1. August 2005. 14. Tag. Vietnam. Hoi An.

Meinen Sommerurlaub 2005 verbrachte ich mit dem Rucksack auf dem Rücken in Südostasien – in Bangkok und Vietnam, allein. Während dieser vierwöchigen Reise führte ich ein Tagebuch und veröffentlichte es direkt auf meiner Homepage. Einige dieser Einträge habe ich „digitally remastered“ und veröffentliche sie nun neu.

Dieser hier trug auf meiner „ersten“ Homepage die Überschrift „Somewhere over the rainbow“ und stammt von meinem 14. Urlaubstag, den ich in Hoi An, einer kleinen Stadt im zentralen Vietnam, bei Traumwetter verbrachte. Allerdings kam ich nach einer sehr anstrengenden Nachtbusfahrt erst um 7 Uhr an…

Jetzt endlich rein in den Text vom 1. August 2005:

„Nanu, was ist das denn? Wenn ich richtig hinsehe, ganz genau, brauche fast schon eine Lupe dafuer, dann hat Thommy auch ueber den Baedeker-Stadtplan von Hoi An etwas gekritzelt. Nein, nicht wieder Mallorca. Oder etwa Teneriffa oder ein sonstiger Insel-am-Meer-und-Sonne-Kram. Nein. Bernkastel-Kues steht da.

Und? Stehen sie schon da? Stehen sie? Und wo sind wir ueberhaupt? Und wann? Ich reisse meine Augen auf, hell ist’s schon, und mich rum viele Leute. Ach so, immer noch im Bus, stimmt, ist ja Nachtfahrt. Mein linker und mein rechter Daumen sind noch am richtigen Platz. Und jetzt weiss ich’s. Ob nachts um halb eins oder morgens um sechs, wenn jeder normale Mensch entweder noch schlaeft, gerade wach wird oder zumindest sich noch muede die Augen reibt. Diese verdammten Mofataxifahrer und Komm-in-mein-Hotel-Reinholer passen aber auch jeden Touribus ab. Wir muessen also am Sinhcafe-Buero in Hoi An angekommen sein, endlich. Denn schon zweimal wurden meine Bus-Mitfahrer und ich aeusserst unsanft aus dem Schlaf gerissen, um halb sechs und eine Viertelstunde spaeter. Allerdings betraten nur die Vertreter von zwei Sinhcafe-Partnerhotels unser fahrendes Schlafzimmer, um Werbeflyer zu verteilen! Muffelmuffelmuffel…

Die letzten sechs Stunden im fahrenden Kaefig habe ich mehr oder weniger mit geschlossenen Augen verbracht. Ja, ein paar Minuten war ich wohl sogar im Tiefschlaf, glaube ich, nein, weiss ich sogar. Denn meine eigens fuer die Nachtfahrt erworbene 1,5-Liter-Wasserflasche klemmte nicht mehr zwischen meinen Beinen, sondern lag drei Meter weiter vorn im Mittelgang. Und wie sie dahin kam, weiss ich nicht mehr. Und die Kopfhoerer von meinem Discman sind auch hinueber. Ich hab sie plattgesessen, keine Ahnung, wie sie unter meinen Arsch gekommen sind. Zum Glueck habe ich Ersatz-Kopfhoerer mit. Man kann ja nie wissen…

Es ist hell, nach 530 Kilometern sind wir mitten in Hoi An, ich verlasse den Bus mit schwarzen Augenringen – ich seh’s nicht im Spiegel, aber ich weiss es. Mit meinen drei Taschen stehe ich etwas verloren auf dem fast (aber nur fast) verlassenen Buergersteig vor dem Sinhcafe-Buero und bin fast sogar zu geschafft, um den zahlreichen Anfragern einen grimmigen und muffeligen Blick zu entgegen. Ich glaube, dass Alleinreisende fuer jede Art des Verkaufes hier in Vietnam Freiwild sind. Um mich macht keiner einen Bogen. Sehe ich so hilfsbeduerftig aus??

Mit letzter Kraft schlappe ich mich zu meinem vorher im “Reise Know-How” angekreuzten Wunschhotel und hoffe, dass ich auch morgens um kurz vor sieben schon einchecken darf. Und tatsaechlich: Es gibt ein 15-Dollar-Doppelzimmer fuer mich allein. Der Komfort dieser Low-Budget-Hotels haut mich jedes Mal wieder um; wieder Air-Condition und Sat-TV. Dafuer geht mein Blick durchs zwar vorhandene Fenster auf eine rote Ziegelstein-Wand. Das ist der bisherige Nachteil der Billigzimmer: Nicht ein einziges Mal hatte ich irgendeine Art von Aussicht. Aber wenn’s nur das ist… In voller Montur, mit Jeans, Shirt und allem, falle ich aufs Bett. Als ich aufwache, ist es 11 Uhr.

Hoi An, lese ich nach der erfrischenden kalten Dusche, ist gar nicht wirklich in der Mitte Vietnams, wie ich Euch hier eigentlich erzaehlen wollte. “790 Kilometer suedlich von Hanoi” steht im Baedeker. Nicht mehr “noerdlich von Saigon”, wie noch bei Nha Trang. Ich komme meinem Ziel naeher und naeher. Es ist seltsam. Ich blaettere und blaettere und frage mich, was an Hoi An so besonders ist. Warum wirklich alle Open-Tours-Anbieter hier halten, in deinem 60.000-Einwohner-Staedtchen, das zum letzten Mal im 19. Jahrhundert irgendeine Bedeutung hatte!? Der “Know-How” widmet gerade einmal fuenfeinhalb Seiten den Sehenswuerdigkeiten der Stadt, dafuer aber zwoelf dem Stadtplan, Fotos, Hotels, Anschriften und der Umgebung. Im Baedeker ist es aehnlich. Direkt nebenan liegt Da Nang, eigentlich die viel interessantere Stadt. Die viertgroesste Vietnams immerhin, mit 650.000 Einwohnern, Drehscheibe der Industrie zwischen Hanoi und Saigon, wichtiger Hafen, dritter internationaler Flughafen-Standort. Eine Boom-Stadt mit interessanter und vermarktbarer Kriegsgeschichte, denn in Hoi An liegt die China Beach, an der die Amis landeten. Da Nang: Jedes amerikanische Schulkind kennt diesen Ort. Doch Da Nang ist fuer die Open-Tours-Anbieter nur ein Ausflugsziel von Hoi An aus. Ich putze mir die Zaehne, vergesse die Buerste fast beim Lesen.

Nachdem ich an der Hotel-Rezeption von “Vinh Hung 3” den Schluessel fuer Zimmer 027 gelassen habe, stuerze ich mich – naja, nicht mit Vollgas, sondern eher im Tempo eines konditionsschwachen Mittelstuermers – ins Leben. Und stelle zur besten Zeit, am Montagmittag um 12 Uhr, fest: Hoi An ist genauso verschlafen wie ich! Vielleicht meinte Thommy das mit Bernkastel-Kues: Ruhig. Verschlafen.Schon nach wenigen Minuten erreiche ich das Zentrum, in der Hand stets einen der Reisefuehrer, immer lesend und dabei blinzelnd, denn die Sonne scheint wirklich knallermaessig heute. Keine Wolke am Himmel. Und ich habe das Eincremen vergessen, nach den Bewoelkungsflops der letzten Tage. Mist. Auf meiner Linken sammeln sich Geschaefte. Gut, eigentlich fuer jeden Ort der Welt nicht ungewoehnlich. Aber die Haeufung (heisst das nicht Monostruktur oder so aehnlich?) macht Hoi An besonders. Es sind ausschliesslich Schneidereien in der Verlaengerung der Hotelmeile. Eine reiht sich neben die andere. Bestimmt 500 Meter lang. Ueberall Kleider, Hosen, Anzuege. Ueberall die Angebot, sich etwas auf den Leib schneidern zu lassen. Die Hotel-und-Klamotten-Strasse stoesst auf die “Tran Phu”, die auf einem Kilometer fast alle fuenfeinhalb Know-How-Seiten verbindet. Ich beginne mit meinem Spaziergang an der Japanischen Bruecke, die von 1593 bis 1595 als Verbindung zwischen dem japanischen und chinesischen Viertel errichtet wurde. Denn ja, in der Vergangenheit hatte Hoi An wohl mal etwas seemetropolenartiges. Aber das liegt weit, weit, weit zurueck. Ich schlurfe ueber die Tran Phu und merke so allmaehlich, was in den Travellern, Urlaubern, Reisenden aus aller Welt im letzten Jahrzehnt das Hoi-An-Gefuehl und damit einen Touristenboom ausloeste. Es ist so still hier. Ungewoehnlich still fuer eine vietnamesische Kleinstadt. Autos sind hier im Zentrum verboten, durch die Gaesschen wuerden sie auch gar nicht passen. Und nur die mutigsten Mofafahrer trauen sich hinein. Es ist moeglich in komplette Gelassenheit zu schlendern. Hier, auf der Tran Phu, dessen alte Gebaeude der Stadt einen Eintrag auf der “UNESCO-Weltkulturerbe”-Liste brachten. Es sind “alte Haeuser”, doch diese zwei Worte sind unzureichend und fast sogar eine Beleidigung. Genau hier rasten damals, daaaaaamals, chinesische, portugiesische, ach Seefahrer aller Nationen durch die Gassen, stuermten oder besuchten zum Beispiel das alte, und dementsprechend kunstvolle Quang-Thang-Haus, das Phung-Hung-Haus, die Kapelle der Tran-Familie, weitere Versammlungshallen, die sich an der Tran Phu mit Cafes und Shops abwechseln. Abgeschlossen wird das Ganze mit einem vietnamtypischen Dorfmarkt. Alte Frauen, alte Maenner, junge Frauen, junge Maenner feilschen mit Hoi-Annern, mit Touristen um bunteste Fruechte, Gemuese, Stoffe, Postkarten. Treiben lassen. Durchdraengeln.

Der Markt hoert auf an der Uferpromenade, die einen Blick und einen Spaziergang am Thu Bon Fluss ermoeglicht und parallel zur Tran Phu verlaeuft, verbunden eben durch die ganz, ganz engen Gaesschen.

Hier kann ich das sein, was ich in diesem Urlaub schon lange sein wollte: Ein Kaffeehaus-Literat. Ich tummle von Cafe zu Cafe, lasse kaum eines aus, trinke die grosse Auswahl an Fruchtshakes einmal rauf und runter, setze meine Sonnenbrille bei traumhaftem Wetter auf die Nase und beobachte, wie sich Touristen auf dem Fluss im Ruderboot umherfahren lassen. Wie es die Einkaufenden auf den Markt zieht. Wie sich sich mit Tueten in der Hand vom Draengeln erholen, entweder in den Cafes oder auf Baenken direkt am Flussufer. Es ist herrlich und Nha Trang fast vergessen. Vergessen im sommerlichen Glanz Hoi Ans.

Diese Stadt ist das beste Beispiel fuer Vietnams Strukturwandel, notiere ich irgendwann – ach die Uhrzeit habe ich heute voellig vergessen, die spielt aber auch nicht immer eine Rolle – in meinem Notizblock, ganz literaten- und journalistenlike. Vor zehn Jahren vergammelte die unbedeutende, kaputte und dreckige Stadt vor sich hin, dann kam Traveller – und jetzt werden die Einheimischen in neu entstehende Wohnblocks in neuen Vororten abgeschoben, um Platz fuer Hotels, Cafes, Geschaefte zu machen. Dass vor lauter Modernisierung der traditionelle Teil Hoi Ans auf der Strecke bleibt, ist natuerlich eine Gefahr. Sollte die Stadtspitze auf die Idee kommen, die Tran Phu und die Uferpromenade in eine rotgepflasterte Fussgaengerzone zu verwandeln, waere Hoi An wohl nicht mehr von einer Stadt an der Nord- oder Ostseekueste zu unterscheiden.

Wie Nha Trang hat Hoi An nicht wirklich etwas besonders sehenswertes anzubieten, ein besonderes Top-Highlight. Aber es biedert nicht an. Es ist liebenswert. Es macht Freude. Es macht mir Freude. Die Ruhe macht mir Freude. Diese Notiz entsteht im naechsten Cafe, natuerlich, diesmal bei einem Mango-Shake. Vorher war’s Banane. Kokosnuss. Papaya. Ananas. Irgendwas.

Ein halber Tag steht mir fuer Hoi An zur Verfuegung. Auch in der Dammerung sitze ich immer noch in Cafes und schaue begeistert den Spaziergaengern zu. Ja, immer noch. Und das koennte ich noch stundenlang so weitermachen. Fuer Hoi An selbst reicht ein halber Tag voellig aus. Wie die ganzen alten Haeuser auch noch von innen sehen moechte und dazu noch massgeschneidert neu einkleiden lassen will, der sollte auch problemlos einen ganzen Tag hier rumkriegen koennen. Aber auch die Umgebung macht Hoi An interessant. Kaum eine Stadt eignet sich besser fuer Ausfluege mit Motor- oder Fahrraedern, die hier ueberall zur Miete angeboten werden. Der Strand von Hoi An ist vier Kilometer entfernt, die gar nicht einmal uninteressante Tempelstadt My Son dreissig Kilometer. Und der Weg dorthin sei allein schon sehenswert genug, urteilen die Reisefuehrer. Und Marrit und Thommy uebrigens auch. Manche sagen: Wer Hoi An nicht gesehen hat, hat Vietnam nicht gesehen. Ist das typisch vietnamesisches Kleinstadtleben heute und ein bisschen auch damals? Ich weiss es nicht. Wahrscheinlich ist’s schon jetzt ein wenig zu kuenstlich. Das ganze Beiprogramm liesse sich sicherlich auch vom dreissig Kilometer entfernten Da Nang abspulen. Aber was ist an einem Urlaubsabend attraktiver? Eine Uebernachtung im grossen Frankfurt oder im beschaulich-ruhigen Bernkastel-Kues?!? Ich wuerde Bernkastel vorziehen.

Es ist Urlaub, denkt sich Hoi-Andi nach Internet-Cafe und Abendessen gegen 22 Uhr, als ich die Uhr wiederentdecke, und spaziere “Somewhere over the rainbow” pfeifend zurueck ins Hotel. Urlaubsmaessig entspannt. Und gluecklich. Als ich mein Zimmer betrete, denke ich noch einmal an den Sonnenuntergang, den ich am Flussufer fruchtig-frisch, aber leicht schwitzend erlebte. Aber noch nie in diesem Urlaub waren mir 33 Grad und Sonne scheissegaler.

Die Muedigkeit stoert mich schon lange nicht mehr. Hoi An hat mich gerettet. Das verstehe ich unter Entspannung. Das ist Relaxen und wirklich an NICHTS denken. An GAR NICHTS! Das ist eine weitere Facette, das naechste Gesicht Vietnams, eins, das krass zu dem Saigons differiert. Und ich glaube nicht, dass dieses Gesicht erst mit den Touristen gekommen ist.

Doch morgen muss ich wieder abreisen. In meinem engen Reiseplan steht dann Hue ganz oben. Eins ist sicher: Hoi An, dieses langweilige, verschlafene Bernkastel Vietnams, bleibt in meinem Urlaubsherzen 2005 weit oben.“

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