17. September 2004. 12. Urlaubstag. Philadelphia.

Meinen Sommerurlaub 2004 verbrachte ich mit dem Rucksack auf dem Rücken an der US-Ostküste– in Boston, New York, Philadelphia, Washington. Nicht mein erster Rucksack-Urlaub, aber der erste ganz allein. Während dieser dreiwöchigen Reise führte ich zum ersten Mal ein Online-Tagebuch, das ich von meinem Bruder direkt auf meiner Homepage veröffentlichen ließ. Einige dieser Einträge habe ich “digitally remastered” und veröffentliche sie nun neu.

Dieser hier trug auf meiner “ersten” Homepage die Überschrift “Independence day” und stammt von meinem zwölften Urlaubstag, den ich im touristischen Zentrum Philadelphias verbrachte. Ich übernachtete in einem sehr guten Hotel namens „Comfort Inn“ am Highway – Luxus im Vergleich zu meinem schmierigen Hostel in New York.

Jetzt endlich rein in den Text vom 17. September 2004:

Jede Stunde rast an mir vorbei wie ein ICE mit Tempo 200. In einer Sekunde. Es ist mein erster Tag in Philly und gleich schon mein vorletzter. Es ist mein Gammeltag mit vorgeplantem Filmabend auf dem Zimmer – und ein Tag mit den bedeutendsten amerikanischen Sehenswuerdigkeiten, die es gibt. Heute ist Independence Day.

Das sind also die Zwickmuehlen des Luxus. Unter der Decke ist es so waaaaarm, waehrend der Wind an meiner Fensterscheibe abprallt und so eine herbstliche Kaeltestimmung ausbreitet. Ich recke alles weit von mir, was sechs Naechte lang eingepfercht war. Ich will heute nicht raus in die US-Welt, will liegenbleiben bis mindestens 9.45 Uhr, wie in New York. Aber es lockt ein Fruehstueck. Ein Fruehstuecksbuffet. Das aber nur bis 10 Uhr. Was tun? Um 9.15 Uhr quaele ich mich hoechst widerwillig aus den Federn, suche ein Fernrohr, um die andere Seite des Zimmers zu sehen, und starte den Marathon Richtung Badezimmer. Schnell geduscht, ab zum Fruehstueck. Drei Glaeser O-Saft, zwei Muffins Schoko, ein Croissant und eine grosse Schuessel mit undefinierbar farbigen Cornflakes-Kringeln schlinge ich runter. Hmjamjamjam… Das bringt’s.

Wieder auf dem Zimmer ziehe ich mich um, mein langaermliges Rock-am-Ring-2001-Shirt an (nach ausgiebiger Analyse des Wetterberichts) und nehme mir den „Historic Independence Park“ vor. Gestern lief ich schon dran vorbei, ist nicht weit. Der Wetterkanal deprimiert mich. Bei der 7-Tages-Vorhersage ist ab sofort mein Abreisetag zu sehen. Nun aber los.

Ich spaziere durch die Altstadt (Old Town), und stelle fest, dass Phillys Stadtgeschichte doch recht einfach ist. Jeder braucht sich nur zwei Namen und zwei Daten zu merken: Benjamin Franklin, William Penn, 1776, 1787. Franklin und Penn begegnen jedem – ob Touri oder Einwohner – fast ueberall. Penn gruendete die Stadt und den Staat Pennsylvania, irgendwann im 17. Jahrhundert; und Franklin, Dichter, Politiker und Erfinder, war der bekannteste Einwohner, 100 Jahre spaeter. Ob Statuen, Schilder, Strassennamen – diese beiden sind omnipraesent. Die Daten, sagt mir der Baedeker, den ich unterwegs beim Gehen lese, markieren die Unterzeichnung der Unabhaengigkeitserklaerung (1776) und der Verfassung (1787). Und darum gehts in dem Park. Na das wird ja ein vor Patriotismus triefender Tag.

Zunaechst erblicke ich eine grosse Rasenflaeche, die „Independence Mall“. Zwei, drei Fussballfelder gross, wuerde ich schaetzen. Darauf stehen zwei Haeuser, das „Visitor Center“ (klar) und das „Liberty Bell Center“. Eintritt frei. Ich durchlaufe die unzaehligste Kontrolle des Urlaubs (und wundere mich, dass die Amis das mitmachen, immerhin wird ihnen ueberall im eigenen Land erhebliches Misstrauen entgegengebracht) und stehe in einem eiligst zusammengeschusterten Museum.

Viele Besucher sind fein gekleidet, ist halt ein national heiliger Ort. Die beiden einzigen Multimedia-Angebote sind „out of order“, an der Wand haengen Bilder von beruehmten Personen neben der Unabhaengigkeitsglocke (Martin Luther King, Mandela, Dalai Lama) – und jetzt komme ich! Hurra! Erstmals schlug die Glocke am Tag der Unabhaengigkeitserklaerung, deshalb soll sie – steht daneben – das „Symbol der Welt fuer die Freiheit“ sein. Hae, das war doch schon die Freiheitsstatue!?! Ja was denn nun? Etwas befremdet nehme ich auf der „Mall“ Platz, entspanne, wandere zu Benjamin Franklins Grab um die Ecke. Auch das regt nicht sehr zum traurigen Nachdenken an, denn zehn (!) Meter hinter dem Grab ist ein Geschenkeshop (!!). Dann fuehrt mich mein Weg zur beruehmten „Independence Hall“, dem wohl noch weitgehend original erhaltenen Raum, in dem alles Wichtige unterschrieben wurde. Im „Visitor Center“ erfahre ich, dass auch die „Hall“ fuer lau ist (Hut ab!), man aber doch ein Ticket braucht und durch die Securitykontrolle der Glocke muss. Na suuuuper. Es ist 12.20 Uhr, und mein Einlassticket gilt erst fuer 13.45 Uhr. Eigentlich habe ich Leerlauf. Klassischen Leerlauf. Doch die Zeit rast. Dabei mache ich nichts ausser Rumsitzen. Ich gehe eine Viertelstunde zu frueh zum Treffpunkt vor der „Hall“. Und treffe ein Paerchen aus Oregon an der Westkueste. „You have an accent. Where are you from?“. Oh, sie haben es nicht gleich erkannt. Sie sind auch das erste Mal an der Ostkueste und stellen fest, dass sie fast dieselbe Anreiseentfernung haben wie ich. Haha. Dann beginnt die Fuehrung. Durch zwei Raeume. Einer davon ist DER Raum, erhalten sind unter anderem der Originalstuhl von George Washington (dessen Statue hier auch ueberall rumsteht). Alle knipsen wie verrueckt. Ich will nur ein Pflichtfoto.

Heute vor genau 217 Jahren wurde die Verfassung unterzeichnet, sagt der Erzaehlmensch. Oh nein, das ist auch noch ein besonderer Tag. In der Beilagebroschuere stehen Vorschlaege fuer eine Halbtagstour durch den Park, sogar fuer eine 1- oder 2-Tages-Tour. Keine Ahnung, wie das gehen soll. Mir reichen 45-Netto-Minuten, und ein Spaziergang danach an ein paar anderen netten Haeuslein im georgianischen Stil vorbei. Nur die Warterei und die Kontrollen sind verantwortlich dafuer, dass ich erst gegen 15 Uhr zur relaxten Mittagspause im Comfort Inn eintreffe. Bin schon wieder ueber einen Tag hier. Unbelievable. Unglaublich.

Im Hotel blaettere ich im Stadtplan von Philly. Ich bin im aeussersten Westen der Innenstadt, die vom Delavare River (Westen) und dem Schuykill River (Osten) begrenzt wird. Mein Stadtteil heisst wirklich „Old Town“, koennte aber auch „Touri Town“ heissen. Alle wichtigen grossen Hotels stehen hier; die Infrastruktur ist dementsprechend. Am Fluss liegt die „Waterfront“ mit dem Hafen, der laut Baedeker 100.000 Menschen Arbeit bietet. Philly hat einen eigenen TV-Promokanal. Ich schalte ihn ein. Eine einigermassen huebsche Moderatorin preist Philly als interessante, vielfaeltige Stadt, die alles zu bieten hat. Einen bedeutenden historischen Kern, um den sich die Stadt entwickelte, eine grosse Uni- und Kulturszene, hochklassigen Sport in allen Variationen und eine grosse Shoppingmeile. Ich bekomme nur die Stadtgeschichte und den Tourismus mit. Und zum Teil die einzige, dafuer aber wirklich lebhafte Hauptstrasse Market Street. Die „University City“ (heisst wirklich so) ist am anderen Ende der Stadt, die wichtigsten Arenen (sollen in einem Riesenpark liegen) fuer Football (Eagles), Baseball (Phillies), Basketball (76ers) und Eishockey (Flyers) sind ebenfalls am anderen Ende. Die Phillys bleiben in ihren Vororten wohl eher unter sich, was einen Vor- und einen Nachteil hat. Der Nachteil, klar, ist, dass ich zwar was ueber die Stadt erzaehlen kann, aber kaum ueber das richtige Leben hier (schade, Philly waere in Deutschland immerhin die zweitgroesste Stadt). Der Vorteil ist, dass Philly fuer Neu-Touri-Amerikaner die ideale Einstiegsstadt ist, wie sie fuer mich Boston erst am dritten Tag war. Weil’s eben von allem nur ein bisschen gibt. Sie uebertrifft Boston also in diesem Punkt. Aber nur in diesem. Die Cheers-Town bleibt bisher – muss ich zugeben – auf meiner Spitzenposition. Ich bin schon laenger hier, und mir faellt die Umstellung von der vollen, lauten, WIRKLICHEN Weltstadt New York auf Philly immer noch schwer. Langweilig ist mir aber nicht – warum? Zaehlt drei und drei zusammen: Aufgrund des Hotels und weil die Zeit so verfliegt.

Zwischen 16.25 Uhr und 20 Uhr latsche ich ein zweites Mal fuer heute ueber die Market Street, suche ein Internet-Cafe. Wieder vergeblich. Im Mittelpunkt der Center City (so heisst das hier) ist das Rathaus (die „City Hall“), mit einer (natuerlich) Penn-Statue auf der Turmspitze. Lange Zeit, sagt der Baedeker, durfte kein Haus hoeher sein als diese Turmspitze. Daher mutet die Philly-Skyline eher bescheiden an. Ich finde wieder nur Kinko’s, beeile mich mit dem teuren Eintippen, laufe ein wenig durch das am Center-City-Rand liegende Chinatown, verdruecke aber nicht dort, sondern in derselben Lokalitaet wie gestern ein Philly Cheesesteak. Am Fenster beobachte ich vorbeiziehende Touris.

Die Nachtluft ist warm, ein wenig stickig sogar. Um 20 Uhr biege ich auf den Boulevard ein, ziehe mir am Automaten eine Pepsi. Heute habe ich viel gelernt. Ueber die USA, die Einwohner, die Geschichte – und Philly. Meine anfaengliche Euphorie hat sich ein wenig relativiert. Das wahre Leben der Phillys spielt sich einfach nicht hier ab, nicht in Old Town. Schlecht finde ich die Stadt nicht, keineswegs, aber irgendwie fordert sie das Durchreisen heraus. Der „Historic Park“ liegt verdaechtig nah am Highway (der Autobahn), der ueber die Franklin Bridge (wie koennte sie auch sonst heissen?) fuehrt. Rausfahren, zwei Stunden lebhafte Geschichte, und weiter. Nach New York, vermutlich. Oder Washington.

Fuer mich war der Tag preiswert. Erstmals seit Boston musste ich kein Geld abheben. Hochkonzentriert bin ich immer noch jede Sekunde. Allein fuer sich verantwortlich zu sein in einem ganz fremden Land schlaucht. Im TV nervt die viele Werbung alle zehn Minuten, dafuer kommen parallel meine Lieblingsserien („Seinfeld“, „Cheers“), zwei Filme („Austin Powers 1″,“Kevin allein in New York“), Wahlkampfsendungen (im persoenlichen Vergleich, beurteilt nach Kompetenz, Fuehrungskraft usw., liegt Bush gegen Kerry mit 57:33 vorn; haben die keine Ahnung, oder was?) und ein Baseballspiel (New York Yankees gegen Boston Red Sox 2:3). Ich freue mich, einige Orte in den Sendungen wiederzuerkennen, aergere mich aber, dass jetzt die New Yorker Baseballteams anscheinend jeden Tag ein Heimspiel austragen.Der Wind peitscht auch um 1 Uhr noch gegen das Fenster. Tag 12? Rum. And time flies. Ich kann sie nicht stoppen, sie drueckt und drueckt mich unaufhoerlich gegen das „Ausgang“-Schild meines Trips. Nur noch sechs Nettotage.

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