Trainer mit Revolverschnauze

In der Saison 2003/2004 war Trainer Mohamed Ali Abdelhafid vom damaligen Bezirksligisten Vatan Spor Mülheim mein Ansprechpartner Nummer eins. Er übernahm bei einem Verein, der ernsthaft über ein Insolvenzverfahren nachdachte und monatelang keinen Spieler mehr bezahlt hatte, eine mit zwei, drei Routiniers (die ihre beste Zeit hinter sich hatten) verstärkte U20. Doch er führte seine Mannschaft mit sehr ausführlichen (bis zu zweieinhalb Stunden!) und harten Trainingseinheiten (bis zu sechs pro Woche – in der siebten Klasse) zum Aufstieg – mit am Ende 19 Punkten Vorsprung. Der Fußball, den er in der Bezirksliga spielen ließ, war für Amateurverhältnisse zu dieser Zeit revolutionär, leider bei einem Skandalklub wie Vatan, der drei Jahre zuvor einen der berühmtesten Spielabbrüche verursacht hatte und skeptisch beäugt wurde. Auf den Fußball achtete niemand. Pech für Abdelhafid.

Durch den charismatischen Trainer mit den mehr als ungewöhnlichen Methoden im Umgang mit der Mannschaft und an der Seitenlinie (siehe Text)  lernte ich Begriffe/Systeme wie „Pressing nach außen“, „Viererkette“ (mit Raumdeckung, damals noch mehr als unüblich im Manndecker-Deutschland), „doppeln“, „Chancen kreieren“, „Dominanz/Ballbesitz“, „One-Touch-Fußball“, „hoch stehen“, „alle müssen mitarbeiten“, „Torwart muss mitspielen können“, „Konditionsstärke und Schnelligkeit aller Spieler sind wahnsinnig wichtig“, „einstudierte Spielzüge“, „alle Spieler sollten für mehrere Positionen ausgebildet werden“ etc. erst richtig auch in der Praxis kennen – vor Klopp, Tuchel und van Gaal. Legendär sind Geschichten, dass Abdelhafid Gastspieler einfach nur im 100-Meter-Lauf testete. Waren sie nicht schnell genug, mussten sie wieder gehen. Nach 13 bis 15 Sekunden…

Auch die Regeln im Umgang mit der Mannschaft waren genauso neu wie umstritten: 1. Wer eine Trainingseinheit verpasst, spielt nicht von Beginn an (ob junger, alter, billiger, teurer, kranker, verletzter Spieler), 2. Wer zu spät zum Treffpunkt erscheint, ebenfalls nicht (wieder egal, welcher Spieler es ist). Deshalb war jede Startelf eine große Überraschung! 3. Nach einer unnötigen Roten Karte wird die Sperre verdoppelt (z. B.: aus vier Wochen offizieller Sperre werden acht Wochen – vier plus vier interne Wochen). Deshalb geriet Abdelhafid oft mit dem Vorstand aneinander und scheiterte nach dem Aufstieg, weil er teure Stars (z. B. einen Zugang aus der zweiten türkischen Liga) häufig auf die Bank setzte und sich mit ihnen auch im Training anlegte.

Ich beobachtete selbst häufig das Vatan-Training und sah selbst die Unterschiede… Der übliche Ablauf einer 80- bis 90-minütigen Trainingseinheit in den meisten anderen Amateurvereinen (heute ist das übrigens auch nicht wirklich anders) war damals (und das beobachtete ich sehr, sehr oft bzw. machte es selbst mit): 1. 10 bis 20 Minuten „Ecke“ (inklusive Torhüter – bis alle Spieler eingetroffen sind), 2. fünf Minuten Besprechung des letzten oder nächsten Spiels auf dem Platz, 3. zwei bis fünf Runden ohne Ball um den Platz (oder durch den Wald) laufen (der Trainer baut in der Zeit die Fahnen auf), 4. fünf Minuten Streching (jeder für sich, also ohne Sinn und Verstand), 5. 2 bis 20 Minuten Sprintübungen (Dauer des Aufwärmprogramms variiert je nach Spielergebnis zuvor – die Torhüter absolvieren in dieser Zeit Torwarttraining), 6. zehn Minuten Schusstraining (dafür werden die Fahnen benötigt, damit die Trainingseinheit von außen kompliziert und kompetent aussieht, doch Spielsituationen werden nur selten simuliert), 7. 30 bis 60 Minuten Spielchen (je nach Dauer des Aufwärmprogramms, auf jeden Fall ohne erklärende Unterbrechungen und je nach Größe der Trainingsgruppe auf kleine oder große Tore) und 8. kurz vor Trainingsende fünf bis zehn Minuten Standards (Nach dem Motto: Wenn die Presse danach fragt, kann man’s erwähnen).

Und bei Vatan? Nicht nur, dass Abdelhafid Formationen laufen ließ, um das System einzuüben. Keine „Ecke“ (nie!), längere Besprechung des Spiels vor dem Training (meist mit Tafel), Aufwärm- und Stretchingprogramm oft mit neuen Übungen (die der Trainer leitet, erklärt und mitmacht) – und fast alle mit Ball. Fahnen (wenn nötig) stehen schon bei Trainingsbeginn! Dazu: selten klassisches Schusstraining, dafür oft ermüdendes Einstudieren von Spielsituationen (oft auch als Reaktion auf die Fehler im Spiel zuvor), viele Unterbrechungen im Trainingsspiel, um taktische Feinheiten in der Praxis zu erklären und zum Schluss: entweder Standards ausführlich üben oder gar nicht.

Abdelhafid setzte auf eine Viererkette, eine Doppel-Sechs und zwei offensive Außen schon in seiner ersten Amtszeit bei Vatan ab 1999. Mit allen Schikanen (siehe oben) wie zum Beispiel Pressing nach außen. Vatan stand ungemein hoch, setzte auf Torhüter, die besser mitspielen als halten konnten (beides gibt es nicht in der Bezirksliga), schaffte oft One-Touch-Kombinationen (stundenlang im Training geübt). Und die variablen Standardsituationen erst – ob kurz oder lang ausgeführt, an den kurzen oder langen Pfosten geschlagen, von verschiedenen Schützen (nicht einfach nur solche, die mit gehobenem Arm signalisieren, wohin der Ball wohl fliegt). Beim Freistoß standen sowohl Rechts- als auch ein Linksfuß am Ball. Wie erwähnt: für Bezirksliga-Verhältnisse der Hammer! Leider bekam Abdelhafid nie eine Chance in einer höheren Klasse als der sechsten. Wegen des Aufstiegs war er immerhin in der WAZ/NRZ Mülheim der „Star der Woche“.

Am 12. Mai 2004 schrieb ich folgenden Text:

Eigentlich wollte sich Mohamed Ali Abdelhafid bei der Aufstiegsfeier des Fußball-Bezirksligisten Vatan Spor in Ruhe am Rand aufhalten. Doch das klappte nicht. Die Spieler zerrten ihn in die Jubeltraube und ließen ihn hochleben.

Dass Vatan mit 14 Punkten ganz oben steht, und den Aufstieg in die Landesliga seit zwei Wochen in der Tasche hat, ist vor allem sein Verdienst. Daher ist Mohamed Ali Abdelhafid diesmal „Star der Woche“. Der charismatische Trainer wird bei Vatan geliebt. Bei den anderen Klubs ist er aber umstritten. Wer ist dieser Mann, der an der Linie immer im Trainingsanzug brüllt und mitleidet wie kaum ein anderer?

Er stammt aus dem südtunesischen Zarzis und stieg mit seinem Heimatklub Esperance als Torwart von der dritten bis in die erste Liga auf. Mit seinen Leistungen kam er in den Nationalkader. 1992 kam er nach Deutschland – der Liebe wegen. Mit seiner Frau Sandra hat er inzwischen drei Kinder. Er erlernte den Beruf des EDV-Technikers. Seine Liebe gehört aber auch dem Fußball. Pausenlos könnte der 41-Jährige über das Spiel mit dem runden Leder philosophieren.

Abdelhafid ist ein intelligenter, vielschichtiger Fachmann. Er kann fünf Sprachen, alle autodidakt erlernt. Er ist unbeirrbar und grenzenlos selbstbewusst. Er kann emotional und arrogant wirken, aber auch überlegt und dabei sehr freundlich. Als er nach Mülheim zog, fing er als Torwart beim VfB Speldorf an, und stieg mit den Grün-Weißen in die Verbandsliga auf. Dass er Trainer werden wollte, war ihm immer klar. Er erwarb nacheinander die C-, B- und A-Lizenz, und wartete auf eine Chance. „Ich habe keinen großen Namen in Deutschland. Daher kam nichts“, blickt er zurück.

1999 erhielt er seine Gelegenheit bei Vatan. Zum ersten Mal setzte er seine ehrgeizigen Ziele um: In der Vorbereitung jeden Tag Training, mit vielen Theoriestunden. Er schwört auf das 4-4-2-System, mit kraftraubendem Pressing und präzisen taktischen Vorgaben. „Einfach nur zweimal trainieren, mit ein bisschen Lauf- und Schusstraining, das kann ich nicht. Wenn ich an der Seitenlinie stehe, will ich von meiner Mannschaft einen schönen, anspruchsvollen Fußball sehen“, lautet seine Meinung. Beispielhaft für seinen Ehrgeiz ist, dass er sich nach der Verletzung des Stammkeepers Tanriver selbst ins Tor stellte, um den Aufstieg nicht zu gefährden. Er war überzeugt davon, die Aufgabe zu lösen. Das Resultat: zwei Gegentore in vier Spielen.

Hart sind seine Regeln: Wer beim Training fehlt, spielt nicht. Er behandelt alle gleich, A-Jugendliche genauso wie teure Stars. Mitreden lässt er niemanden, dessen Fachwissen ihn nicht überzeugt – das ist schwierig für den Vorstand. Und doch sieht er seine Rolle als Teil des Systems: „Ich bin stolz auf meine Mannschaft. Sie hat super gespielt.“

Während der Saison machte Abdelhafid mit Sticheleien gegen den größten Konkurrenten MSV 07 auf sich aufmerksam. Das brachte ihm den Spitznamen „Revolverschnauze“ ein. „Ich bin kein böser Mensch und habe niemanden persönlich beleidigt“, sagt er. „Das gehört doch dazu.“ Hätte Vatan den Aufstieg verfehlt, wäre er zurückgetreten. Konsequenz ist auch eine seiner Eigenschaften. Schon zweimal kehrte er Vatan den Rücken.

Den Traum von einer großen Chance mindestens in der Oberliga hat er noch nicht aufgegeben. „Aber bis andere Vereine auf mich aufmerksam werden, muss ich wohl noch zwei- oder dreimal aufsteigen“, meint er. Irgendwann will er sogar den Fußballlehrer-Schein erwerben. Er ist nun einmal ehrgeizig.

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