Wenn der Morgen graut

Am 21. September 2002 bloggte ich über das 2:2 des VfL im Auswärtsspiel bei Hannover 96. Am Rande des Spiels traf ich Domi, mit dem ich einst, 1997 in Mülheim-Broich, die Abiprüfungen bestand. Domi studierte 2002 in Hannover Landschaftsarchitektur. Der VfL glich in der Nachspielzeit aus, und doch war es nach einem Saisonstart auf der linken Spur ein lahmer Kick. Ein 2:2, das müsst Ihr Euch mal vorstellen…

Ich nannte den Text „Wenn der Morgen graut – Über die schätzungsweisegemäße 97. Minute und eine sanfte, depressive Gitarre“:

„Kurz vor der ersten Straßenbahn, sind alle Wege öde und leer“, hat Sven Regener mit seiner Band Element of Crime gesungen. Dazu eine sanfte, depressive Gitarre, der Hauch einer durchgefeierten Nacht als nicht hörbares Instrument im Hinterkopf. Die erste Straßenbahn hat ihre Strecke längst schon dreimal hin- und zurück abgefahren, okay, das gebe ich zu. Aber morgens um 10.10 Uhr sind Ende September die Wege in Mülheim öde und leer. Ich verlasse das Haus Richtung Hannover, wieder ein Auswärtsspiel, man muss ich irre sein, zupfe mir den Rollkragen meines Pullis zurecht, lege den Schal um, diesmal nicht zur Dekoration, sondern zum Wärmezweck. Und dieses Lied schwebt mir im Kopf rum. Das mit der Zeile von den Wegen, die öde und leer sind. Es heißt „Wenn der Morgen graut“ und passt zu meiner Stimmung wie meine Mutter zu meinem Vater. „Wo ist der Gott, der uns liebt/Ist der Mensch, der uns traut/Ist die Flasche, die uns wärmt/Wenn der Morgen graut“. Und die zweite Zeile beginnt „Kurz vor der ersten Straßenbahn, sind die Gedanken müde und schwer“. Dazu eine sanfte, depressive Gitarre, der Hauch einer… siehe oben. Meine Backen plustern sich auf. Wenn in den Hosentaschen nebst Block, Portmonee, Tageszeitungen und Digitalkamera noch Platz wäre, würde ich meine Hände darin vergraben. Meine Augen sind so dunkel wie Finnland im Winter, die Ringe darunter so groß wie die von Derrick.

„Ich bin 30 Jahre nicht Bahn gefahren. Muss das erst wieder lernen“, brüllt eine etwa 175-jährige Frau kurz vor dem Essener Hauptbahnhof. Ey Frau es ist viertelvorelf, an einem Samstagmorgen, ich war gestern spät im Bett. GEH MIR NICHT AUF DEN ZEIGER!!! Was ist an Bahn fahren schwer? Auf den Knopf drücken, einsteigen, bis zur gewünschten Haltestelle fahren, auf den Knopf drücken, aussteigen, FERTIG! Manmanmanmanman… Unentspannt bin ich heute, du liebe Güte. Der ICE Richtung Berlin Ostbahnhof wartet am Bahnsteig gegenüber, den reservierten Platz suchen. Irgendwie werden Auswärtsspiele mit der Bahn mehr und mehr Routine.

Früher, ja früher hatte ich noch das Auto. Über die Autobahnen Deutschlands brezeln, die Musik laut aufdrehen. Hatte auch was. Aber jetzt Bahn fahren; für so einen ruhigen Zeitgenossen und Hobby-„Schilderer“ wie mich das Paradies. Mir gegenüber grinst mich ein FAZ-Leser an, der nach Stettin in Polen fährt. Direkt hinter mir sitzt eine Mutter mit ihrem etwa dreijährigen Kind, dem ich während der zweistündigen Fahrt den Spitznamen „Sirene“ verpasse. Huh, der Morgen graut, und meine Gedanken sind noch schwerer. Was muss es dem Kind schlecht gegangen sein. Oh ja, Kaffee, wär nett. Bimmelimm, da kommt der Wagen angefahren. Ja super, 0,2-l-Becher für (!) 2,35 Euro! Nee, lieber nicht. Dann doch den in Mülheim gekauften Kamps-Kakao besser einteilen. Mein Highlight der Hinfahrt: Eindeutig das T-Shirt der ziemlich hübschen Bimmelimm-Dame. Vorne und hinten mit allen Preisen drauf. Man sieht das bescheuert aus. Will sie mir aber nicht verkaufen. Links neben mir zwei – sagen wir – Machos, die die zwei – sagen wir – etwas aufgebrezelten 25-jährigen Tussis (die zwei Reihen vor mir sitzen) angraben. Am Ende rückt eine „Silvia“ ihre „0163“-Nummer raus, aber so, dass diese direkt der ganze Großraumwagen erfährt. Muss die es nötig haben. Ich werd nicht anrufen. Die Fahrt geht an Ostwestfalen (…-Idioten, Scheiß Arminia Bielefeld – siehe Bericht aus der Saison 2001/2002) vorbei, an der Platzanlage vom RSV Seelze (direkt an einer fünf- oder achtgleisigen Bahnstrecke. Ich möchte da nicht übers Tor schießen). Dirk aus München – der an dieser Stelle oft zitierte – schreibt ne SMS: „Du bist wirklich in Hannover? Du Wahnsinniger!“ Was wäre ein Auswärtsspiel, ohne einmal der Wahnsinnigkeit bezichtigt zu werden!?! Hannover Hauptbahnhof, der Zug hält, das ging ja schnell.

Hannover, das letzte Mal war ich im Oktober 2000 hier, bei der Expo, als sich Hannover als Weltstadt profilieren wollte. Das ging absolut und total in die Hose (hätte ich auch vorher schwören können), aber getreu dem in der Werbung vorgetragenen Motto „Das gibt’s nur einmal, das kommt nie wieder“ bin ich halt dort gewesen. Übrigens haben wir mit ein paar Mann bei Domi gepennt, der just in diesem Monat anfing, in Hannover „Landschaftsarchitektur“ zu studieren. Wir haben zusammen Abi gemacht, 1997, im Bildungsbunker Broich, nie so richtig viel miteinander zu tun gehabt, aber so ein Fußballspiel ist doch ein willkommener Anlass für ein kleines Pläuschchen, zumal er eine 96-Dauerkarte hat. Lange Vorrede, kurzer Sinn: Der Morgen graut immer noch, als wir uns um 13 Uhr vor dem Bahnhof, vor dem komischen Reiterstandbild von König August (sind die Hannoveraner auf so eine Scheiße wirklich stolz?) treffen. Auch das scheint wohl zu einer – wie ich finde sehr angenehmen – Tradition zu werden: Kein Auswärtsspiel allein zu verbringen. In Leverkusen mit Thommy, in Hannover mit Domi, bald in München bei Dirk. Klasse. Es geht vorbei am Aegidientorplatz. „Und – was machste so?“ „Oh je, muss am Montag ne Klausur schreiben!“ „Hab ich hinter mir!“ „Und würde bald gern ein Jahr ins Ausland gehen!“ Vorbei am alten Rathaus. „Ach, Hannover ist ja Schröder-Stadt!“ „Ich hab den schon zweimal gesehen, privat. Einmal stand der so nah neben mir, da hätte ich dem ein Messer in den Rücken rammen können!“ Vorbei am naturwissenschaftlichen Museum (in dem eine (!) Hochzeit (!!), wirklich (!!!), stattfindet), auf zum Maschsee. Stadion in Sichtweite.

„Ein Pils, eine Cola!“ „Wie schmeckt das Pils denn?“ „Herrenhäuser ist gar nicht schlecht. Aber in Mülheim kommt nur KöPi ins Glas!“ Wir pflanzen uns auf eine der weißen Bänke, die einen Blick auf den See erlauben. Domi, aufgrund seines Nachnamens auch gern „Pilsmann“ gerufen, steckt sich eine Zigarette an, pustet den Rauch aus. Ein Hund springt kraftvoll einem Stock in den Maschsee hinterher. „Andi, da gibt’s Karpfen, die sind genauso groß wie der Hund!“ Ein Rundfahrtschiff dreht seine Runden. Die Ruhe vor dem Spiel. Kein Fußball ist das Thema. Nettes Gespräch. 14.30 Uhr. Vorbei an einer Kirmes. „Ist drei Wochen Schützenfest hier!“ Die Hannover-Kurve. „Schönes Spiel Andi“ „Schönes Spiel Domi. Ich mach mir keine großen Hoffnungen!“

Das Stadion ist groß, der Weg bis zur Gästekurve weit. Dann mal rein mit der gefüllten Pizza, die mich stark an jene bei „Rock am Ring“ erinnert, die ich mir täglich zweimal reinfegte. Auf der Eintrittskarte steht „Block G 26“, am „Block G 26“ steht „heute geschlossen“! Hä? Gut, ab in „Block G 28“, hat 11 Euro gekostet, ist komplett besitzplatzt. Ach ja, und wie ich diese Köppe vermisst habe, die als einziges Wort nur „Hurensohn“ kennen und als einziges Lied dieses Onkelz-Gebrülle von „Senioritas im Arm, Tequila lauwarm“. Siehe Fürth, im Ruhrstadion sehe ich die Deppen nie. Zum Glück gibt’s davon in Bochum nur 20, in Aachen ist da ne ganze Kurve voll von. Trotzdem, an einem ergrauten Nachmittag stören die ein wenig. Das Stadion füllt sich langsam, ein paar Millisekunden lugt die Sonne hinter dem Grauingrau hervor, Bochumer brüllen „Bochum ist ne tolle Stadt, da lässt es sich gut leben, nun fahren wir zum Auswärtsspiel und benehmen uns daneben!“ Jemand zeigt den Hannover-Fans seinen nackten Arsch. Ne is klar! Es scheint, als berechtige ein Fanschal dazu, seinen Charakter komplett zu wechseln. Irgendwie ist das bei mir gar nicht anders. So apathisch ich auch im ICE gesessen haben mag, 15.20 Uhr, heißa kathereinerle, jetzt steigt der Adrenalin-Spiegel. Völlig zurecht. „Ich kenn meine Jungs, das geht schief“, gab ich Domi mit auf den Weg. Und Hannover kommt. Zwar nicht zwingend, aber doch überlegen. Nur ein Gegenangriff, dann Fahrenhorst-Kopfball, Tor! Nennt man das abgezockt? 1:0-Führung, danach geschieht nicht mehr viel. Bochum hält die Führung. Bis, ja bis Bobic ausgleicht. So ein Gurkentor, Äppelken. 1:1 zur Halbzeit, verdient. Adrenalinspiegel hoch, aber nicht am Siedepunkt. Spielnote vier.

Aber es sind ja noch 45 Minuten zu spielen. Und es wird heftig. Wieder ein Herzinfarkt-Spiel, der Kick, den ein Fußballspiel mit sich bringen kann. Wie in den Abstiegsjahren ist Bochum dem Gegner hoffnungslos unterlegen. Seitdem Neururer Trainer ist (nicht einmal beim 1:6 in Oberhausen, das Spiel zählt nur halb), war mein VfL noch nie so hilflos. Der Druck der Hannoveraner wird so stark, dass einem in der eigenen Fankurve die Luft wegbleibt. Ich greife mir an den Hals, schnappe nach Sauerstoff, ähnlich wie 1000 andere. Keine Anfeuerungsrufe mehr drin, nicht mal von den Ultras. Noch hat Rein van Duijnhoven 1000 Arme. Noch fegt der Kalla wenigstens in der Luft alles weg. 1:1, 55. Minute; 1:1, 65. Minute, aber dann: Ein Freistoß, ein Kopfball von Linke, 2:1. Proteste, Abseits? „Aber drei Meter“, rufe ich laut, wie alle Bochumer. „Ich hab den Linienrichter bis hierhin schlafen gehört!“ Er steht 150 Meter weg. Verdient ist das, hochverdient. Und wenigstens Linke – den hab ich im Kicker-Manager-Spiel. Gut, 1:2-Auswärtsniederlage, vielleicht noch 1:3. Die Hannoveraner haben das verdient. Jetzt rennen unsere vermutlich noch wild an, aber das gibt eh nix mehr. Eine Hashemian-Chance (vielleicht doch das 2:2), dann aber einige Konter. Das Herz schlägt schneller. Ein letzter VfL-Angriff, 90. Minute. Bemben über rechts, Flanke, Tapalovic, TOR, Trikot vom Leib, jubeln. Abgezockt?

Abpfiff, doch noch Spielnote drei. Vier Tore, einen Punkt mitgenommen, da kann ich mit leben. Ich schlurfe Richtung Ausgang, äußere murmelnd meinen Unmut über die völlig übermotivierte Hannoveraner Polizei (erst stürmt sie ohne Grund mit zwanzig Mann den Bochumer Block, dann kesseln die nur so genannten Ordnungshüter die VfL-Fans nach dem Abpfiff ein, auch mich, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt schon keinen Schal mehr trage, sondern ihn in der Tasche verstaut habe), schleiche um die Bullen-Pferde rum, sehe Domi. Hihi. „Wie blöd muss man sein?“, frage ich. „Wenn ihr nicht gewinnen wollt, dann nehmen wir halt den Punkt mit“, antworte ich selbst. Rückweg. Vorbei am Maschsee. Am Museum. Am Rathaus. „Tschüss Domi!“ „Andi, ich muss noch lernen!“ Ab zum Hauptbahnhof. 30 Kinder (wirklich Kinder, so 14/15 Jahre alt) haben sich versammelt, brüllen eine halbe Stunde lang „Bochumer Hurensöhne“ (wie ich schon mal sagte, irgendwann in der letzten Saison: Ich glaub, die 20 VfL-Fans, über die ich mich manchmal aufrege, sind im Liga-Vergleich total harmlos). Die zwei Sonderwaggons für die VfL-Fans sind an meinen IC angekoppelt – das heißt, sie werden den ganzen Zug bevölkern. Jippiiii! „Wir sind die Ruhrpott-Kanaken“, rufen einige vor der Abfahrt. „Ich möchte Ruhe beim Kacken!“, brüllt jemand vom Klo. Der Zug hält diesmal häufiger. Minden, Bad Oeynhausen. „Ker ist datt schwer zu laufen!“, säuselt ein besoffener blau-weiß angezogener Mensch vor sich hin, dem der Zuggang wie ein Labyrinth vorzukommen scheint. „Boah bin ich müde. Ich muss gleich mal wieder oben pennen!“, sagt ein zweiter, fünf Minuten später. Er wird sich auf die Gepäckablage legen. Ein Fanclub schleppt palettenweise verschiedenste Biersorten mit. Moritz Fiege, Köpi, Becks, Veltins, Krombacher, Hansa. Herford, Bielefeld. Wieder taumelt ein Besoffener durch den Zug. Jemand fragt nach dem Ergebnis (warum eigentlich erst jetzt?). „Schätzungsweisegemäß in der … äh … 97. Minute das 2:2 gemacht!“, bringt er heraus. Aha. Gütersloh, es regnet ein wenig. Die Tropfen klopfen so sachte an die Fensterscheibe wie ein Angestellter an die Tür beim Vorstellungsgespräch. Ich nicke sanft ein. Hamm. Eine Durchsage, dieselbe zweimal, dreimal. „Aufgrund einer Geiselnahme am Bochumer Hauptbahnhof wird dieser Zug von Dortmund umgeleitet. Er fährt Bochum nicht an und hält erst wieder in Essen!“ „Scheiß Geiselnehmer! Wir singen Scheiß Geiselnehmer“ ist laut und deutlich aus dem hinteren Zugteil zu vernehmen. Dortmund. Essen. Schon in Dortmund sind viele ausgesteigen. Ich warte bis Essen, steige um in die S-Bahn. Nett war’s. Nicht überragend gut, aber nett.

„Kurz vor der ersten Straßenbahn, sind alle Wege öde und leer!“ Jetzt kann ich das singen. Es ist mitten in der Nacht. Stockfinster. Eins hat sich seit meiner Abfahrt vor 14 Stunden nicht geändert. Noch immer habe ich die sanfte, depressive Gitarre im Hirn, dazu den Hauch der durchfeierten Nacht als nicht hörbares Instrument. „Wo ist der Gott, der uns liebt/ist der Mensch, der uns traut/ist die Flasche, die uns wärmt/wenn der Morgen graut!“

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