Brechtian Punk Cabaret

Zum ersten und bisher einzigen Mal weilte ich am 9. März 2005 im Gebäude 9 in Köln-Deutz, zehn Fußminuten vom Bahnhof Köln-Messe/Deutz und damit auch von der Lanxess-Arena und der Messe entfernt (später veranstaltete mein Bruder dort noch eine Lesung, aber an diesem Abend musste ich arbeiten). Dieses Konzert der Bostoner Band „The Dresden Dolls“ war ein Experiment. Ich kannte nur ein Lied der Dolls, fand das Band-Konzept ganz gut (Musikrichtung „Brechtian Punk Cabaret“) und wollte mal was wagen. Also kaufte ich eine Karte und fuhr hin. Und bereute es nicht.

Rein in meinen Blog-Eintrag:

„Auf meinem Handrücken prangt ein unleserlicher Aufdruck. Der Eingang liegt ein paar Meter hinter mir, und ein Typ, an dessen Aussehen ich mich nicht mehr erinnere, drückt den Stempel grad zum nächsten Mal ins Stempelkissen. Leise tapse ich vorwärts, wie ein kleiner Entdecker auf Weltreise. Ich schaue an die Wände, sehe, wie der Putz abblättert, erblicke das eine oder andere Graffiti. Ich habe ein bisschen Angst, und ich weiß nicht einmal wieso, aber es ist kein negatives Angstgefühl. Ich bin neu hier, neu in Köln-Deutz, neu in dieser Musikrichtung, und ich glaube, das „Gebäude 9“ in Köln-Deutz ist eins, das ich außerhalb des Konzerts nicht wirklich besuchen würde. Vor zehn Minuten noch, da telefonierte ich mit meinem Bruderherz Thommy, diskutierte über die miserable Leistung des VfL Bochum beim Spiel gegen Schalke 04, wanderte an den zahlreichen Häusern der Kölner Messe vorbei, suchte und fand die Deutz-Mülheimer Straße. „Deutz, das ist ja nicht wirklich Köln. Das ist ja die andere Rheinseite“, erklärte mir der Ex-Kölner Thommy, warum er vom „Gebäude 9“ noch nie etwas gehört hat. Ich erblickte das Schild „Gebäude 9“, verabschiedete mich von Thommy, der mir mitteilte, dass „Good day“ zurzeit zu seinen Lieblingssongs gehört, und betrat einen Hinterhof. Ein stinknormaler Hinterhof eines Lagergebäudes, einer Lagerhalle, was weiß ich. Musik dröhnte hinter einer Wand hervor, etwa schon die Vorband? Rein ging es – und zack, da bin ich nun.

Ich betrete den sehr spartanisch ausgestatteten Konzertsaal und beobachte die verschiedensten Leute. Mit schwarzen Haaren, hellen, gefärbten, gar keinen, langen, Haaren mit Zopf, junge Menschen, alte Menschen, wandelnde Tätowierungen, massiv gepiercte, bunt angezogene, ganz ins schwarz gekleidete, klasse klasse klasse, diese Atmosphäre gefällt mir. Ein Pärchen vor mir knutscht pausenlos, während die Vorband „The surreal funfair“ gerade ihre letzten Takte spielt, links fragt jemand eine Frau nach ihrem Hauch von nichts, das sie (nicht) an ihrem Körper trägt. Ich sehe mit meiner Jeans, den abgenutzten Chucks und meinem grünen Pulli schon relativ „spießig“ aus, doch das ist kein Ort, um in irgendwelche Stereotypen zu verfallen, das ganz gewiss nicht. Es ist noch ein bisschen Zeit, bis die „Dresden Dolls“ kommen. Meine Angst ist längst gewichen. Gewichen für die Melancholie, die ich schon lange nicht mehr erleben durfte. Es ist eine Erinnerung an mein nicht vorhandenes Studentenleben. So viele junge Menschen, so viele alternative Menschen, so viele Menschen, die mit dem Alltagsleben vermutlich noch nichts zu tun haben, die durch die Welt reisen, die sich spontan treffen können, keine Termine und Verpflichtungen haben. Das Konzert hat noch gar nicht angefangen, und schon spiele ich mein (achtung, ich klaue gerade bei Judith Herrmann) „Stell dir vor, wer im richtigen Leben was ist und was macht“-Spiel. Mit meinem vom ganztägigen Stehen schon arg angeschlagenen Rücken lehne ich mittlerweile an einer Wand. Die „Dresden Dolls“ sind nicht in Sicht.

Wer ist das überhaupt? Wer sind die „Dresden Dolls“? Wie bin ich daran gekommen? Während ich und die paar Hundert anderen noch immer warten, drehe ich an meiner Gedankenuhr. Aufmerksam geworden bin ich, als ich irgendwann nachts kurz vor dem Schlafen gehen auf MTV zappte. Ich glaube, es war eine Sendung mit Markus Kavka. Er kündigte eben diese Band an, mit ihrem neuesten Titel „Coin-operated boy“, und dieser Song haute mich schlichtweg aus den Schuhen. Eine völlig neue Musik, die ich noch nicht einzuschätzen in der Lage war. Noch nie habe ich so schnell eine CD bestellt. Das Lied war keine zwei Sekunden vorbei, da lag das Album schon in meinem Amazon-Warenkorb. Als ich den Button „Bestellung abschicken“ längst geklickt habe, fallen mir noch viele weitere Gründe auf, diese Band zu lieben, bevor ich überhaupt das Album gehört habe. Die „Dresden Dolls“ kommen aus Boston, meiner Favourite-Stadt in den USA, und ein Amazon-Rezensent gibt etwas verschleiert und unklar zu Protokoll, die Dresden Dolls hätten „die Bostoner Club- und Kunstszene-Welt gehörig durcheinander gewürfelt.“

Zwanzig nach neun. Licht aus; der herrliche Moment des Wartens, bevor die Stars die Bühne betreten. Die Stars, das sind in diesem Fall zwei Personen. Ich vergesse längst, wo ich bin, wer da neben mir steht, es gibt nur noch mich und die Musik. Amanda Palmer schnappt sich das Mikro und setzt sich ans Piano, Brian Viglione pflanzt sich vor die Drums. Beide mit kalkweiß geschminkten Gesichtern, Brian oben ohne, aber mit Hut. Sie haut sanft in ihre Tasten und singt „So you don´t want to hear about my good song?“ Mit „Good Day“ beginnt ein 90-minütiger Traum, ein 90-minütiger Ausflug in die 20er Jahre des Kurt Weill, in die abgefahrenste Variante des Punkrock, in die geschminkte Realität, in fantastische Musik, tolle Melodien. Sie ist Pianistin, er Schlagzeuger – und das auch noch gelernt, kommt selten vor im heutigen Musikgeschäft. Sie hat mal in Deutschland studiert, spricht auch ein wenig die Sprache. Die Performance der beiden auf der Bühne, allein die ist schon ein Erlebnis. Geschminkt wie ein Pantomime vollführt Brian Viglione die eine oder andere ulkige, aber sinn machende Verrenkung und spielt mit den Nerven und Empfindungen des Publikums, genauso wie Amanda Palmer das allein mit ihrer Stimme schafft. Stark, abwechslungsreich gibt sie sich. Mal laut brüllend, mal leise hauchend, fast flüsternd, mal ganz brav, mal verrucht, mal glasklar, mal geheimnisvoll bis zum geht-nicht-mehr, ihre Texte sind mal ironisch, witzig, dann wieder ängstlich. Alles an den „Dresden Dolls“ ist Kunst, ob das Booklet der CD oder nur die Website. Geht weg mit Eurem Einheitsbrei, das hier ist ganz anders. Das hier nennt sich Punk und verzichtet ganz auf Saiteninstrumente. Keine Gitarren, kein Bass. Wozu auch? Drums und Pianos reichen, richtig und vernünftig eingesetzt und mit einer Superstimme gepaart, völlig aus. An Halloween, ausgerechnet, haben sich Amanda und Brian in Boston kennengelernt, verriet mir ein Artikel zur Entstehungsgeschichte der Band. Beide einte von Beginn an das Interesse und die Vorliebe für die „Kunst und Kultur der 20er Jahre in Deutschland“, die Bilder von Liebermann, eben die Musik von Weill, das epische Theater von Brecht. „Brechtian Punk Cabaret“ nennen sie ihre Musikrichtung, na wenn das kein Begriff ist, der erst einmal ein sekundenlanges Nachdenken erfordert. Brechtian Punk Cabarat. Wow. Das Dialektische soll sich im Namen widerspiegeln. „Dresden“ als der Inbegriff der Zerstörung im 2. Weltkrieg, „doll“ (heißt übersetzt „Puppe“) als Inbegriff des Zerbrechlichen.
Die „Dresden Dolls“ hangeln sich von Lied zu Lied, von Tempowechsel zu Tempowechsel, von Höhepunkt zu Höhepunkt. Auf „Good day“ folgt das grandiose „Missed me“. Ob „Half jack“ oder eben „Coin-operated boy“, jene fantastische Singleauskopplung – Applaus! Es ist kein Konzert, in dem viel getanzt oder im Rhythmus geklatscht wird. Es ist ruhig, aber nicht langweilig. Aufregend, aber entspannt. „Weimarer Klassik schläft mit Punk“, stand in einer Rezension. So ist das wohl. Musik geht auch ohne viele Instrumente.

Das ist genau das, was ich an diesem Tag noch gebraucht habe. Etwas ganz anderes, etwas neues, dass meinen Alltag ergänzt, ein wenig auf den Kopf stellt. Dass mit meinem Alltagsleben nichts, aber auch gar nichts zu tun hat. Die letzten Zugaben sind nur noch ein Traum. Amanda Palmer interpretiert zunächst die „Seeräuber-Jenny“ aus der Dreigroschenoper. „Und das Schiff hat acht Segel…“ Und dann folgt noch ein Brel-Chanson, den sich auch David Bowie schon ausborgte. „In the port of Amsterdam“. „In the port of Amsterdam / There’s a sailor who drinks / And he drinks and he drinks / And he drinks once again / He’ll drink to the health / Of the whores of Amsterdam / Who’ve given their bodies / To a thousand other men / Yeah, they’ve bargained their virtue / Their goodness all gone / For a few dirty coins / Well he just can’t go on / Throws his nose to the sky / And he aims it up above / And he pisses like I cry / On the unfaithful love“, heißt es in den letzten Zeilen, und bei „And he drinks and he drinks“ werde ich fast schwach. Um mich herum sind alle mittlerweile auf Beck´s umgestiegen, und zum ersten Mal, seitdem ich auf trockenem Fuß lebe, verspüre ich das dringende Verlangen nach einem Pils. Es würde diesen Abend toppen, dieses Erlebnis. Ich bleibe stark und verlasse ohne einen Tropfen Alkohol um Punkt 23 Uhr das „Gebäude 9″, bin aber um einige Erfahrungen reicher. Heute Abend bin ich keinen Schritt umsonst gegangen.“

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