3. Tag – Los Angeles – 11. November 2018

Langsam humpelt Russell Wilson im Los Memorial Coliseum, dieser beeindruckenden, fast schon etwas Angst machenden Riesenschüssel voller Sportgeschichte und Emotionen, von der Kabine der Seattle Seahawks Richtung Presse-Zelt. Er trägt eine Jacke mit der Aufschrift „Malibu“ und nachdem er ein, zwei Sätze zu diesem großartigen American-Football-Spiel, das die Seahawks soeben mit 31:36 bei den LA Rams verloren haben, gesagt hat, begründet er die Wahl seiner Jacke: „Tough times for the area of Los Angeles.“ Er redet vom Amoklauf im Vorort Thousand Oaks vor einer Woche, von den verheerenden Waldbränden, die hier täglich allgegenwärtiger erscheinen, da nahezu jeder schwerreiche NFL-Profi Freunde in Malibu hat, jenem Promi-Strandparadies, das nahezu komplett abgebrannt ist.

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Ein Traum wird wahr, Teil 1

Ein Traum wird wahr, Teil 1

Um 7 Uhr stehe ich auf, reiße meine Vorhänge auf und sehe: Der nächste supersonnige Sommertag im November erwartet mich. Heute ist DER Tag hier in L.A. – ich werde ein NFL-Spiel meiner Seahawks bei den schier übermächtigen Los Angeles Rams sehen. Noch nie in der Ära von Quarterback Russell Wilson waren die Hawks so krasser Außenseiter.

Seit gestern weiß ich, wo es langgeht. Hotelausgang „Figueroa Street“, links, 400 Meter geradeaus, drei Straßen überqueren, links zur Metro, sechs Haltestellen und dann beim Halt „USC / Expo Park“ raus.

Arbeitsplatz in der „Press Box“.

Mein Sitzplatz – mit Dach überm Kopp.

Ich erreiche Gate 1, den berühmten Haupteingang dieses 93.000-Zuschauer-Runds (Drehort der zweiten „24“-Staffel), schon gegen 10.30 Uhr, bleibt noch genug Zeit, um auf die gegenüberliegende Seite zu „meinem“ Eingang an Gate 14 zu kommen, da liegt eine Karte zum Abholen. „Will Call“ nennt sich dieser Prozess. Ich spaziere an Campingwagen vorbei, an Parkplätzen – und ja, es ist kein Vorurteil, viele NFL-Fans grillen wirklich direkt neben ihrem Auto. Das ist eine ganz eigene, individuelle Kultur – aber keine, die ich als bekennender Grillfleisch-Fan, ablehnen würde. An Gate 8 geht es plötzlich nicht mehr weiter. „Nur mit Pressekarte!“, sagt ein Security-Mann.

Der Security-Mann bringt mich persönlich zu Gate 14. Wir kommen ins Gespräch, er ist Fan der Oakland Raiders (die sind so schlecht!) und ich merke schnell, dass der Satz „I‘m from Germany and its my first time at the LA Coliseum“ ein Türöffner für viele geographische Probleme ist.

Was für eine Schüssel, das LA Coliseum.

Was für eine Schüssel, das LA Coliseum.

Der „Will-Call“-Prozess ist eine Sache von Sekunden und als einer der ersten betrete ich dieses monströse Stadion – Superlative kann‘s nicht genug geben. Einige Bereiche sind gerade „Under Construction“, unter anderem die Tribüne für Journalisten. Deshalb werde ich („My first time…“) in einige Container unterm Dach geführt, das ist die sogenannte „Press Box“. Anders als in der Bundesliga sitze ich hier nicht auf der Tribüne, mitten im Stadion, sondern eingepfercht in einem Raum mit Fenster. Und Dach überm Kopp. Dabei, aber nicht mittendrin.

Und doch genieße ich fortan jeden Augenblick. Alter, things to do before I die! Ein Spiel im Coliseum sehen!

Mit Bob Condotta von der Seattle Times.

Mit Bob Condotta von der Seattle Times.

Wie schon beim Super Bowl sind Spiele wie diese unfassbar gut geeinigt, sich mit Kollegen aus anderen Ländern anzufreunden. Ich treffe Bob Condotta, einen legendären Seahawks-Reporter der „Seattle Times“ – meine favorisierte Quelle für die neuesten Hawks-News. Neben mir sitzt Cam Buford vom Los Angeles Observer, der während der drei Stunden mein persönlicher Football-Coach wird. Ich weiß nicht wenig über das Spiel, aber nur ein Prozent von dem, was Cam über Football weiß. Er erklärt mir fast jeden Spielzug, wir reden über die Bundesliga („Schalke? Dortmund? Kenn ich nicht!“), über deutsche NFL-Profis (er kann mit Björn Werner, Markus Kuhn, Sebastian Vollmer und EQ St. Brown nichts anfangen), über Taktiken, verschiedene Strafen für verschiedene Vergehen, Football in Los Angeles allgemein – und genießen das Spiel, Nuggets in der Halbzeit und das Ballyhoo drumherum. Heute ist zum Beispiel „Veterans Day“, der Spieltag steht unter dem Motto „Salute to Service“. Ehemalige und aktuelle Soldaten werden geehrt, immerzu auf den riesigen Leinwänden gezeigt.

Mit Cam Buford vom LA Observer.

Mit Cam Buford vom LA Observer.

Das Spiel kurz zusammenzufassen ist kaum möglich; Seahawks-Headcoach Pete Carroll sollte es nach dem Spiel am besten machen. „Guys, I love that football game“, sagte er zu uns Reportern. Dieses Spiel hatte alles. Spektakuläre Touchdowns, Führungswechsel, atemberaubende Tackles, Spannung bis zum letzten Playcall, ein unerwartet nervöses Heim-Publikum bis zum Ende.

Die Seahawks führen nach dem ersten Drive mit 7:0, später noch mit 14:7 und im dritten Quarter nach der Halbzeitpause sogar mit 21:20. Quarterback Russell Wilson ist bis dahin in Topform, Rookie-Runningback Rashaad Penny zeigt seine beste Leistung (mit einem Touchdown) und Tyler Lockett überreicht seinen Ball nach seinem Touchdown Box-Legende Floyd Mayweather.

Seahawks-Headcoach Pete Carroll.

Seahawks-Headcoach Pete Carroll.

Doch die Rams sind nun eben die Rams – und die drei wichtigen Plays entscheiden sie für sich. Der erste: Beim Stand von 20:21 aus ihrer Sicht gelingt Robert Woods ein wichtiger Catch im dritten Down bei noch 15 zu überwindenden Yards. Bitter für die Hawks! Der zweite: Nachdem Kicker Sebastian Janikowski per Field Goal für die Hawks auf 24:26 verkürzt, versucht er einen Onside Kick, um in Ballbesitz zu bleiben. Ein riskanter Spielzug, der ohnehin nur in einem von zehn Versuchen klappt. Auch diesmal nicht. Ob ein Onside Kick neun Minuten vor Schluss nötig ist? Die Rams punkten, erhöhen auf 29:24. Der dritte: Wilson schenkt nur kurze Zeit später den Ball leichtfertig ab. Fumble. Touchdown Rams zum 36:24. Game Over. Cam verabschiedet sich schon Richtung Kabinengang.

Game Over? 116 Sekunden vor Schluss verkürzen die Seahawks plötzlich auf 31:36 und kommen durch starke Defensivarbeit und geschickt genommene Auszeiten schnell wieder in Ballbesitz. Ein Touchdown – und es gibt den überraschenden Auswärtssieg! Doch der entscheidende letzte Pass von Wilson Sekunden vor dem Ende ist unvollständig – „incomplete“. Schluss, verloren. „Whose house?“ dröhnt durch die Lautsprecher. „RAMS HOUSE“, antworten die verbliebenen Fans.

Seahawks-Quarterback Russell Wilson

Seahawks-Quarterback Russell Wilson

Ich packe zusammen, schaue auf meine Karte, Kabinenzugang. Soll über Gate 11 funktionieren. Tja, aber – wie überraschend – ich verlaufe mich natürlich und als ich schließlich den Innenraum erreiche („My first time…“), ist fast alles gelaufen. Ich bekomme noch die Pressekonferenzen von Carroll und Wilson mit, einige Spieler wie Linebacker Bobby Wagner sagen noch etwas.

In der Dunkelheit verlasse ich das Coliseum, schwebe ein wenig über den Ventura Boulevard und steige beschwingt in die Metro zurück Richtung Downtown. Wow, das hat sich ja mal gelohnt. Tolles Spiel, tolles Stadion, tolle Leute kennengelernt, Football-Nachhilfestunden bekommen.

Mit einem Sandwich und Apfelkuchen klingt der Abend aus, ich schaue das späte Spiel Dallas Cowboys gegen Philadelphia Eagles. „Sunday Night Football“ beginnt in Deutschland immer um 2.15 Uhr, ha, diesmal kann ich sogar wachbleiben.

Als ich feststelle, dass mir die sensationelle Leistung von Dallas-Runningback Zeke Elliott einen Sieg im Fantasy-Football-Match gegen meinen Trauzeugen Felix beschert, rundet das diesen wunderbaren Tag ab.

Seahawks-Linebacker Bobby Wagner

Seahawks-Linebacker Bobby Wagner

Morgen ist meine Zeit in L.A. vorbei. Leavin‘ Los Angeles never easy? Naja, ich weiß nicht; ich freue mich sehr auf das, was noch kommt.
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Und jetzt gibt‘s noch eine Zugabe – und zwar den Text, den ich für die Online-Portale der Funke-Gruppe verfasste – mit der Zeile „Warum es die NFL in Los Angeles schwer hat“.

Als die Sonne hinter dem Los Angeles Memorial Coliseum verschwand, dröhnte ein letztes Mal am Sonntagabend durch die Boxen: „Whose house?“ Und die noch verbliebenen Football-Fans der Los Angeles Rams antworteten: „Rams house!“ Wer spielt zu Hause? Die Rams spielen zu Hause! Die Rams sind der größte Super-Bowl-Anwärter der aktuellen Saison in der Profiliga NFL, haben neun von zehn Spielen gewonnen – und doch spielt American Football in der 13-Millionen-Einwohner-Stadt keine große Rolle.

Und das in Los Angeles, der Stadt der ewigen Sonne, bekannt für Hollywood und Disneyworld, lässiges Strandleben am Pazifik, Dauerstau auf den Highways, Glamour in Beverly Hills, Gang-Kriege im Süden, eine einzige große Kulisse. Ausgerechnet um diese Hauptstadt des 24-Stunden-Entertainments machte das größte Unterhaltungs-Business des Weltsports von 1995 bis 2015 einen großen Bogen.

Die Akkreditierung - wird aufbewahrt!

Die Akkreditierung – wird aufbewahrt!

Bis die Teambesitzer und die Chefs der NFL-Dachorganisation beschlossen, zwei Teams umzusiedeln – als würde Schalke auf einmal in Flensburg spielen und der FC Bayern nach Mülheim an der Ruhr umziehen. In Amerika geht so etwas, da zählen Tradition und Fan-Liebe im Profisport nichts.

Zunächst kamen 2016 die Rams. „20 Jahre kein Football – und dann sollen sofort die Leute kommen? So schnell geht das nicht“, sagt Cam Buford, Football-Experte vom „Los Angeles Observer“. Die Rams kehrten aus St. Louis im Bundesstaat Missouri zurück. Das ist 2800 Kilometer entfernt, weiter als Essen von Moskau. Meist sind es die Fans der Gegner, die das Coliseum füllen, so wie am Sonntag die der Seattle Seahawks. „Durch den Erfolg wird es etwas besser“, sagt Buford. 72.000 Zuschauer kamen am Sonntag und sahen ein 36:31-Feuerwerk – doch 21.000 Plätze blieben leer. Die Universitäts-Mannschaft der USC Trojans lockt nicht viel weniger Football-Fans an. „Das ist einfach eine Basketball-Stadt“, sagte Rams-Runningback Todd Gurley, momentan der beste Offensivspieler der NFL, einmal.

Bei den Chargers ist die Situation noch dramatischer. Die zweite Mannschaft aus Los Angeles kam ein Jahr nach den Rams aus San Diego. Das ist „nur“ 200 Kilometer entfernt an der mexikanischen Grenze. Die Chargers sind fast so erfolgreich wie die Rams, gewannen von neun Spielen sieben. Doch sie stehen mal wieder mit großem Abstand am Tabellenende der NFL-Zuschauertabelle. „Die Chargers interessieren niemanden. „Da ist American Football in Deutschland populärer als die Chargers in L.A.“, sagt Buford. Als die Rams auf die Chargers trafen, zum Derby ohne Tradition, kamen 68.000 Zuschauer – der zweitschlechteste Rams-Besuch in dieser Saison.

Was für ein berühmtes Stadion!

Was für ein berühmtes Stadion!

Gerüchte über eine erneute Umsiedlung der Chargers verneinte NFL-Boss Roger Goodell. „Die Rams und die Chargers haben spannende junge Mannschaften. Das wird helfen in den kommenden zwei Jahren“, sagt Goodell.

Denn das Projekt ist bei allen Start-Schwierigkeiten langfristig angelegt. Die große Hoffnung beider Teams ist das Inglewood Stadium, das gerade in der Nähe des Flughafens für 2,6 Milliarden Dollar entsteht und nach der Eröffnung im Jahr 2020 das modernste Stadion der Welt sein wird. Dort sollen dann die Rams und die Chargers spielen – vor bis zu 100.000 Zuschauern.

Momentan spielen die Chargers im StubHubCenter, Fassungsvermögen 27.000. Ausverkauft ist es nur selten.

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