Seit 14 Spieltagen läuft die Saison in der 2. Bundesliga. Vor der Saison wurde ich oft gefragt, wie viel Lust ich nach so vielen Jahren Bundesliga, Champions League, Europa League überhaupt darauf hätte. Ich muss Euch sagen: Es ist mitunter viel stressiger als die Erste Liga, macht aber sehr, sehr viel Spaß – es ist intensiv, es gibt viele Begegnungen, Geschichten, heiße Diskussionen.
Überanstrengt nach einem wilden Tag in Bremer Weserstadion – November 2021.
Das hat mich heute an am freien Montag dazu veranlasst, zwei persönliche Top-5-Listen über Ereignisse rund um die Spiele zu veröffentlichen. In der ersten geht es um meine fünf emotionalsten Augenblicke im Stadion, in der zweiten um meine fünf persönlichsten Momente außerhalb des Rasens, die nichts mit Fußball zu tun haben. Da geht es natürlich zunächst um Auswärtsspiele.
Im Stadion
1. Bremen – Videobeweis in der 94. Minute: „Ein Spiel, zwei Skandale“ lautete meine Zeile im Print-Text für die Montag-Ausgabe unserer NRW-Titel (WAZ, NRZ, WR, WP). Es ging zuerst um den Rücktritt des Bremer Trainers Markus Anfang, aber noch viel mehr um den falschen Elfmeterpfiff in der Nachspielzeit. Welch ein Patzer des Schiedsrichters, des Video-Assistenten. Welch eine Schimpftirade von Trainer Dimitrios Grammozis kurz vor Mitternacht. 1:1 statt 1:0. Bitter. Für mich beruflich hatte das die Folge, dass ich einige Texte schnell, sehr schnell, mit Schlusspfiff anpassen musste und auch am Tag nach dem Spiel der Arbeitstag nicht enden mochte.
Jubel-Explosion: Schalke feiert nach dem 3:1 von Simon Terodde gegen Düsseldorf – August 2021
2. Heimspiel gegen Düsseldorf – Simon Terodde trifft zum 3:1: Nach anderthalb Jahren mit rund 50 Geisterspielen hatte ich das erste Heimspiel mit Fans schon erlebt, es war ein 1:1 gegen Erzgebirge Aue. Aber erst am 28. August merkte ich, wie geil es wirklich ist, wenn Fans in der Arena anfeuern. Auch wenn es nur 25.000 an diesem Tag waren. Es war ein umkämpftes, ein enges Spiel, Schalke führte kurz vor Schluss 2:1, Düsseldorf aber stürmte. Dann traf Simon Terodde in der 90. Minute zum 3:1. Wie das Stadion explodierte, ist hier gut nachzuempfinden. Der „Quatscher“, also der Stadionsprecher, sagte: „Da fliegt doch fast das Dach weg hier.“ Und selbst der erfahrene Terodde, der so viele Tore geschossen hat in seinem Leben, bezeichnete diesen Treffer als einen der wichtigsten.
Das Nebelspiel in Heidenheim – Oktober 2021
3. Der Nebel in Heidenheim: Ich habe über mehr als 1200 Fußballspiele in meinem Leben berichtet, zu fast allen Uhrzeiten zwischen 9 und 23.30 Uhr, bei nahezu allen möglichen Witterungsbedingungen. So ein Spiel wie das in Heidenheim war aber selten dabei: heiß, warm, lauwarm, normal, kühl, kalt, Nordpol, Sonne, Bewölkung, Regen, Schnee, Eis. Aber Heidenheim? Es war ar***kalt (gut, das kam in der Art häufiger vor), aber zudem neblig. Eine Ecke des Spielfeldes in der Arena – ausgerechnet die vor der Schalker Fankurve – war für mich über weite Strecken des Spiels nicht zu erkennen, maximal schemenhaft. Zwischenzeitlich reichte die Sicht nicht einmal bis zur gegenüberliegenden Außenlinie. Und dann ging das Spiel auch noch in der 89. Minute mit 0:1 verloren…
Wieder ein Tiefpunkt – 1:4 in Regensburg im August 2021
4. Das 1:4 in Regensburg – komplett: Ich habe Raúl im Schalke-Trikot spielen sehen. War in Manchester zu einem Champions-League-Spiel. Stand nach dem DFB-Pokal-Sieg 2011 in der Mixed Zone des Berliner Olympiastadions und sprach mit Spielern, die den Pokal im Arm hielten. Ich interviewte Stars wie Klaas-Jan Huntelaar. Und nun spielte der große FC Schalke 04 beim SSV Jahn Regensburg im kleinen Jahn-Stadion, das von außen nach Netto-Filiale aussieht, um Punkte in der 2. Bundesliga. Und ließ sich 90 Minuten nach allen Regeln der Fußballkunst vorführen und mit 1:4 abschießen.
„Das war heftig“, murmelte Schalke-Idol Gerald Asamoah, als er uns Schalke-Reportern im Kabinengang über den Weg lief. Ein Tag, der ganz Schalke schockierte und auf den Boden der Zweitliga-Tatsachen holte. Der zeigte: Der direkte Wiederaufstieg wird kein Selbstläufer.
Rodrigo Zalazar nach seinem Tor in Villingen – August 2021
5. Das Tor von Rodrigo Zalazar in Villingen: Viele werden sich jetzt fragen: Hää? Warum denn ausgerechnet dieses Tor? In diesem Treffer zum 2:1 kulminierten alle Momente, die dieser schöne zweitägige Sommer-Aufenthalt im Schwarzwald mit sich brachte. DFB-Pokal, erste Runde, sechste Liga gegen zweite Liga. Ein kleines Städtchen, ein feines Essen am Abend vor dem Spiel, ein Morgen-Spaziergang zur Neckarquelle am Spieltag, Ausblick auf den Schwarzwald aus dem Fenster meines Zimmers. Einfach alles rund um dieses Spiel war von Herzlichkeit geprägt, auch von einem Ausflug in die eigene journalistische Amateurfußball-Vergangenheit. Eine leckere Bratwurst (na gut, zwei), keine Presseplätze mit Steckdosen, sondern Bierbänke mit Kabeltrommel – und zum ersten Mal seit Februar 2020 wieder mit Auswärtsfans im Stadion. Die hatten zunächst nicht viel Freude, befürchteten eine Blamage, aber als Rodrigo Zalazar, gerade von Eintracht Frankfurt verpflichtet, mit einem Hammer aus der zweiten Reihe zum 2:1 traf, direkt auf den Zaun sprang, fiel die Last ab. Von den Profis, von den Fans und von mir ein bisschen: Ein Pokal-Aus hätte schon kurz nach Saisonstart eine chaotische Woche zur Folge gehabt…
Außerhalb des Rasens
Die Steinerne Brücke in Regensburg an der Donau – August 2021
1. Regensburg – Steinerne Brücke: Die Uhr zeigte etwa 20.30 Uhr an einem Freitagabend Mitte August. Die lange Zugfahrt war absolviert, die harte Arbeit des Tages und alle Absprachen erledigt, da passierte das, was auf Auswärtsfahrten oft geschieht: Hunger, nichts zu futtern dabei, keine Mini-Bar auf dem Zimmer. Also verließ ich mein Hotel an einem lauwarmen Sommerabend noch einmal, traf mich mit einem Schalke-Reporter der Konkurrenz, der ebenfalls schon am Tag vor dem Spiel angereist war. Aber diesmal nicht bei McDonalds oder Burger King, was sonst häufiger passiert. Wir trafen uns am Dom, eine Viertelstunde Fußweg war das, und gemeinsam spazierten wir in die malerische Altstadt Regensburgs. Eine Stadt, die ich nicht kannte und ohne Fußball wohl nie kennengelernt hätte. Wir blieben auf der Steinernen Brücke an der Donau stehen, das ist die älteste Brücke Deutschlands, schauten auf den Fluss und den Sonnenuntergang, und unterhielten uns über das Leben.
Es gibt Pizza in Regensburg – August 2021
Kurz zuvor hatte ich von der schweren Erkrankung eines Kollegen erfahren, den ich über ein Jahrzehnt lang kenne und sehr, sehr schätze. Eine Nachricht, die mich erschüttert hatte, die ich bis dahin gut verdrängen konnte. Die Momente auf der Brücke werde ich nicht so schnell vergessen. Wir aßen in einer Pizzeria, nahmen um 22.30 Uhr noch ein Eis mit auf den Weg. Erleichtert, gesättigt, nachdenklich. Der Tag danach allerdings hatte es dann in sich. Aus sportlichen Gründen, siehe oben.
2. München – eine Boazn in Giesing: In München habe ich wegen eines Praktikums mal vier Wochen im Jahr 2008 gelebt. Ich habe wegen des Fußballs viele Nächte auf unterschiedlichste Art dort verbracht. Bin geflogen, mit dem Zug gefahren, ja, auch mal mit dem Auto. Aber zwei Dinge fehlten noch auf meiner München-Liste: ein Spiel im Stadion an der Grünwalder Straße und ein Abend in Giesing. An einem Abend Ende September bekam ich beides.
Tradition in München-Giesing – das Stadion an der Grünwalder Straße, Oktober 2021
Im Zug (die Fahrt dauert ja knapp sechs Stunden) bereitete ich mich ausführlich auf das Spiel vor und verfasste erste Texte, nach dem Einchecken im Hotel blieben mir noch drei Stunden bis zum Anpfiff. Ich wählte die Nummer eines Mit-Volontärs (2007), der inzwischen in München arbeitet und sesshaft geworden ist. Er lotste mich zum klitzekleinen „Cafe Schau ma moi“ in der Nähe der U-Bahnstation „Silberhornstraße“ mitten in Giesing, klärte mich auf, dass es sich um eine „Boazn“ handelt, übersetzt auf Ruhrpöttisch bedeutet das in etwa „Eckkneipe“. Wir sprachen etwa 45 Minuten, tranken eine Tasse Kaffee, die Boazn füllte sich mit Fans beider Teams, Schalke-Anhänger erkannten mich (Grüße!), alles war einfach nett. Und im Stadion… einatmen, ausatmen, Tradition. Herrlich. So gut. Naja, das Spiel war dann aus S04-Sicht weniger gut. Aber auch das und die Diskussionen über meine Texte unmittelbar danach gehören zu diesem unvergesslichen Fußball-Tag.
Welch eine Atmosphäre – Bremen, Weserstadion, November 2021.
3. Bremen – das „Viertel“: Ähnliche Voraussetzungen wie in Giesing – ich war so oft in Bremen, ich mag die Stadt so gern, kenne durch Spaziergänge auch entlegene Ecken. Aber nur einmal war ich WIRKLICH im Kneipenviertel (in Bremen, wie ich lernen durfte, tatsächlich das „Viertel“ genannt) unterwegs. Irgendwann 1999 oder 2000 war das, vor über 20 Jahren, ich feierte zu Fury in the Slaughterhouse, damals noch eine neue, populäre Band. Praktischerweise liegt das „Viertel“ auf dem etwa 30-minütigen Fußweg vom Hauptbahnhof (in dessen Nähe mein Hotel lag) zum Weserstadion am Osterdeich. Und wieder wählte ich die Nummer eines ehemaligen Arbeitskollegen, der jetzt beim größten Zeitungshaus der Stadt arbeitet.
Flutlicht. Bremen, Weserstadion – November 2021
Wir dehnten die 30 auf 60 Minuten aus, zogen von Dönerladen über Kiosk ins „Lagerhaus“, gaben uns ein Update über die aktuellen Ereignisse, privat wie beruflich – super. Er blieb mit Freunden im Lagerhaus, ich spazierte den tollen Weg zum Stadion. Und dann begann das Spiel, das, siehe oben / erster Platz, so fulminant endete. Won’t forget these day.
4. Rostock – Windstille in Warnemünde: Wie ich schon mal in einem Tagebucheintrag auf meiner „alten“ Homepage aus dem Jahr 2004 erwähnte, habe ich zum Strand von Warnemünde ein besonderes Verhältnis. Das will ich nicht noch einmal aufgreifen. Weil ich aber die Schönheit des Ortes kenne, suchte ich im September kein Hotel in Rostock-City, sondern mitten in Warnemünde an der Küste. Ich wählte eine Zugverbindung, die mir genug Zeit lassen sollte, noch einmal vor dem Spiel an der Strandpromenade entlang zu schlendern.
Immer unter Strom, immer unterwegs – Warnemünde am Vormittag, September 2021
Am Spieltag aber wurde daraus nichts. Der Zug hatte etwa zwei Stunden Verspätung, Warnemünde war wegen einer Klopperei voll von Polizei, ich checkte ein, einmal Pipi, und dann sofort zurück zur S-Bahn. Ich sah am Bahnhof von Warnemünde eine Aida, die zur Musik von „Sail Away“ den Hafen Richtung Meer verließ (bizarrer Moment), zog dann mit vielen Hansa-Rostock-Fans Richtung Stadion (auch bizarr) und holte meine Akkreditierung an einem Waldparkplatz kurz hinter dem „Hansa-Treff“ (ebenso bizarr), und auch das Spiel war heftig. Meine Windstille in Warnemünde bekam ich aber doch noch. Am kommenden Morgen stand ich dafür eine Stunde früher auf. Mit Koffer zog ich zehn Minuten zu Fuß zum Strand, setzte mich in die Dünen und schaute aufs Meer. Einfach mal an nichts denken, wenn auch nur für wenige Augenblicke.
Sonnenaufgang in Warnemünde – September 2021
Dann spazierte ich zurück zum Zug und die Arbeit begann. Mit Meeresluft in der Birne klappte das aber diesmal doppelt so gut.
5. Heidenheim – der Weg durch den Schlosspark: Noch so eine Stadt, in der ich noch nie war: Heidenheim an der Brenz. Mit dem ICE bis Ulm, dort im Hotel einchecken, zurück zum Bahnhof, und dann bei Nieselregen knapp 40 Minuten mit der trotz Corona voll besetzten S-Bahn aufs Land. In diese kleine Stadt, die der Trainer des FCH im Interview mit mir als „Arbeiterstadt“ bezeichnet hatte. Nicht nur die Witterungsbedingungen (siehe oben / Platz 3) waren ganz speziell, auch der Rückweg. Fand ich für den Hinweg noch einen Shuttlebus zum Stadion auf dem Mini-Busbahnhof, waren für den Rückweg zum Bahnhof gegen 22 Uhr alle weg.
Auch mal dagewesen – Heidenheim an der Brenz, Bahnhof, Oktober 2021
Taxis – nicht zu sehen. Aber ich musste dringend den letzten Zug Richtung Ulm erwischen. Also fragte ich einen Einheimischen, der mir erklärte, ich könnte die Abkürzung durch den Schlosspark nehmen und mir lose mit dem Zeigefinger den Weg wies. Und ich folgte dem Zeichen, ausgerüstet in Nebel und Dunkelheit lediglich mit der Lampe meines Mobiltelefons. Ich fühlte mich wechselweise wie in „Aktenzeichen XY“ oder im „Club der toten Dichter“ auf dem Weg zur Höhle, um Thoreau-Gedichte vorzutragen. Google Maps zeigte nur Wald. Ich hörte „High hopes“ von Pink Floyd und überstand den Weg schadlos, da nach wenigen Hundert Metern die Lichter des Städtchenzentrums am Horizont auftauchten. Erinnern daran werde ich mich aber noch lang. Denn hey: Wer von Euch war schon mal nachts in Heidenheim an der Brenz unterwegs?