Super Bowl 52 in Minneapolis – 6. Tag – 2. Februar

Meistens kommt es ja nicht so wie geplant. Der Freitag sollte eigentlich unter dem Oberbegriff „Entschleunigung“ stehen. Deshalb wollte ich gestern Abend ganz, ganz viel vorarbeiten.

Klappte natürlich nicht.

Der erste Blick auf die Wetter-App.

Der erste Blick auf die Wetter-App am Morgen.

Um 22.30 Uhr hatte ich gestern leider festgestellt, dass mein Akku ziemlich leer ist und meine Finger nicht mehr die richtigen Buchstaben auf der Tastatur finden. Ich bat die App „Sleep Cycle“ deshalb, mich zwischen 6.15 und 6.45 Uhr zu wecken – dann würde ich aber leider am Vormittag eine ganz normale „Innendienst“-Session einlegen müssen. Nur eben nicht in Essen, sondern ein paar Tausend Kilometer weiter im Westen in Minneapolis, Minnesota, in einem Marriott-Hotelzimmer.

Meine Tom-Brady-Geschichte!

Meine Tom-Brady-Geschichte!

An meinen Traum konnte ich mich selbst nicht erinnern, als Sleep Cycle tatsächlich um 6.25 Uhr bemerkte, dass es ein guter Zeitpunkt wäre, mich aus dem Bett zu schmeißen. Ich war sogar sofort und ohne Koffein-Dröhnung wach, twitterte das auch und fing mir von meinem Chef direkt die Hashtag-Retourkutsche „#tweetsdieerspäterbereut“ ein. Die Aufgabenstellung: klar wie kalte Winternächte! Angefordert hatten die Kollegen drei lange und drei kurze Texte. Die Abendblatt-Redaktion aus Hamburg wünschte sich eine Reportage über die Woche von Coach Esume, die Funke-Kollegen in NRW und Berlin eine 4500 Zeichen lange Geschichte über Tom Brady. Dazu kam noch das Interview mit Icke Dommisch für die Online-Redaktionen der Gruppe, die Pro7-Autorisierung war über Nacht gekommen, und jeweils kleine Texte als Beisteller zu den großen Texten.

Meine Super-Bowl-Akkreditierung.

Meine Super-Bowl-Akkreditierung.

Und so wurde der Vormittag der unspektakulärste der USA-Reise – und doch einer der anstrengendsten. Von 6.45 bis 12 Uhr saß ich hochkonzentriert in meinem Hotelzimmer am Schreibtisch, eingewickelt in eine Decke, die Gardinen ließ ich geschlossen (ich würde ohnehin nur auf Schnee schauen), sichtete die Unterlagen, tippte insgesamt 14.700 Zeichen nonstop in über fünf Stunden. Und das ohne Kaffee, ohne Cornflakes, ohne Spiegeleier. Kurz nach zwölf, oder anders: kurz nach 17 Uhr deutscher Zeit, konnte ich an die angeschlossenen Funke-Häuser melden: „FERTIG! Meldet Euch, wenn was ist, ich bin noch eine Stunde online.“

Fans vieler Vereine in der Mall of America.

Fans vieler Vereine in der Mall of America.

Ich sprang schnell unter die Dusche, unterhielt mich 20 Minuten via Skype mit Frau und Tochter (nur noch vier Tage, dann kann ich sie endlich wieder in die Arme schließen!!! Sie fehlen mir so sehr!!!) und bekam dann gegen 12.40 Uhr die Gewissheit: Keiner braucht mehr was, ich kann wirklich den Dienst für heute beenden und meinen ersten freien Nachmittag genießen.

Noch während ich den ersten Moment still feierte, fiel mir ein: Scheiße! So ganz Feierabend machen kann ich doch nicht! Denn meine aktuelle Akkreditierung gilt nur bis einschließlich Samstag. Für den Spieltag und für den Zugang zum Stadion benötige ich zwei weitere Akkreditierungen, die ich heute abholen soll. Okay, dann mal los.

In der Bahn auf dem Weg in die Stadt!

In der Bahn auf dem Weg in die Stadt!

Um 12.41 Uhr öffnete ich endlich die Gardine und sah zum ersten Mal heute Tageslicht – unverändert erblickte ich eine Menge Schnee im Hinterhof des Hotels. Das wird sich so schnell auch nicht ändern. Die Wetter-App hatte um 7.13 Uhr nichts Gutes verraten: minus 20 Grad. Inzwischen hatte es sich auf minus 17 Grad aufgewärmt, aber scheiße kalt ist und bleibt scheiße kalt.

Ich zog Jacke und Handschuhe an, so wie immer, zog mir aber Kapuze und Kragen noch tiefer ins Gesicht als sonst. Ein diesmal unangenehmer Wind – bisher war der ausgeblieben – sorgte dafür, dass aus minus 17 gefühlt minus 25 wurden. Eine solche Kälte habe ich noch nie am Körper gespürt. Nach 300 Metern kam ich in der Mall of America an, wärmte mich zehn Minuten auf und besuchte zum zweiten Mal in dieser Woche das Büro für Akkreditierungen. Und zum zweiten Mal hatte ich Erfolg! Jetzt bin ich im Besitz der entscheidenden Tickets und weiß: Die lassen mich wirklich ins US Bank Stadium am Sonntag! Jawoll! Ich vergaß fast, dass ich um 13 Uhr immer noch nichts gegessen hatte, nahm deshalb schnell zwei Rolltreppen, um auf die zweite Etage zur Fressmeile zu gelangen – und erschrak.

Die ersten Meter auf der „Stone Arch Bridge“.

Die ersten Meter auf der „Stone Arch Bridge“.

Über Nacht hat sich die Anzahl der Super-Bowl-Touristen gefühlt verachtfacht. Es geht nur noch im Gedrängel vorwärts, der Lärmpegel ist angestiegen, die Schlangen vor den Fast-Food-Läden sind lang. Ganz klar, dass sich alles in der „Mall of America“ ballt: Bei dem Schweinewetter will eben keiner raus. Ich schnappte mir ein Big-Bacon-Quarter-irgendwas-Menü bei Burger King, neun Dollar, und setzte mich an einen gerade frei gewordenen Tisch.

Und während ich den Burger-Berg verschlang, blickte ich mich um. Zwei Drittel der Touristen trugen Trikots – aber mindestens die Hälfte nicht von den New England Patriots, den Philadelphia Eagles oder den Minnesota Vikings. Trikots aus Seattle, Pittsburgh, Chicago, New York, Green Bay – einfach von jeder Mannschaft – waren zu sehen. Stellt Euch das vor: Es ist Pokalfinale zwischen dem FC Bayern und dem BVB in Berlin und durch die Stadt laufen wie selbstverständlich auch Köln-, Schalke-, HSV- und 1860-Fans. Der Super Bowl ist wirklich ein achttägiges Festival.

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Als ich gegen 13.45 Uhr aufgegessen hatte, spürte ich erstmals so etwas wie Gelassenheit, Ruhe und Zufriedenheit nach inzwischen knapp sechs Reisetagen. Nach so vielen Stunden auf der Vorspultaste drückte ich zum ersten Mal „Pause“. Alle Ausgaben der Funke Mediengruppe haben in dieser Woche Texte von mir abgedruckt oder digital publiziert. Ich bin bisher selbst mit meiner Leistung einverstanden, da ich mich auch digital so austoben konnte wie nie zuvor – und nun kann ich guten Gewissens am Nachmittag entspannen. Ein Strand wäre jetzt schön.

Wie gestern schon vermutet, geht die Medienarbeit am Freitag und Samstag sowieso etwas zurück. Das liegt daran, dass sich die beteiligten Mannschaften an beiden Tagen nicht mehr in Pressekonferenzen stellen müssen, die Trainingssessions ohnehin tabu sind. Der NFL-Boss und der Künstler der Halftime-Show sind bereits aufgetreten, Medienparty und Opening Night längst gelaufen. Die Radioreporter räumen am Freitagmittag schon ihren Platz im Medienzentrum. Wie ich bei „Facebook live“ entnehmen konnte, waren die Pro7-Jungs an diesem Tag ohne Medienveranstaltung auch nur shoppen – Klamotten, Speisen und Getränke. Die Stimmung hier hat etwas von Aufbruch und Abschied, obwohl es noch 48 Stunden bis zum Kick-off sind.

Brücke: vereist. Mississippi: teilgefroren.

Brücke: vereist. Mississippi: teilgefroren.

Ich entschied mich an diesem Nachmittag für einen Spaziergang in Downtown Minneapolis. Ich wollte es bei minus 17 Grad wagen. Also lief ich einmal quer durch die Mall of America zur Bahn-Haltestelle, kaufte für 4,50 Dollar einen Tagespass (das sind Preise!) und stieg in die blaue Linie. Nach 35 Minuten mit Toten-Hosen-Musik im Ohr verließ ich die Bahn an der Haltestelle „Government Plaza“ und wirklich: Nach 50 Metern froren mir die Beine während des Spaziergangs ein. Diese unglaubliche Nordpol-Kälte werde ich nie in meinem Leben vergessen – die macht diese Reise erst richtig speziell. Oder wie es Coach Esume am Abend bei „Facebook live“ verkündete: „Hier ist es so kalt: Wenn du dich nicht eincremst, platzen dir die Lippen auf, man kriegt miesen Schorf auf der Stirn, der Hodensack wird extrem schrumpelig.“

Vorgenommen hatte ich mir, die historische „Stone Arch Bridge“ zu überqueren, die über den Mississippi führt, Minneapolis Downtown mit Minneapolis Riverside verbindet und tolle Blicke liefern soll. Das Problem: Zwischen der Haltestelle und der Brücke liegen fünf Straßenblocks. Eigentlich keine große Sache – leider aber doch bei den Temperaturen.

Auf der anderen Seite: Riverside. Und Schnee.

Auf der anderen Seite: Riverside. Und Schnee.

Ich hatte die Brücke gerade erreicht, als mein iPhone vor der Kälte kapitulierte. Es sagte mir: Entweder du gibst mir Strom und wärmst mich damit auf – oder ich mache nicht mehr weiter. Ich ärgerte mich, weil ich Euch dann keine Fotos würde zeigen können, bis mir einfiel: Ich habe ja noch das iPad in der Tasche. Doch nach nur zwei Bildern streikte auch das iPad. Auch noch nie erlebt.

Also schaute ich ohne Musik im Ohr und Fotomotive im Kopf allein auf die Wasserfälle „Saint-Anthony-Falls“ und den teilweise zugefrorenen Mississippi. Im Sommer fahren hier die Schaufelraddampfer entlang. Jetzt geht da nix. Ich erinnerte mich an das in der Bahn gelesene: Bei der Eröffnung 1883 war die Brücke für den Eisenbahnbetrieb entstanden – und bis 1978 wurde sie auch so genutzt. Inzwischen ist sie nur noch für Fußgänger und Radfahrer freigegeben und in das Wegenetz der Stadt Minneapolis eingebunden. In der Nacht wird sie schick angestrahlt – aber wenn ich bis dahin warten würde, wäre ich dann ein 1,87 Meter großer Eiszapfen.

Ich bewegte meinen kalten Körper eilig wieder zurück zur Bahn, diesmal zur Haltestelle „US Bank Stadium“, schaute noch ein wenig bei den Aufbauarbeiten zu und fuhr wieder zurück in die Mall of America. Nach 20 Minuten in der Bahn funktionierten dann auch iPhone und iPad wieder; ich erfuhr über WhatsApp, dass der BVB mit 3:2 in Köln gewonnen hat und dass viele Redaktionsmitglieder einen Feier-Abend in Essen-Rüttenscheid veranstalten. Ohne mich, soso.

Um 17 Uhr kehrte ich in die Mall zurück, meine Beine hätten immer noch sofort heiße Gemüter kühlen können. Ich kämpfte mich durch die Menge und setzte mich ins Medienzentrum – um mich aufzuwärmen, um zwei Dosen Pepsi zu trinken, um zu bloggen, um meinen technischen Geräten die gewünschte Ladung Strom anzubieten. Inzwischen ist es so leer wie am ersten Tag.

Nach einem kurzen Abendessen kehrte ich gegen 20 Uhr zurück aufs Zimmer, nach nur knapp über sieben Stunden. Ich schaute amerikanisches Fernsehen, auf dem iPad „Interstellar“. Ich verzichtete darauf, deutsche Kollegen anzuschreiben, um ein Treffen am Abend auszumachen. Oder darauf, mich ins Hotel-Bistro zu setzen wie am ersten Abend. Wieder wickelte ich mich ganz dick in meine Decke ein und genoss am sechsten Abend einfach nur die Ruhe vor dem Super-Bowl-Sturm.

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