verbrechen oder Krieg sind mir heute nicht begegnet. Halt, ein Opa hatte ein „Vote Bush“-Schild dabei. Nur einer.

Heute, das war mein „Relax-Day“. Mein „Jet-lag-Day“. Der wohl letzte Sonnentag. Der Cheers-Tag, der strukturierte Tag. Ein erlebnisreicher Tag. Mit der Erkenntnis eines Irrtums.

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