Letzte Ausfahrt Spatzennest

Im Rahmen meines Volontariats durfte ich den Redakteur der WAZ-Stadtteilausgabe Essen-Nord (u. a. mit den bundesweit bekannten Stadtteilen Altenessen, Katernberg, Stoppenberg, Karnap, Vogelheim) vertreten. Ich nahm auch härtere Themen ins Visier – und schrieb zum Beispiel einen Bericht über die Kindernotaufnahme „Spatzennest“ in Altenessen am 13. November 2007.

Im WAZ-Archiv ist dieser Text hier zu finden.

Kindernotaufnahme in Altenessen hat Tag und Nacht geöffnet und bietet 20 Kindern Platz. Die kommen überwiegend aus dem Essener Norden. „Im Süden sind die Mauern dicker”, glaubt Leiterin Martina Heuer.

Altenessen. Beruhigend wirkt der gemalte Delfin, der von der Wand grüßt. Ein kleiner Junge sitzt an einem kleinen Tisch davor und erledigt seine Hausaufgaben. „Fertig”, sagt er, steht auf, geht zu seinem Schrank und präsentiert Poster von Kinofilmen. „Simpsons”, „Ratatouille”, eben die Hits des Spätsommers.

Eine Familien-Idylle!? Nein. Der kleine sechsjährige Junge hat schon viel erlebt. Zu viel. Seit einem Jahr schon verbringt er Tag für Tag im „Spatzennest”, der Kindernotaufnahmedes Kinderschutzbundes an der II. Schichtstraße in Altenessen. Im Erdgeschoss steht Martina Heuer am Herd. Die Leiterin kocht höchstpersönlich. Spagetti stehen heute auf dem Speiseplan. Es ist sehr leise, eigentlich ungewohnt. Warum? Die meisten sind natürlich noch in der Schule. „Wir renovieren gerade”, sagt Heuer und überprüft die Wassertemperatur. Aus einem Büro wird gerade ein Schularbeitenraum.

Viel kann Martina Heuer erzählen.  Es kommen Kinder von Alkoholikern; Kinder, die bei einem schweren Verkehrsunfall Vater und Mutter verloren haben und Kinder, die sexuell misshandelt wurden. „Jedes Mal”, verrät Martina Heuer, „ist es wieder schwer.” Oft werden Kinder von Amt und Polizei gebracht, manchmal klopfen sie auch selbst an. Tag und Nacht. Die meisten kommen aus dem Essener Norden, manchmal auch aus Borbeck oder Kray. Doch eine Tendenz muss das nicht sein. „Im Süden sind die Mauern dicker”, lautet Heuers mutige Behauptung. Sie schmeißt die Spagetti ins heiße Wasser und redet kurz mit dem Zivildienstleistenden. Der braucht ein bisschen Kleingeld für den Bauern, der Obst und Gemüse anliefert. „Wir versorgen uns hier selbst”, sagt Martina Heuer, bezahlt und bittet zu einem kleinen Rundgang.

Sie öffnet eine Tür und präsentiert den Spendenschrank mit Anziehsachen, Handtüchern, Tornistern, Spielzeug. Oft kommen die Kinder nur mit einer Plastiktüte in der Hand. „Leider verwechseln uns die Leute oft mit einem Recyclinghof. Wir müssen viel wegschmeißen”,erzählt Martina Heuer. Vor allem Spielzeug wie Puzzle kann das Spatzennest-Team immer gebrauchen. Manche Kinder seien aggressiv, sagt Heuer auf dem Weg in den kleinen Garten. „Sie gehen teilweise robust miteinander um. Zu Hause wurde ihnen viel abverlangt, manchmal nehmen sie uns Erwachsene als Stellvertreter. Sie spucken und schlagen.” Draußen schlagen nur Hasen. Und zwar Haken. Und sie blicken in die Herbstsonne.

Im Holzschuppen liegen Inliner. Sport ist sehr wichtig. Zwei der Jungen spielen Fußball bei einem Altenessener Verein. Noch sind die Spagetti nicht fertig. Im Obergeschoss befinden sich die Schlafräume der Kinder. „Manche bleiben eine Woche, manche länger.” Martina Heuer öffnet eine Zimmertür. Kontakte zu den Eltern sind durchaus vorhanden. „Die meisten Eltern sind einsichtig und Besuchskontakte deshalb möglich.” Aber nicht alle. Auch Freundschaften sollen bleiben: Wenn möglich besuchen die Kinder weiter ihren Kindergarten und ihre Grundschulklasse – ob in Kupferdreh oder Katernberg. Offiziell 5,2 Personen kümmern sich um den hilfsbedürftigen Nachwuchs – aufgeteilt auf viele halbe Stellen. „Nicht üppig”, sagt Martina Heuer.

Im Delfinraum sitzt der kleine Junge mit den beiden Postern und lacht. „Zu Weihnachten”, erzählt er begeistert, „kriege ich bestimmt einen Nintendo.” Im Erdgeschoss sind die Spagetti fertig. Gleich ist Schulschluss. Die Spatzennest-Kinder kommen nach Hause. Und haben Hunger. Das ist Alltag an einem nicht alltäglichen Ort.

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