11. August 2007 – VfL-Bremen 2:2 – „Atemlos“

„Summer of 07“ lässt sich nicht so gut brüllen wie „Summer of 69“, aber das „Those were the best days of my life“ lässt sich fraglos auf diese Tage übertragen. Am 2. Juli 2007 begann ich mein Volontariat an der Journalistenschule Ruhr – die wichtigste und beste Entscheidung, die ich in meinem Berufsleben getroffen habe. Ich verbrachte in diesem wichtigen Punkt meines Lebens viel, viel Zeit in der großartigen Mülheimer Kneipe „Zum Schrägen Eck“ und erlebte dort legendäre Abende – und lernte nicht zuletzt im Spätsommer 2007 meine Frau kennen.

Natürlich besuchte ich weiter die Spiele des VfL – und eine außergewöhnliche Saison begann am 11. August 2007 mit einem Heimspiel gegen Werder Bremen. Im Rahmen des Volontariats arbeitete ich gerade in Castrop-Rauxel und genau dort schlug der VfL zu dieser Zeit immer das Kurz-Trainingslager vor Heimspielen auf. Ich wollte eine Reportage live aus dem Hotel schreiben – doch der VfL blockte ab. Schade.

Hier geht es zum Blog-Eintrag – die Überschrift lautete „Atemlos“, die Dachzeile: „90 prachtvolle Fußball-Minuten – alle, wirklich alle sind gekommen, selbst Krüger – völlig unverhofft drehen wir einen 0:2-Rückstand – so kann es in allen Belangen weitergehen“

Jeden Tag steigt die gute Laune. Das schlechte Wetter: scheißegal. Im Auto immer nur harte Gitarrenmusik, mit melodischen Klängen, „Always your way“ von My Vitriol, Erinnerungen an die vergangene Saison mit Limp Bizkits „Livin it up“, der kompletten Blink-182-CD. Jaaaa, es geht los! Fußball! Kann es kaum noch erwarten! Sommerpause, die schlimmsten Tage des Jahres, jeder Tag ohne Fußball saugt etwas Lebensfreude aus dem Körper. Jetzt ist es 20.55 Uhr am Samstag, 11. August. Seit fünf Stunden und 25 Minuten rollt der Ball wieder. Die vergangene Saison ist Geschichte, der achte Platz abgehakt. All die Auswärtserlebnisse, die Siege in Hamburg und Frankfurt, zu Hause gegen Schalke: Kommando Schublade. FUSSBALL!!! Und dann dieser Auftakt… aber lest selbst!

Bin ja seit dem 1. Juli im Volontariat an der Journalistenschule Ruhr. Castrop-Rauxel ist meine erste Station. Eine Redaktion voller Fußballfans. Einer ist Hardcore-VfL-Anhänger (okay, nicht ganz so hardcore wie ich, jedenfalls kann er keine 31 Spiele in der vergangenen Saison bieten), wir haben uns schon fürs Pokalfinale verabredet. Der nächste: BVB-Fan, buuuh! Tag für Tag nervten wir die Nicht-Fußballer in der Redaktion mit Diskussionen rund um Wörns, Epalle, Ribery, Bayern, Bochum, Schalke undsoweiter. Ich nervte am meisten: „Hey Jungs! Fußball! Morgen! VfL! Es geht los!“ Atemlose Spannung, immer wieder klickte ich auf die VfL-Homepage, auf die Kicker-Seite. Dauerkarte seit über einem Jahrzehnt – und doch kann ich nicht genug kriegen von dieser Sportart, diesem Nervenkitzel, Grönemeyers „Bochum“. Bin nur ein halber Mensch in der Sommerpause, ein emotionsloser Klumpen, wenn ich mich nicht über eine Niederlage ärgern (das ist der Regelfall) oder über einen triumphalen Sieg freuen kann. In meinen Blog-Einträgen taucht seit Tagen immer das Wort „Fußball“ irgendwo auf. Mit dem VfL hatte ich in der vergangnen Woche auch beruflich zu tun. Telefonierte mehrfach mit der Öffentlichkeitsabteilung, doch diese Episode verschweig ich lieber… Gestern Abend, als ich gegen 17.55 Uhr die Redaktion in der Castrop-Rauxeler Altstadt verließ und über die B 235 Richtung A 40-Auffahrt „Lütgendortmund“ brauste, kam mir der Mannschaftsbus entgegen. Bundesliga 2007/2008. Es ist soweit.

Samstagmorgen, 11 Uhr. Belebe alle Rituale neu. Die Rituale, die ich drei Monate lang (DREI!) zwangsweise in den Kühlschrank verbannen musste. Fein säuberlich hole ich mein Trikot aus dem Schrank. Habe mir vor zwei Wochen das neue mit dem „kik“-Logo bestellt und mit Epalles Namenszug und der Nummer „10“. „kik“ ist unser neuer Hauptsponsor, zugegeben, das ist nicht nur verdammt billig, sondern sieht auch noch so aus. Aber nach drei Jahren wird es nun einmal Zeit für ein neues Shirt in meinem Schrank. Hole das Trikot raus, nehme die Digitalkamera aus der Schublade, lege die Batterien noch für die Zeit bis zur Abfahrt in den Akku. Mein Schal baumelt um meinen Hals, seitdem ich die Dusche verlassen habe. Die Stadionzeitung kam schon gestern, ich platziere sie zärtlich auf dem Trikot, damit ich an sie denke. Noch kurz den Videotext checken, welche Spiele sonst noch heute sind… aha, Bayern gegen Rostock, was für ein Geschenk der DFL. Pah! Das Brimborium rund um das Eröffnungsspiel zwischen Stuttgart und Schalke war auch mehr als peinlich, mit Nationalhymne, dem Satz „Ich erkläre die Saison für eröffnet“ – den der DFL- und BVB-Präsident Rauball sprechen durfte. Eine eigentlich unzumutbare Aufblähung und Glorifizierung! Egal! Ich ziehe das Trikot an, schlüpfe in die Schuhe, und ja, da ist es wieder, dieses Gefühl, ich würde auch in der Bochumer Umkleidekabine sitzen. Was wird Koller wohl sagen? Immerhin kommt heute Werder Bremen! Vor einem Jahr kam Grönemeyer, sang „Bochum“, brüllte mit uns die Aufstellung und wir verloren vor ausverkauftem Haus glorreich mit 0:6. Ein unvergessliches Erlebnis. Gegen keinen anderen Verein ist unsere Bilanz so mies. Aber wenn wir die Bremer schlagen, dann heute! Na klar ist das auch typisch Bochumer Zweckoptimismus, aber unsere Vorbereitung war sehr gut und die der Bremer sehr schlecht. Zudem fehlen Werder gefühlt 20 Spieler. Da geht doch was! Da geht doch was! Da geht doch was! Treffe bei „icq“ eine Studienfreundin. Ich erzähle nur vom VfL und der Bundesliga. In meinem Kopf gibt es nichts anderes mehr. Wie an jedem Spieltag: Aufstehen, Gehirn raus, Fußball rein, Ende.

Verabschiede mich bei „icq“ mit den Worten „Ich fahre jetzt los. Hier halte ich es sowieso nicht mehr aus.“ Da ist es 13.20 Uhr, und eigentlich noch um Längen zu früh. Macht nix. Hab die richtige CD gestern schon zurechtgelegt, als ich nachts aus dem „Schrägen Eck“ heimkehrte. Mit „Bochum“ eröffne ich die Saison 2007/2008. Auto anlassen, „Tief im Westeeeeeen“, abbiegen auf die Mülheimer Aktienstraße, „wo die Sonne verstaaaaaaauuuubbt“, in Winkhausen auf die A 40, „Bochum ich komm aus dir, Bochum ich häng an dir“, die Autobahn ist leer, „auf deiner Königsallee finden keine Modenschaun statt“, Abfahrt Bochum-Ruhrstadion, „machst mit nem Doppelpass jeeeeeeeeeden Gegner nass, Du und Dein V-F-L“. Parkhaus, dritte Etage, der Anpfiff rückt näher. Nichts ist weg vom Zauber der Liga, vom Zauber der Sportart, nichts kann mir diesen Tag versauen. Alle haben sich angesagt, von Sam über Gerd bis zu… ach jedem eigentlich. Auch mein Arbeitskollege Timo und dessen Freundin Silke aus Bayern kommen erstmals ins Ruhrstadion. Was für ein Tag! Die Regenwolken pausieren, die Sonne scheint, ideales Fußballwetter. IDEAL!

Ich lasse die Dauerkarte abknipsen – und bin endlich wieder zu Hause. Der erste Gang: zum Bratwurststand. Der zweite: Richtung Block P. Treppenstufe für Treppenstufe hinauf, die Sonne blendet schon etwas, nur noch wenige Schritte, wenige Höhenmeiter, und: WELT, DA BIN ICH! Gerd steht schon auf unserem Stammplatz, noch 60 Minuten bis zum Anpfiff, und er ist sehr nüchtern. Konzentriert liest er das Blättchen der Ultras, das ultrische Wort zum Saisonauftakt. Werfe auch einen Blick hinein, studiere die Zeilen zum 1:0-Pokalerfolg in Dresden. Das „ACAB – All Colours are beautiful – Bochum-Fans gegen Rassismus“-Plakat wurde von der Dresdner Polizei verboten, was die Ultras mit dem Satz „Daumen hoch für die Staatsmacht!“ kommentieren. Erwähnenswert weiterhin: „Eigentlich schon lächerlich wenige Bochumer vor Ort, was zurecht von Dresdner Seite mit ,Warum seid ihr Huren so wenig‘ quittiert wurde.“ Aha. Kritik üben die Ultras am VfL4Fun-Stadionfest vor und nach dem Spiel gegen Galatasaray Istanbul – und das gar nicht einmal falsch. „Merkwürdig, dass man zwischen Playstationtruck, Playmobilstand, Wii-Arena und dem Harry-Sandwich-Kletterturm kaum noch den eigentlichen Sinn von VfL4Fun wiederfand, nämlich die Präsentation einheimischer Sportvereine. So fand eigentlich nur eine völlig austauschbare Werbeveranstaltung statt, die mit Bochum soviel zu tun hatte wie Wattenscheid mit Bundesliga.“ Der Anpfiff ist nicht nicht ertönt und schon diskutieren wir wieder über Fans, Fanklubs, Vereinsstruktur, ich berichte von meinen Telefonaten mit der Öffentlichkeitsabteilung. Selbst Krüger kommt (erfahrene Leser dieser Seite wissen Bescheid), Timo und Silke finden mich ruck, zuck – und ich freue mich, den Beiden die komplette Geschichte von Verein und Stadion erzählen darf. Die Spieler laufen sich warm, das Stadion ist fast ausverkauft, bei uns spielen drei Neue. Lastuvka im Tor, Concha rechts in der Viererkette und Sestak im Sturm. Werder ist zwar ersatzgeschwächt, hat aber trotzdem eine ganz manierliche Startmannschaft, zum Beispiel mit Naldo, Mertesacker, Fritz, Rosenberg, Sanogo und vor allem: Diego. Sam und seine Frau Nicole tanzen kurz vor dem Anpfiff an, ebenso der Fanklub aus Herne. Oléééééééééé, es ist angerichtet! Grönemeyers „Bochum“ kommt besser als je zuvor, selbst Timo lässt sich ein „Beeindruckend“ abringen, dabei ist er eigentlich Fan der SpVgg Erkenschwick!

15.30 Uhr, Anpfiff, Blick zum Himmel, einmal kurz DANKE sagen, zu wem auch immer, High-Five mit Gerd und Sam, viel Glück für die nächsten 34 Spiele wünschen. Und unsere Jungs legen mit einem unglaublichen Affenzahn los. Das ist nicht mehr Pressing, das ist Forechecking, wir greifen die Bremer fast an ihrem eigenen Strafraum an. Epalle schießt knapp vorbei, Grote flankt auf die Latte, dazu noch zwei Ecken, die Stimmung ist gut, sehr gut bis überragend gut. „Auf geht’s Bochum schießt ein Toooooooor, schiiiiiiiießt ein Tor für uuuuuuuuns.“ Diese Mannschaft begeistert, diese Mannschaft kämpft, ist engagiert, ehrgeizig, klasse. „Zum ersten Mal glaube ich“, sagt Gerd, „dass Koller seine Idee von Fußball umgesetzt hat.“ Doch wie die Schachfiguren auf dem grünen Rechteckbrett verteilt sind, überrascht doch ein wenig: Torwart (Lastuvka), Viererkette (Concha, Yahia, Maltritz, Meichelbeck) und die beiden Abräumer im defensiven Mittelfeld (Zdebel, Dabrowski), auch Grote spielt seinen üblichen Part links im Mittelfeld. Aber wie sind Epalle, Sestak und Bechmann verteilt. Sestak spielt den Grote-Part auf der rechten Seite – Bechmann und Epalle teilen sich die Stelle in und hinter der Spitze. Das Ganze mit vielen Rotationen, sehr schnell, sehr kampfstark. Bravo! So schwach und vor allem behäbig wie heute habe ich die Bremer lange nicht gesehen, sie sind weder spielfreudig noch besonders motiviert. Ein, zwei Ecken, dazu noch wenig inspirierte Torschüsse – mehr bekommt Werder nicht auf die Reihe. Ab der 25. Minute verflacht’s ein wenig, wir verlangsamen das Spiel. Zdebel sieht obligatorisch seine erste Gelbe Karte der Saison, worauf wir einen Tipp wagen. Sam und ich tippen auf 12, Gerd auf 15. Eins habe ich Timo schon beigebracht: „Ich dachte, dass der Zdebel immer den Ball spielt…“ Haha. Es läuft auf eine torlose Halbzeit hinaus, bis, ja bis Meichelbeck den Ball auf der linken Seite zu kurz auf Lastuvka zurückspielt. Sanogo sprintet dazwischen, fällt, Elfmeter. Der hat den doch NIIIIEMALS berührt. DAS GIBT’S DOCH NICHT! So gut gespielt, so toll angefangen, und dann DAS! Diego verwandelt zum 0:1, es läuft wie immer gegen Bremen. Wieder werden wir verlieren. Kurz vor der Pause: Ein Freistoß für Bremen von links, Diego flankt, Sanogo gewinnt das Kopfballduell gegen Yahia, Lastuvka springt ins Leere, 0:2, jawoll. „Das ist unser Todesstoß“, sagt Sam. „Sind wir halt Letzter. Rollen wir eben das Feld von hinten auf.“ Und noch was: „Nach 30 Minuten dachte ich noch: Ein 0:6 wird es wohl diesmal nicht. Aber die zweite Halbzeit dauert sehr lange 45 Minuten…“ Es schmerzt aber nur ein bisschen, denn dieser Auftritt unserer Mannschaft macht Mut. Mutig, aber einfach nur dumm präsentiert sich Bremens Torwart Tim Wiese auf dem Weg in die Kabine. Schon während der ersten Hälfte ließ er nichts unversucht, uns VfL-Fans zu provozieren – beim Gang in die Kabine legt er sich mit Maltritz an. Beide müssen zurückgehalten werden.

Zweite Halbzeit, aufmunternder Applaus, aber so richtig glaubt niemand mehr an die Mission Impossible. Anpfiff, auf einmal Sestak frei: Schuss, abgeblockt, Nachschuss, TOOOOOOOOOORRRRR!!! BIERDUSCHE!!! KLASSISCHE BIERDUSCHE!!! Nass von oben bis unten! TOOOOOR!!! EINS ZU ZWEI!!! Jetzt noch! Bremen ist geschockt! Wir legen nach! Dabrowski gewinnt einen Zweikampf gegen Naldo an der rechten Eckfahne, eine Klasseflanke, Bechmann ist frei, der Bechmann, der Bechmann, bleib ruhig Junge, bleibt ruhig, Tunnel, Beini, Tunnel, Beini, Beini, Beini, TOOOOOOOOOOOOOORRRR!!! GEDREHT!!! GEDREHT!!! 2:2! IN WORTEN: ZWEIZWEI! Tolles Spiel, hin und her, 0:2-Rückstand gegen Werder gedreht, jetzt gewinnen wir noch! 41 Minuten verbleiben. Beide Mannschaften spielen auf Sieg, beide erarbeiten sich noch viele Standards und einige Chancen. Die besseren hat Werder, doch dreimal rettet Lastuvka in höchster Not, zuletzt in der 92. Minute gegen Schindler und Mertesacker. Klasse! Schiri Kircher pfeift, Ende 2:2, guter Anfang. Da sind sich alle einig. Die Mannschaft muss geschlossen zur „La Ola“ antreten, zum „So geeehn die Bochumer“ tanzen. So kann es noch 33 Spiele weitergehen.

Der erste Spieltag ist vorbei. Das Bauchkribbeln ist weg, die Nervosität besiegt, der erste von 40 Punkten eingefahren, kann wieder atmen. Timo, Silke und ich trinken noch eine Cola in der Fankneipe im Stadioncenter, schauen uns die Pressekonferenz mit den Traineranalysen an. Fans beider Mannschaften trinken friedlich nebeneinander, Tenor: gerechtes Ergebnis. Ich spaziere gemächlich zurück zum Parkhaus, genieße die vielen Bilder, die vielen Momente, die ich schon so oft gesehen habe. Im Parkhaus stehen die Autos, es macht mir nix.

Tief im Westen, wo die Sonne verstaubt… läuft die Bundesliga wieder. Endlich.

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