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ZUM 1. TEIL DES TAGEBUCHS DER AKTUELLEN SAISON 2004 / 2005 ----
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ZUM 2. TEIL DES TAGEBUCHS DER AKTUELLEN SAISON 2004 / 2005 ----
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ZUM 3. TEIL DES TAGEBUCHS DER AKTUELLEN SAISON 2004 / 2005 ----
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ZUM 4. TEIL DES TAGEBUCHS DER AKTUELLEN SAISON 2004 / 2005 ----
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ZUM 6. TEIL DES TAGEBUCHS DER AKTUELLEN SAISON 2004 / 2005 ----
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ZUM TAGEBUCH DER SAISON 2001 / 2002
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ZUM TAGEBUCH DER SAISON 2002 / 2003
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ZUM TAGEBUCH DER SAISON 2003 / 2004
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SV Werder Bremen - VfL Bochum 4:0 (26.2.2005)
Ja ich weiß, erste Liga war ne geile Zeit - "... und der VfL Bochum... ???" "NULL!!!!!!!!!!"
Der junge Mann, der das Plakat rechts hält (helle Jeans), das bin wohl doch irgendwie ich... (Quelle: vfl-bochum.de/firo)
Writing to forget it
... und in Mülheim schneit es!
Wenn ich noch in der Schulabgangsphase
wäre, dann wäre "Geile Zeit" von Juli mein Lied gewesen. "Ja
ich weiß es war ne geile Zeit", fängt der Refrain an, und hört
mit "es ist vorbei" auf. Nein, ich mag Juli nicht besonders. Und schon
gar nicht, wenn ich morgens um 9.16 Uhr unter dem - husthusthust - Geheul
von Sängerin Eva aufwache. Es war ne geile Zeit? So viele Auswärtsspiele,
so viele Zugfahrten, so viele Städte, so viele Erlebnisse. Geradewegs
steuern wir auf einen weiteren, den unzähligsten Abstieg zu. Und ich
gleichzeitig auf meinen Reiseabschied. "Es ist vorbei", donnert es mir
aus dem Radio entgegen. Ich schalte es schnell aus. Nein. Noch ist es nicht
vorbei - husthusthust.
Meine Fresse, geht es mir
beschissen. Ich gehöre - husthusthust - eigentlich ins Bett, den ganzen
Tag, mit ner Tasse Tee, ach was, direkt einer ganzen Kanne; oder hmmjamjamjamjam
noch viel besser, einer heißen Milch mit Honig. Den ganzen Tag eingewickelt
in eine Decke, nachmittags die Konferenz gucken bei Premiere, zwischendurch
telefonieren, und abends dann früh ins Bett. Und wo bin ich? Ich sprinte.
Ich sprinte mit nassen, gerade geduschten Haaren Richtung Hauptbahnhof
und erwische die letzte noch offene Tür des Regionalexpresses um 9.46
Uhr. Ich sollte doch zukünftig vor Auswärtsfahrten etwas früher
aufstehen, hämmere ich mir in die Rübe. Oder versuche es zumindest,
denn abwechselnd japse und huste ich, und gebe dabei bestimmt kein allzu
gesundes Bild ab. Besser ich schau nicht hoch, nicht in die Gesichter der
anderen Zugfahrer. Umsteigen in Essen - husthusthust - ich schwitze ein
bisschen von der Rennerei zum Bahnhof. Der IC kommt pünktlich um 10
Uhr, und ja, oh ja, es ging mir schon einmal besser in meinem Leben. Auf
der Zunge liegt mir immer noch der Gyros-Souflaki-Zatziki-Geschmack von
gestern Abend, den selbst zweimaliges Mega-Zähneputzen nicht besiegen
konnte, ich röhre ununterbrochen Grippeviren in die Luft, einen Sitzplatz
finde ich nur im Raucher-Großraumwagen, und ich habe HUNGER! Die
Welt ist verschneit, und an weißen Feldern und den Städten Bochum,
Dortmund, Münster und Osnabrück vorbei werde ich Richtung Norden
fahren. Aber warum nur? Ich will doch einfach nur schlafen. Ins Bett. 10.25
Uhr, sms von Gerd. "Lass mich raten, du fährst bei dem Üselwetter
zum seit jeher aussichtslosesten Auswärtsspiel überhaupt?! Schick
mal Ergebnis, viel Glück!" Wie viele Leute mir in den letzten Tagen
doch genau auf diese Art und Weise Mut gemacht haben... und immer wieder
habe ich dasselbe geantwortet: "Ich kenne keinen Bochumer, der nach Bremen
fährt und ernsthaft davon ausgeht, dass wir das Spiel gewinnen." Und
so ist es auch. Husthusthust. Man, dieser BEPISSTE Husten!!! Ich fahre
das kleine Tischchen aus dem Sitz vor mir aus, lege die WAZ und die "taz"
drauf, dazu noch meinen Discman. Ich beginne den Tag mit Grönemeyers
"Bochum", natürlich, pünktlich nach der Abfahrt aus unserem Bochumer
Bahnhof. "Tiiiiief im Westeeeen, wo die Sonne verstaaaaubt..." Wo die Sonne
erfriert, würd es im Moment besser treffen. Maximal ein Grad plus
ist heute angesagt, und wie immer in den letzten Jahren ist es erst im
Februar richtig winterlich geworden. Kurz vor Dortmund höre ich endlich
auf zu japsen, ich sollte mal wieder Sport treiben, husthust. Die hübsche
Schaffnerin will mein Ticket sehen. 42 Euro steht da drauf, aber so viel
habe ich gar nicht bezahlt. Denn im Rahmen einer Frühjahrs-Putzaktion
habe ich einen 25-Euro-Gutschein gefunden, der noch bis März gültig
ist. Also: Für 17 Euro hin und zurück, das ist doch ein fairer
Kurs. Diesmal schlage ich sogar den sonst preislich unschlagbaren BOZ-Fanexpress.
Ich fahre die Strecke zum unzähligsten Mal, studiere in der WAZ die
Aufstellungen, als mir auffällt, dass wir in Osnabrück am VfL-Piepenbrock-Stadion
an der Bremer Brücke vorbeifahren. Im Discman läuft gerade Nenas
"Nur geträumt". Danach noch "Everlong", das fantastische Werk von
den Foo Fighters. Und "So here we are" von Bloc Party. Zwischen Osnabrück
und Bremen falle ich in einen einstündigen Schlaf. Der blau-weiße
VfL-Schal ist fest um meinen Hals gewickelt. Mit der linken Hand halte
ich Jacke und Tasche fest. Als ob das helfen würde. Ich träume
nichts.
Meine Augen jucken kräftig,
als ich in Bremen das Licht der Welt erblicke. Nach der Durchsage "Meine
Damen und Herren! In Kürze erreichen wir: Bremen Hauptbahnhof!" bleibt
mir nur wenig Zeit, um alle Vorbereitungen abzuschließen. Ich blättere
kurz im Baedeker meine geplante Route nach, ziehe den Reißverschluss
der Jacke bis zum Anschlag hoch und wage mich drei Stunden vor dem Anpfiff
in die Stadt. Dirk aus München hat inzwischen eine sms in den Norden
gefunkt: "Das wird schon, hab mit einer gigantischen Quote drauf gesetzt!"
Krank und müde fühle ich mich mehr denn je. Wenigstens hat der
Husten ein wenig nachgelassen. Den Hunger besiege ich in einer Bäckerei
in Bahnhofsnähe. Ich bestelle in Gedenken an Homer Simpson einen Schoko-Donut,
dazu noch jeweils ein Marzipan- und ein Schoko-Croissant und selbstverständlich
einen heißen Kakao. Mit Blick auf den Herdentorsteinweg setze ich
mich an einen Tisch und blättere den aktuellen "Weser-Kurier" durch,
knapp 250 Kilometer weg von Mülheim. Auch diese Zeitung betont noch
einmal die eindeutigen Voraussetzungen. "Freiburg wird eher ein Heimsieg
gegen Bayern zugetraut als Bochum ein Dreier bei Werder", heißt es
dort, und ich schmunzle. Es spricht einfach alles gegen uns. Noch nie in
Bremen gewonnen. Sieben Auswärtsniederlagen in Folge. Bremen mit vier
Bundesligasiegen hintereinander. Neururer gibt im Interview zu, mit Grausen
an Werder zu denken. Nicht nur er. Und ich bin da, gebeutelt von Grippe
und all dem sonstigen Kram.
Warum? Warum nur?? Vor allem,
weil Bremen einfach eine schöne Stadt ist, und weil ich gerne dort
bin. Und im Winter gibt Bremen ein noch schöneres Bild ab. Um 12.45
Uhr wage ich es in die Kälte, "1 Grad" steht irgendwo auf einer Temperaturanzeige,
und ich spaziere gemächlich über die Fußgängerzone
Sögestraße in Richtung Marktplatz. Der auch "Domshof" genannt
wird. In Richtung Altstadt, auch als "Domsheide" bekannt. Anderthalb Mal
habe ich mir das schon angeguckt. Im Frühjahr 2000, glaube ich, da
habe ich mit einer Dreier-Gruppe einen Kumpel in Bremen besucht, auch über
Nacht. Wir haben nach dem Freitagabendspiel (die gab es damals noch, hurra)
ziemlich groß bei mehreren Becks gefeiert, und uns am Samstagmorgen
die Stadt angesehen. Und beim letzten
Auswärtsspiel, da hab ich das alles nur in der Nacht gesehen. Ich
blicke auf die Stadtmusikanten, auf den Roland, auf das Rathaus. Rufe mir
all die Jubelbilder in Erinnerung, die es im letzten Mai nach dem Doublegewinn
an dieser Stelle gab. Schaue mir an, auf welchem Balkon die Spieler gestanden
haben, stelle mir vor, wie voll das alles war. Ich fotografiere ein wenig,
und gehe in den Bremer Dom. Setze mich auf eine Bank, lausche der Kirchenorgel
und genieße die Ruhe. Doch, Bremen kenne ich besser als andere Städte.
Das ist meine vierte Auswärtsfahrt, einmal war ich dort feiern, bin
dort mal Richtung Malle abgeflogen und von dort gelandet und zigmal dran
vorbeigefahren (erinnere mich noch gut an Autobahnabfahrten wie Bremen-Brinkum
und Bremen-Arsten, die direkt nach Wildeshausen und Delmenhorst kommen).
Na gut, eine überragende Bilanz ist das nicht gerade, aber immerhin...
und der karge Eindruck reicht für mich, um Bremen das Etikett einer
individuellen, einfach nur (so simpel ist das) schönen Stadt zu verleihen.
Vielleicht sollte ich mal in die Bremer Vororte gehen, zum Beispiel in
die Neubau-Trabantenstadt-Siedlung "Neue Vahr", der Element-Of-Crime-Sänger
Sven Regener sein Buch "Neue Vahr Süd" widmete.
Zwei Stunden noch bis zum
Anpfiff. Warum lieben alle Kopfsteinpflaster? Das verleiht jedem Fleckchen
einen antiken, alten, gemütlichen Anstreich. Und in Bremen besonders
im schnuckeligen Schnoor-Viertel mit kleinen Gässchen. Ich schlendere
weiter, nur noch einen Katzensprung ist es bis zur Weser. Soll ich fünf
Minuten zurück laufen bis zur Haltestelle "Domsheide", und dann mit
der Bahn fahren? Oder an der Weser entlang laufen? Ich frage irgendeinen
Heini, den ich einfach so anquatsche. Der antwortet: "Also wenn Sie stramm
laufen, ne halbe Stunde". So viel Zeit habe ich noch, an diesem bewölkten
Wintertag. Es macht Spaß, über die Vor- und Nachteile der Stadt
zu phantasieren, einige Sätze für die Homepage vorzuformulieren,
Musik zu hören wie "So here we are" von Bloc Party (schon wieder!).
Ins Bett gehöre ich immer noch, aber ich spürs nicht mehr. Studieren
in Bremen ist bestimmt schön, spannend. Eine ruhige Stadt, in der
es aber doch möglich ist, feiern zu gehen. Eine Stadt mit Sehenswürdigkeiten,
Kunst und Kultur, die sich aber nicht allein auf ihre touristische Qualität
verlässt. Eine Stadt mit Fluss, und mit einer großen Promenade
mit exorbitanten Möglichkeiten zu Weserwiesen-Partys im Sommer. Eine
totale Fahrrad-Stadt, in der ein Döner-Verschnitt "Rollo" heißt.
Aber leider eine Stadt etwas fernab vom Schuss. Die nächstgrößeren
Städte Hamburg und Hannover sind ziemlich weit weg, von Berlin und
dem Ruhrgebiet ganz zu schweigen. Wer in Bremen groß geworden ist,
der will bestimmt weg. Der ländliche Charme. Der ist der größte
Vor-, aber auch Nachteil dieser 550.000-Einwohner-City. Auf der Promenade
packen die Händler gerade die letzten Sachen des Samstag-Marktes zusammen,
als ich am Horizont das Weserstadion erblicke. Ach ja, deshalb bin ich
überhaupt hier. Hatte ich fast vergessen.
Stadion also. 28 Versuche
hat der VfL Bochum gestartet, um hier zu gewinnen. 28-mal berührt,
28-mal ist nix passiert. Das gilt für den VfL, aber auch für
den Security-Typen am Eingang, der drei Minuten lang jede einzelne Schweißpore
untersucht und jeden einzelnen Krümel in meiner Tasche. Der ist so
penibel, dass es selbst seine Arbeitskollegen peinlich berührt. "Jetzt
lass mal gut sein". Im letzten Jahr, da war das noch ziemlich lasch, was
einige direkt für eine Rauchbombe nutzten. Vorbei, vergessen. Neues
Spiel, neues Glück. Glück? Nee, kannste vergessen. Neururer hätte
den Jungs nach dem Freiburg-Spiel eine Woche frei geben müssen, mit
dem Angebot, dass jeder, der will, ihn am Samstag zu einem Trainingsspiel
nach Bremen begleiten könnte. Freiwillige vor. Viele hätten sich
nicht gefunden. "Geile Zeit" ist komischerweise das erste Lied, das ich
höre, als ich mit einem letzten Happen Frikadelle im Mund die Stehplatzkurve
betrete, und ich fühle mich sofort an mein Aufwachen erinnert, und
deshalb schlecht. Direkt danach kommt "Highway to hell". Passt schon besser.
Immer noch ein Grad. Die Hoffnung steigt nicht, ebenso wenig mein Lampenfieber.
Ist es nur ein weiterer Strich mehr in meiner Auswärtsstatistik? Husthusthust.
Oh je, kommt der wieder zurück? Ich lese die Werder-Zeitung, als mich
auf einmal jemand anquatscht. Es ist Tobias (ich glaube zumindest, dass
er so heißt), der Kerl, der mir einst die anonymen Postkarten geschickt
hat, was ich gar nicht komisch fand und mich
in
Mainz erstmals anlaberte, wobei ich neben Thommy sitzend den Typen
ziemlich ignorierte. Diesmal lässt er sich nicht so leicht abschütteln.
Mit meiner Ruhe in der Unruhe ist es dahin, aber es wird ein ganz netter
Nachmittag. Wir unterhalten uns über den VfL, über Auswärtsfahrten,
vereinzelt auch über den Mülheimer Sport. Naja, er redet meist
und ich huste. Auf die Antwort, was das damals mit den Postkarten sollte,
warte ich noch. Gegen 15.20 Uhr erzählt er von einem Transparent,
das er gemalt und ins Stadion geschmuggelt hat. "Heute ist ein guter Tag,
um Geschichte zu schreiben" steht da drauf. Er bittet mich um Mithilfe
beim Hochhalten. Aber gerne doch. "Ein Transparent zeigen" fehlt noch auf
meiner Fan-Liste. Die "Ultras" bemerken unser Vorhaben. "Noch nicht hochhalten!",
herrscht mich einer an. "Wir haben doch selbst ne Choreo. Bitte erst Anfang
zweite Halbzeit!" Jaja, ist ja gut. Wobei... Anfang zweite Halbzeit ist
doch mutmaßlich schon alles zu spät!? Die "Ultras" arbeiten
wieder mit blauen und weißen Pappen. Pünktlich zum Anpfiff unser
großer Auftritt. Ich verstecke mein Gesicht hinter dem Papier, so
dass ich für Fernsehen und Fotos nicht zu erkennen bin. Meine Transparent-Premiere,
hurra.
Der Typ ist ein ziemlich
lauter Typ. Steht wohl sonst nur mittendrin im Ultra-Kern, denn auch diesmal
brüllt er unentwegt. Ich huste mir einen zurecht, und huch, die spielen
ja schon. Baumann hat nach einer Minute gleich eine Chance, doch Vander
hält. Vander? Jepp, der darf genauso ran wie die zehn anderen Sieger
aus dem Freiburg-Spiel. Van Duijnhoven ist wieder fit, aber erst einmal
draußen. "Wenn ich nerve, sag Bescheid", meint Tobias (so heißt
er, wenn ich mich - wie gesagt - richtig erinnere). Würd ich nie tun.
Nicht im Fußballstadion. Zwei Reihen unter mir hat sich Stephan Berger
aus Münster platziert. Er hatte laut icq vor zwei Tagen Geburtstag.
Glückwunsch. Ich wollte es nicht, und kenne doch von Mal zu Mal mehr
Leute. Unglaublich. 1500 Bochumer sind da, wollen den historischen Tag
miterleben. Ein lautstarkes Gebrülle "Auswärtssieg!" brandet
oft auf, doch ein "Auswärtspunkt!", wie am Bahnhof von einigen geschmettert,
würds auch bringen. Das Spiel ist zäääääh,
so laaaaaangweilig. Die Bremer knappsen noch an ihrem 0:3-Debakel gegen
Lyon am Mittwoch. Wir ziehen uns ganz ganz weeeeeeeit zurück, greifen
erst ab der Mittellinie an. Vor allem Bönig, Colding, Kalla und Vander
dreschen die Kugel nach vorn, sobald sie auch nur ansatzweise in der Nähe
liegt. Bei Bechmann, Lokvenc, Trojan und Misimovic ist vollends Schicht
im Schacht. Kein Torschuss. Nichts. Ab und an mal eine Standardsituation
für Werder, aber es ist einfach nur schwer verdauliche Fußball-Kost.
Zwischen der 20. und 30. Minute zieht eine powerplayartige Wolkendecke
über den Werder-Strafraum, mit drei Ecken für uns. Aber nichts
passiert. Werder ist überlegen, aber noch spielen wir gut, stehen
wir gut. Gegen den besten Sturm der Liga musst du konzentriert sein, da
muss jede Kleinigkeit sitzen. Die sitzt auch. Bis zur Minute 45. Noch Sekunden
bis zum Pausenpfiff. Ecke Micoud, Vander segelt elegant vorbei. Noch eine
Flanke von der anderen Seite, Kopfball Ismael hebt und senkt sich, drin.
Na typisch, zum ungünstigsten Zeit überhaupt. In der Halbzeit
eine sms-Orgie an Tausend Leute. "Scheiße!", meint Dirk aus München
lapidar. 16.25 Uhr, es beginnt zu Schneien. Die Flocken tanzen miteinander
Cha-Cha-Cha, obwohl mir der VfL-Bochum-Walzer lieber wäre. Doch in
der zweiten Hälfte sind wir so weit, weit, weeeeeeeit - husthust -
davon entfernt wie Andreas Brehme vom Abitur. Baumann mit dem 2:0 in der
49., Valdez mit dem 3:0 in der 53. und Micoud mit dem 4:0 in der 75. schießen
uns aus dem Stadion, Borowski scheitert noch an der Latte, Klose schießt
drüber, wir kommen richtig gut davon. Es ist wehrlos, desaströs,
lächerlich. Einfach nur: Nicht bundesligatauglich! Fehler über
Fehler in den Zweikämpfen, ein äußerst schwacher Torwart,
der beim 0:2 und 0:3 seinen Stammplatz wieder an van Duijnhoven verliert,
und keine Entlastung von der Offensivabteilung. Ach Frank Fahrenhorst,
wärst du doch noch bei uns. Doch Werder braucht Fahne als Ersatzspieler!
ERSATZ!!! Beim vierten Tor tut es schon nicht mehr weh, als der Stadionsprecher
den Spielstand ansagt. "Werder?" "VIER!!!" "... und der VfL Bochum?" "NULL!!!!!"
Da rufen selbst alle Bochumer mit. Etliche sind bereits nach dem 0:3 gegangen,
haben den 29. Versuch schon sehr früh abgebrochen. In der Schluss-Viertelstunde
bringt kein Bochumer einen Ton heraus, was der Typ neben mir mit einem
lauten Zwischenruf "STILLE!" zu kommentieren versucht. In den letzten zehn
Minuten lacht dann noch das ganze Stadion über uns, als Bechmann zweimal
einen Konter wie ein Anfänger verstolpert und Lokvenc freistehend
vorbeischießt. Selbst zum Ehrentor sind wir zu blöd. Es ist
die Kopie des Leverkusen-Spiels,
mit exakt dem gleichen Ergebnis.
Um kurz nach fünf beschließe
ich, schon den IC um 17.44 Uhr zurück ins Ruhrgebiet nehmen zu wollen.
In 29 Minuten nach dem Abpfiff zum Hauptbahnhof, das ist eine schwere Aufgabe.
Ich sage Tobias kurz "Tschüss", er scheint sichtlich überrascht.
Ich hab bald meine Ruhe im Zug zurück. Als Schiri Merk überpünktlich
um 17.16 Uhr nach exakt 90 Minuten in seine Pfeife pustet, verlasse ich
fluchtartig das Stadion. Laufe zur Haltestelle "St. Jürgen-Straße".
Husthust, ist kalt, mach hinne. Mit der "2" Richtung Gröpelingen.
Steige "Domsheide" aus und in den Bus "25" um. Ein Bremer Fan erzählt
mir, dass er nächste Woche in den Urlaub nach Rio de Janeiro fliegt
und schon Karten für das Ortsderby vor 120.000 Zuschauern hat. Wen
interessierts? Ich erhalte noch ein Lob für meine sportliche Fairness,
und bemerke einmal mehr, dass ich mich wie ein Repräsentant des VfL
Bochum fühle. Immer nett, immer fair, immer freundlich. Ich bin wohl
dafür da, so manchen Fehler der etwas supportlastigeren VfL-Fans mit
meinem Auftreten ein wenig zu kompensieren. Der IC steht schon am Gleis,
als ich mit einem lockeren Sprung noch die letzte Trittstufe erreiche.
Geschafft. Es schneit immer noch, und ich höre "Writing to reach you"
von Travis. Ich möchte es umbetiteln. "Writing to forget it", ist
bei mir heute Abend angesagt. Noch kurz - husthust - den Bericht beenden,
dann schlafen gehen und hoffentlich gesunden. Und dann nie wieder an dieses
katastrophale Spiel denken. 0:4. Abhaken. Fix. War doch sowieso klar. In
Bremen.
Zwischen Münster und
Dortmund nehme ich mir meine Auszeit auf der Rückfahrt. Wieder traumlos.
Ich beobachte in den Wachphasen eine schöne Frau aus dem Sitz links
vor mir aus dem Augenwinkel, um mich bei Laune zu halten. In Dortmund steigen
Mainz-05-Fans zu, begutachten meinen Schal. Einer meint: "Aaaah ihr Bochumer,
habts auch eins auffen Sagg kriegt!?" Nee ja wieso. In Rekordzeit erreiche
ich Mülheim. 20.15 Uhr. Abschied von einem Ausflug nach Bremen. Wie
immer. Eine schöne Stadt.
Aber nicht, wenn es um Fußball
geht.
Das Spiel
Bremen
Weitere Spiele / Berichte aus Bremen
SV Werder Bremen - VfL
Bochum 2:0 (8.3.2003). Zum Text geht es HIER
!
SV Werder Bremen - VfL
Bochum 3:1 (22.11.2003). Zum Text geht es HIER
!
Der bekloppteste Spieler der Bundesliga: Ailton Goncalves da Silva
Verspätungen, Schwarzmarktprobleme, falsche Ergebnisse auf anderen Plätzen und eine nicht bundesligataugliche VfL-Mannschaft - eine Zäsur droht
Wenn alles schief läuft
"Wir würden lieber in Ehren absteigen als mit Gläubigern die Klasse zu halten" - Plakat vom Block A
"Weißt Du Sam", sage
ich um 15.20 Uhr, "so Spiele gegen Schalke, die musst du nicht gewinnen.
Die Punkte musst du woanders holen."
Es ist nicht so, dass ich
tage- und nächtelang auf dieses Spiel hingefiebert hätte. Okay,
jetzt ist das Spiel da, jetzt kommt es, gleich beginnt es, aber das nervöse
Rumgebrabbel und Rumgezittere vermisse ich, nichts will sich regen in meiner
Magengegend. Irgendeine Stimme sagt mir, dass es heute ein übler Tag
wird. Keine Ahnung, welche Stimme. Wäre das hier ein Film und nicht
etwa eine Homepage, dann würde sie aus dem Off kommen. "Andiiiiiii",
wurde da jemand mit einem tiefen Organ brummen, "bleeeeib zu Hauuuuuuse..."
Revierderby. Mein 48., und mein 15. gegen Schalke. "Die Nummer eins, die
Nummer eins, die Nummer eins im Pott sind wiiiir", das haben wir gebrüllt,
noch vor acht Monaten, ja sogar am dritten Spieltag der aktuellen Saison
Ende August. Und das zurecht. Zu Hause, da hängen noch ein paar Überschriften
an der Wand, von wegen "Bochum verzaubert die Bundesliga". Aber das ist
nicht mehr als nur bedrucktes Papier ohne Wert. Einen letzten Blick werfe
ich um halb zwei auf die eingerahmten Erinnerungen, und dann schleiche
ich tief bedröppelt zum Stadion. Nichts will mir Mut machen, dass
es heute klappen möge.
Hauptbahnhof. Mülheim
ist, ich muss es leider so sagen, eher eine Schalke- als eine Dortmund-
oder Bochum-Stadt. Die Königsblauen sind stadtintern in der Mehrheit,
was sich auch am Gleis zeigt. Lauter Trikots mit "Ailton", "Sand" oder
"Lincoln" hintendrauf sind zu sehen. Durchsage. Der Regionalexpress nach
Hamm hat zehn Minuten Verspätung. Das fängt ja gut an. Ich hab
noch drei Karten in meinem Portmonee, die ich dringendst verticken muss.
Elf Euro pro Stück, inklusive Top-Zuschlag. Eine ganze geschlagene
Woche habe ich damit verbracht, die Tickets irgendwie unters Volk bringen
zu wollen. Vergeblich. Hab selbst rumtelefoniert und Mails geschickt. Hab
Sam angerufen. Der hat Freunde gefragt - keiner konnte. Hab Gerd angerufen,
heute morgen sogar noch - auch nichts. Keinen konnte ich für dieses
Spiel begeistern. Keinen. Und so stehe ich alleine im Waggon. Bahnhof Wattenscheid.
"Die Weiterfahrt verzögert sich wegen Überholungen um wenige
Minuten." Aus zehn werden zwanzig Minuten Verspätung. Ankunft in Bochum
um 14.26 Uhr. Nicht wie sonst um 14.06 Uhr. Es ist voll. Richtig voll.
Auf dem U-Bahnsteig eine Etage tiefer gibt es eine erste Schlägerei.
Security-Leute, Polizisten, mittendrin ein paar Schalker. Die erste "308"
kommt - und fährt direkt durch. Sie ist pickepackevoll. Die zweite
"308" - auch. Die dritte, vierte, fünfte... man, was ist das bloß
für ein SCHEISS-TAG heute? Nichts geht, und das Spiel hat noch nicht
einmal angefangen. Um 14.40 Uhr stehe ich endlich vor dem Eintrittshäuschen,
aber dann in einer Riesenwarteschlange. Dirk aus München tippt "3:2"
per sms. Utopisch. Vor mir in der Schlange steht ein Schalker. Ein Securitytyp
bittet ihn, seinen Schal und seine Kappe abzusetzen. Meine Güte, von
mir aus kann er sie auf auflassen. Aber ich werd nicht gefragt, bin ja
auch nur einer aus der potenziell gewalttägigen Masse. Auch wir Bochumer
werden heute etwas schärfer gefilzt als sonst. Mir fallen unheimlich
viele Schalker auf. Das müssen die zahlreichen ebay-Fans sein. Schließlich
lief der Kartenvorverkauf für die Ostkurve zuerst für Dauerkarteninhaber
und Mitglieder - und die Ostkurve war sehr schnell ausverkauft. Da sind
wir doch alle selbst schuld. 14.45 Uhr, immer noch in der Schlange. "Wo
bleibste, Alter? Haben sie dich als Schwarzhändler verhaftet?", schreibt
Gerd. Ich bin ziemlich stinkig. "Alles ätzend! Regionalexpress 20
Min. Verspätung, 308 15 Min. Wartezeit, Karten verticken unmöglich,
Riesenschlange vor dem Eingang", antworte ich. Die 33 Euro für die
drei Karten schreibe ich in den Wind. Erstens ist es schon sehr spät,
zweitens stehen auf dem Bahnsteig der Haltestelle "Ruhrstadion" mindestens
15 Kartenhändler nebeneinander, die alle noch Karten loswerden wollen.
So´n Scheiß. Fünf vor drei, ich bin drin, 40 Minuten später
als sonst. Rein van Duijnhoven kommt zum Warmlaufen. Die erste gute Nachricht
heute.
Ich boxe mich zu Krüger
und Gerd durch. Sam und seine Frau kommen kurz nach mir. Selbst Sam, der
sonst immer für den VfL tippt, ist heute sehr sehr skeptisch. Mainz
spielt gegen Freiburg. Das riecht nach sieben Punkten Rückstand. Es
wird hart und härter. Unterhaltungen in der Kurve. "Die Punkte müssen
wir woanders holen", sage ich Sam um 15.20 Uhr. Das Maskottchen des Tages,
der kleine Jonas, trägt ein total süßes Gedicht vor. Im
Sitzplatzblock A hängt eine Fahne. Beide sagen in etwa das selbe aus.
"Die sind die mit dem Geld, wir die mit Herz und Seele." Hach ja, schöne
gute alte Fußball-Welt. Wie schnell sind wir doch wieder in unsere
ganz alten Stereotypen zurückverfallen... Herberts "Bochum" sitzt
diesmal perfekt. "Machst mit nem Doppelpaaaasss jeeeden Gegner nass, Du
und Dein VFL!", läuft pünktlich, als beide Mannschaften den Rasen
zum Einlaufen betreten. Rein wieder im Tor, ausverkauftes Tor, vier Punkte
Rückstand auf Mainz, elf Spiele noch. Das kann doch nicht so schwer
sein. Ein Kollege von meinem Bruderherz Thommy hat gewettet, dass der VfL
der schlechteste Nicht-Absteiger aller Zeiten wird.
Anpfiff.
Und schon nach 20 Sekunden
merke ich, dass wir heute absolut chancenlos sind. Ein Fernschuss von Kobiashvili,
den unser Rein hält und im Nachfassen ganz sicher packt. Puuuuh, gaaanz
tief durchatmen. Thommy ruft an, sechs Minuten sind gespielt. Er fordert
den sms-Ticker. Wird erledigt. Die Stimmung ist okay, ganz revierderbylike,
und ja, nach sieben Minuten spüre ich sogar einen Funken von Hoffnung,
dass irgendwas geht. Die Jungs wirken konzentriert, und erspielen sich
sogar eine Ecke. Doch wie gewonnen so zerronnen. Die Schalker machen nicht
viel. Nee, sie machen eigentlich gar nichts. Sie spielen lediglich sehr
konzentriert. Die Innenverteidigung mit Bordon und Krstajic steht richtig
gut. Und vorn läuft alles über Asamoah. Der gibt unserem armen
Bönig so oft Rätsel auf, dass ich kaum noch zu beruhigen bin.
"Man ist der Bönig SCHLECHT!!! Schickt den ZURÜCK NACH DUISBURG!!",
schimpfe ich mehrfach laut. Es steht noch 0:0, es ist noch ganz ganz lange
zu spielen, und doch hat schon jeder Bochumer begriffen, dass diese Mannschaft
nicht bundesligatauglich ist. Nicht heute, und wohl auch sonst nicht. Kalla
ist bei jedem Schalker Angriff ein Unsicherheitsfaktor, Bönig sowieso.
An Preuß, Misimovic, Bechmann und Lokvenc läuft das Spiel völlig
vorbei. Bis zum ersten Schalker Tor ist es eine Frage der Zeit. Ailton
machts dann auch, nach ner halben Stunde und einem Fehler von Kalla. 1:0.
Völlig verdient. Stimmung im Arsch. "Wir singen BOCHUM BOCHUM ZWEIIIIITE
LIIIIIGAAAAA!!!", singen Zehntausend. Unsere Blicke wandern lieber Richtung
Block A als Richtung Spielfeld. Eine Wemmserei jagt die nächste. War
wohl doch keine gute Idee, dass sich ein paar Schalker zu uns stellen.
"SCHALKER RAUS! SCHALKER RAUS! SCHALKER RAUS!", brüllen wir so laut
wir können. Im nächsten Jahr kommt Schalke wohl auch nicht mehr.
Pause, pünktlich nach 45 Minuten. "Man", murmelt einer im Vorbeigehen,
"da steht der Dicke einmal frei, und direkt drin!" Mainz führt schon
3:0.
Wiederanpfiff, und jetzt
wird
es eine Farce. "Ich sehe schon jetzt das Fazit im Kicker vor mir", klugscheiße
ich zu Gerd in Minute 49, "und die wird lauten: Schalke genügte eine
Durchschnittsleistung im Schongang, um den VfL Bochum in allen Belangen
in die Schranken zu weisen." So ist es, so bleibt es. Ganz langsam, mühsam,
fast sogar träge bewegt sich die digitale Uhr auf der Anzeigetafel
vorwärts. Es passiert nichts mehr. Die Schalker schieben sich den
Ball zu, scheinbar mühelos. Torwart Rost ist arbeitslos. Keine einzige
Torchance erarbeiten wir uns. Nicht eine. Nur noch ein Sprechchor kommt
immer mal wieder: "100 Jahre, 100 Jahre, 100 Jahre S'04, arbeitslose Hurensöhne,
100 Jahre S'04". Und dann ists nicht mal ein guter. Es steht nur 0:1, Leute,
nur 0:1, und doch ist das völlig einseitige und langweilige Spiel
schon längst entschieden. Es wirkt, als würden die Schalker knobeln,
wer das entscheidende zweite Tor schießen darf. Lincoln hat scheinbar
das Knobelspiel gewonnen. Er versenkt die Kugel in Minute 77 zum 2:0 im
Eck, nach Knavs-Patzer. Gerd schaut uns alle an, und geht nach Hause. Es
ist wahnsinnig frustrierend. Die Schalker vergeben sogar noch Chancen auf
einen höheren Sieg, aber bei uns steht ja wieder der Rein im Tor.
Hätte der Vander dringestanden... nicht dran zu denken... aus unserer
Kurve kommt schon lange gar nichts mehr. Von den Schalkern müssen
wir uns verhöhnen lassen, naja, als ob das noch schlimm wäre.
"Zweite Liga, Bochum ist dabei", "Euer Trainer ist ein Schalker, heyhey"
und "Peter Neururer, schalalalala", heißt es dort. Die "Ultras" greifen
den Spielball natürlich prompt auf und brüllen "Neururer raus!"
Heute hat Peter die Mannschaft nicht mehr erreicht. Zu allem Überfluss
verletzt sich Trojan schwer, der einzige Wirbler. Es geht einfach alles
schief. Mainz putzt Freiburg sogar noch mit 5:0 weg, und zieht nach Punkten
und nach Toren davon. Gladbach gewinnt 1:0 in allerletzter Sekunde. Auch
das noch. Abpfiff. Futsch. Weg. Zweite Liga, Bochum ist dabei.
"Weißt Du Sam", sage
ich um 17.20 Uhr, "so Spiele gegen Schalke, die musst du nicht gewinnen.
Aber so wie wir heute gespielt haben, holen wir nirgendwo mehr auch nur
irgendeinen Punkt."
Ich habe leise, aber zweifelsohne
vorhandene Befürchtungen, dass eine Riesenzäsur vor mir steht.
Im City-Grill treffe ich Stephan, den Straßenbahnfahrer. "Nächstes
Jahr", sagt er, "da hole ich mir keine Jahreskarte mehr, egal in welcher
Liga." Stephan trainiert die Jugendmannschaft seines Sohnes bei Tuspo Saarn,
und die Spiele sind immer am Nachmittag. Nicht mal Stephan kommt bald mehr.
Ein fünftes Jahr in der 2. Bundesliga verbringen? Möchte ich
mir das antun? Der Stachel sitzt schon jetzt sehr sehr tief, selbst wenn
wir das Wunder noch schaffen, werde ich mich wohl etwas zügeln mit
meiner VfL-Leidenschaft. In einer Woche geht es nach Rostock, ohne mich.
Ich würde alles, was ich habe, darauf verwetten, dass Rostock gegen
uns der erste Heimsieg gelingt. Natürlich hat Hansa heute 1:0 gewonnen
und wieder neuen Mut gesammelt. Das krönt den Tag, an dem für
mich und den VfL bisher alles schief gelaufen ist.
Im Regionalexpress treffe
ich kurz den Mülheimer Tobias, und zwei namenlose Schalker. Die haben
ein paar lobende Worte übrig. "Ihr habt - echt getz - ein wunderschönes
Stadion. Da sind wir immer gern. Das ist so klassisch, nicht so modern
hochgezogen wie zum Beispiel in Gladbach." Naja, die Schalker haben zuletzt
so oft bei uns gewonnen, kein Wunder, dass sie so gern bei uns sind. "Ich
wünsche Euch den Klassenerhalt, aber..." Aber? "Eigentlich wären
wir mit einem Punkt zufrieden gewesen, weil man eigentlich nicht einfach
nach Bochum fährt und im Spaziergang drei Punkte mitnimmt." Er hat
"eigentlich" gesagt.
Heute Morgen warens vier
Punkte Rückstand auf Mainz, jetzt sind es sieben. Heute Morgen war
die Situation schwierig, jetzt ist sie aussichtslos. Heute Morgen habe
ich unserer Mannschaft vorbehaltlos den Klassenerhalt zugetraut, jetzt
weiß ich, dass wir ganz ganz ganz viel Dusel und noch viel mehr Glück
haben müssen, um das irgendwie hinzukriegen. Am Mülheimer Hauptbahnhof
schaue ich nach Abfahrtszeiten für den Zug nach Köln-Deutz zum
Dresden-Dolls-Konzert.
Hoffentlich wird es gut.
Na gut, schlimmer als der
heutige Nachmittag kann nichts mehr sein.
Erst zum zweiten Mal in meinem VfL-Leben eine 4:0-Halbzeitführung (die erste gegen den 1. FC Nürnberg, 2. Bundesliga, Herbst 1995)
Wemmserei, fünf Tore, Eeeeeeduuuuuuuu, Scheißerei - ein wahnsinnig unterhaltsamer Beginn der Abschiedstour
Witzig: Kurz vor dem Anpfiff hielt zwei Reihen tiefer jemand ein "Mit Peter in die 2. Liga"-Plakat in die Höhe
Lustig brechende Deiche
Damit begann es: Die Verlautbarung - und es sollte mit einer Wemmserei enden
Zurechtgelegt hatte ich mir
diesen Text schon lange. Den "Running Gag" dieses Tagebucheintrags, das
passendste Bild aller passenden Bilder, es schien so passend... "Deiche
brechen richtig, oder eben nicht", lautet eine Zeile im Song "Deiche" aus
dem neuen, ganz nebenbei auch noch wundervollen Kettcar-Album - und ich
wollte den Satz so gern anwenden nach der nächsten 0:3-Niederlage,
der nächsten fassungslosen Leistung, der nächsten Aufgabe ohne
jegliche Art von Kampfkraft. Ich wollte als Pointe bringen, dass wir vor
lauter Sorglosigkeit wohl vor der Saison gar keinen Deich aufgebaut haben,
im Glauben, an der stürmischen See scheint in diesem Jahr bei 30 Grad
und Windstille nur die Sonne. Und dann hat uns ein Tsunami erwischt. Ich
hatte es mir schon zurechtgelegt, und war so stolz darauf.
Doch es wurde alles ganz
anders. Und nun wäre eigentlich nur noch "Ich find das lustig hier"
eine passende Headline.
Zeitstopp. Wie lange brauche
ich heute aus dem Bett? Lohnt sich das Aufstehen überhaupt? Och nööööööö,
ist doch erst 10 Uhr, und heute - gegen wen, überhaupt - ach so, Wolfsburg;
das macht doch sowieso keinen Sinn. Der Rückstand auf den 15. Platz
ist mittlerweile so groß, dass es wahrscheinlicher ist, dass Erzgebirge
Aue noch in die erste Liga aufsteigt, als dass wir drinbleiben. Die Punktzahl
auf Mainz habe ich vergessen. Lasst mich liegen bleiben, den Scheiß
bei Premiere angucken. Bochum gegen Wolfsburg, unattraktiver geht es im
Moment in der Bundesliga nicht. Noch acht Spiele überstehen. Achtmal
noch Bundesliga. Und dann wieder ein Jahr Mist. Ich sehe mich schon Montagabends
zum Auswärtsspiel bei den Sportfreunden Siegen fahren. Nach dem Debakel
von Rostock beginnt heute die Abschiedstour. Abstiegskampf, Phase neun.
Am Bahnhof ist es seltsam
leer. Irgendein versprengter Bochumer turnt normalerweise immer hier rum.
Immer. Ich bearbeite ein wenig den "VfL Express", blättere in den
Seiten hin und her und zerknuddle sie ein wenig, bis mir auffällt,
dass ich sogar vermerkt bin. Mein in Kürze anstehender Geburtstag
ist an den Blattmachern nicht vorbeigegangen. Ein klitzekleiner Lichtstrahl
in der ansonsten ach so trüben VfL-Sonnenfinsternis im Moment. Was
erwarte ich vom heutigen Tag? Nichts! Rundherum nichts! Im VfL-Fanforum
habe ich kurz gelesen, dass einige Protestaktionen geplant sind. Na so
wild wirds schon nicht werden. Hauptsache meine Wetten bei "betandwin"
kommen. Ich hab einen "over"-Tipp laufen, das bedeutet, dass mehr als zwei
Tore fallen müssen. Und es wäre für mein Kicker-Manager-Spiel
nicht schlecht, wenn van Duijnhoven gut hält und Klimowicz für
Wolfsburg ein Tor schießt. Ja, wär nicht schlecht. Selten bin
ich so entspannt, aber doch irgendwie traurig zu einem Spiel gefahren.
Vor einem Jahr, da war ich noch in Kaiserslautern,
da hatte ich das fantastische "Hand in Hand" von den Beatsteaks entdeckt
und ließ es in meinem Discman rauf und runter laufen, da führten
wir 2:0 und festigten durch das 2:2, ein gewisser Lokvenc hatte zweimal
für Kaiserslautern getroffen, den fünften Platz. Neururer war
unser aller Held, der nach jedem Spiel tanzte. Und jetzt ist alles vorbei.
Und das Spiel ist mir lattenegal. Es ist mein 275., und die Erinnerungen
an die ersten vier Abstiege kommen hoch. Bei eins, zwei und drei war es
halbwegs spannend; beim vierten nicht mehr; und jetzt ist der Ofen schon
zwei Monate vor Saisonende aus. Bitter. Auf der Titelseite des Stadionhefts,
das auch heute wieder pünktlich am Samstagmittag im Briefkasten liegt,
ist heute Edu. Na der hat auch eine ganz seltsame Wandlung erlebt. Erst
versaut er uns mit dem Lüttich-Fehltritt
die Saison, und jetzt, da die Saison längst im Papierkorb liegt, knickert
er das Runde zweimal ins Eckige, und schon ziert sein Kopp die Zeitung.
Tsetse. "Nächster Halt: Bochum Hauptbahnhof". Lied vier auf der Kettcar-CD
heißt "Einer". "Ich würd aufhörn wenn aufhörn heißt
es hört auf!" Denk drüber nach. Ohne Ergebnis.
Lethargie am Bahnhof. Ein
paar Polizisten stehen herum, ein paar VfLer schlurfen gelangweilt durchs
Eingangsgebäude. Kein Gedränge mehr wie vor zwei Wochen im Revierderby,
keine Verspätung mehr, kein Ärger mehr. Und vor allem keine Gästefans
mehr. Wolfsburger tauchen gar nicht auf im heutigen Stadtbild. Können
die nicht sogar noch den UEFA-Cup erreichen? Ach, ich wollte doch nicht
auf die Tabelle gucken. Geht doch um nichts mehr. Um 14.15 Uhr komme ich
am Stadion an, komplikationslos, und merke noch nichts von einem Protest,
bis ... HALT ... mir ein an die Haltestellen-Wand geklebter Zettel mit
der Überschrift "Hallo VfL-Fans" auffällt. Als einziger halte
ich an und lese mir durch, was mir der Verfasser sagen will. Blablaundblabla...
"Deshalb soll heute der Block O in den ersten 10 Minuten des Spiels leer
gelassen werden." Und blabla und Neururer ist schuld und Trainer raus undsoweiter.
Das wird doch lustiger als ich dachte. Da Block P von dieser ganzen Aktion
nicht betroffen sein soll, nehme ich pünktlich um 14.25 Uhr Platz
auf meiner angestammten Stufe. Nichts ist los im Stadion. Ich blicke mich
um und erspähe ein Transparent, dort, wo eigentlich der Block O sein
soll. "Wenn wir Euch nicht mehr erreichen, treten wir zurück" steht
drauf. Ich verziehe meine Mundwinkel nach unten und nicke anerkennend.
Ein richtig guter Spruch, was auch immer ich inhaltlich davon halte. Irgendein
dicker Typ setzt sich auf den Zaun und brüllt: "Eeeeeeyyyy, macht
mal den Block frei!!!" Hä?? Ich steh doch P und nicht O! Hinter mir
stehen ein paar Typen von einem Fanklub aus Herne, und die lachen ganz
laut. Nicht nur darüber, sondern über die ganze Protestaktion.
"Also wenn ich richtig protestieren will, dann komme ich gar nicht mehr
hierhin. Das bringt doch alles nichts!" Sie schütteln die ganze Zeit
nur den Kopf. Eine sms. Gerd entschuldigt sich. "Moin Andi. Wirst dich
heut ohne mich ärgern müssen. Hab die Scheißerei." Ich
berichte ihm vom Protest. Und er antwortet wieder: "Nehme an, der Heimvorteil
ist überschaubar heut..." Die Stimmung ist sehr sehr sehr angespannt.
Fünf vor drei. Rein van Duijnhoven kommt. Applaus. Leise Rufe. Na
gut, an dem hat es wirklich nicht gelegen. Fünf Minuten später.
Die Mannschaft. Der erste pfeift, der zweite pfeift, keiner klatscht, alle
pfeifen. Und viele brüllen "Absteiger! Absteiger! Absteiger!" Soll
ich lachen oder weinen? Soll ich das immer noch lustig finden? Ist das
mein Verein, sind das meine Fans? Wie kommt das rüber? Werden nach
dem Spiel alle VfL-Fans mit dieser Aktion gleichgesetzt? Möchte ich
dazugehören? 1000 Gedanken fliegen mir entgegen, dringen in mein Gehirn
ein, prallen aufeinander, dass es schmerzt. Und das Spiel hat noch nichtmal
begonnen. Den Hernern geht das am Arsch vorbei. Einer erzählt grad,
wie er Zwetschge Misimovic in Gelsenkirchen letzte Woche eine Autoversicherung
aufgequatscht hat. Und dass Zwetschge ein Auto mit 350 kw fährt. Sam
kommt. "Ey", sagt jemand, "Du bist zu früh. Du sollst doch erst zehn
Minuten nach dem Anpfiff kommen." Diskussionen über den Protest. "Also
dass die protestieren, ist doch okay. Sollen sie doch ihre Meinung sagen",
meint jemand. Und ich nicke. Finds auch okay. Aber die eigene Mannschaft
mit "Absteiger"-Gebrüll und Pfiffen begrüßen? Also ich
weiß nicht. Eine Null-Reaktion wäre da angebrachter gewesen.
Die Aufstellung, und wieder wirds schrill. "Van Duijnhoven" und "Wosz"
brüllen alle mit, ansonsten geht alles in Pfiffen unter. Besonders
laut bei Knavs und Lokvenc. Block O ist immer noch leer. "Ich find das
lustig hier", sage ich zu Sam. "Pass ma auf: Heute gewinnen die das bestimmt
mit fünf null." Einlaufen einmal anders. Kaum Konfetti, kaum Applaus.
Die Ultras sitzen auf dem Zaun und halten ein weiteres Schild. Ich kanns
nicht lesen.
Anpfiff, und der O-Block
ist wirklich leer. Das Spiel interessiert keinen. Keinen! "Wir haben die
Schnauze voll!", "Neururer raus", "Wir wollen Euch kämpfen sehen!",
"Wir steigen auf, wir steigen ab, und zwischendurch UEFA-Cup", "Erste Runde
Bukarest, zweite Runde Rom... Europapokal Europapokal Europapokal!" Auch
im Block A hat jemand ein "Neururer raus"-Transparent bemalt. Zwei Reihen
darunter, fast schon ein wenig putzig sieht das aus, hält jemand eine
mit schwarzem Edding bepinselte "Mit Peter in die 2. Liga"-Pappe in den
warmen, aber bedeckten Frühlingshimmel über dem Ruhrstadion.
Zehn volle Minuten lang ein Fanprotest der klassischen, aber doch seltenen
Art. Findet eigentlich noch ein Spiel statt? Worum geht es eigentlich?
Fußball? "Sehr lustig hier", smse ich Gerd und er bedauert zutiefst,
dass ein Magen-Darm-Virus gegen seine Gesundheit protestiert und seinen
Körper im Würgegriff hält. Die Blöcke E2 und F gegenüber
in der Westkurve sind auch leer, freilich aus anderen Gründen - der
Gegner ist einfach zu unattraktiv. "Hey guckt mal, da drüben wird
auch protestiert", sage ich zu Sam und den anderen Typen, und ausnahmsweise
ist es mir gelungen, einen guten Scherz anzubringen. Nach 9:46 Minuten
- hey, 14 Sekunden zu früh - stürmen viele den O-Block und warten
auf das erste Gegentor. Warten auf den Moment, in dem sie "Neururer raus"
lauter als je zuvor brüllen können. Als ob es ein Trainerwechsel
jetzt bringen würde. Ich bin im Moment ganz klar kein Neururer-Freund,
aber durch die ganzen Aktionen wird mir bewusst, dass ein Tausch jetzt
nur teuer, sinnlos und zu spät wäre. Lasst ihn doch in Ruhe weiterarbeiten,
bis Saisonende. 15. Minute, eine Ecke von Misimovic, ein Kopfball von Eeeeeeeeeeeeeeeeeeedu
- Toooooor! 1:0, aber irgendwie will beim Torjubel nicht so recht die Pogostimmung
aufkommen. 1:0, ja das passt nur den wenigsten in den Kram. Mir egal. Mich
freuts irgendwie. Noch zwei Tore, bis meine "Over"-Wette aufgeht. Edu.
Ich unterhalte mich mit Sam über Edu. Unterhalten ist heute gut möglich.
"Wie geil", sagt Sam. "Ist so viel Platz hier, bald in der 2. Liga kann
man es sich wieder erlauben, erst fünf Minuten vor dem Anpfiff zu
kommen." "Nächstes Jahr macht Edu bestimmt 25 Hütten", sage ich.
Hinter mir flucht einer: "Als Abwehrspieler gekauft, als Stürmer geendet.
Was ist der überhaupt? Kein gelernter Abwehrspieler, kein gelernter
Stürmer...!?!" Die Wolfsburger machen nichts. GAR NICHTS! Gelangweilt
schleichen sie über den Platz, kein Spieler sagt einen Ton, Trainer
Gerets scheint an der Seitenlinie von einem Karibik-Urlaub zu träumen.
Lokvenc legt ab auf Wosz; ein trockenener Flachschuss... und "Toooooooooooor
in BOCHUM!" brüllt der Premiere-Konferenzmann in sein Mikrofon in
Minute 24. 2:0. In Worten zwei zu null. Ist das eine Verarschung. Wochenlang
nix; und jetzt auf einmal, nach dieser Anfangsphase, nach diesem Fanprotest,
der zu den größten in der Vereinsgeschichte gehört, läuft
es? Kopfschütteln. Da steht tatsächlich 2:0 auf der Anzeigetafel,
geht gar nicht. Ist das lustig hier. "Deiche brechen richtig oder eben
nicht", jetzt liegt es mir wieder auf der Zunge. Der ganze Jubelchor schwappt
vollends zusammen, als Edu nach einer Kopfball-Ablage von Lokvenc in Minute
38 völlig frei steht und das Ding per Aufsetzer ins Netz donnert.
3:0. "Noch drei Tore, und du hast LOKVENC überholt", brüllt Sam
laut. Dabei hüpfen wir so schnell auf und ab, als würden wir
das zum letzten Mal in unserem Leben tun und lassen Sams Baseball-Kappe
durch die Luft wedeln. Wir warten darauf, dass der Stadionsprecher das
Tor ansagt, als sich Lokvenc den Ball schnappt und aus gefühlten 35
Metern in den Giebel knallt. Viiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiieeeeerrr zu NULL!
4:0, jetzt geht gar nichts mehr. 4:0 nach 39 Minuten!! Ist das unfassbar,
ist das paradox. Und was für ein Tor. Ich versmse das Ergebnis in
die Welt, versmse sogar eine komplette Akkuladung, so unglaublich ist das.
"Freut man sich richtig oder ists Abschiedsfreude?", fragt Gerd. Und doch:
Die meisten freuen sich richtig. Nur die Ultras müssen wohl umplanen.
Der Megafon-Mann ist nicht zu sehen. Jens, ein BVB-Fan und ein Soccerhallen-Fußball-Kollege,
gratuliert: "Das gönne ich Euch von Herzen, auch dem Peter, denn er
ist noch einer der letzten Typen in der Liga. Habe dir ja gesagt, der VfL
schafft es noch." Dirk aus München, der mir gestern erst noch gestattete,
während des Bayern-Auswärtsspiels im April bei ihm zu pennen,
schreibt: "Hey, Du kannst auch so bei mir übernachten, Du musst mir
nichts vorlügen... Das ist ja echt unglaublich" Mit dem Sprechchor
"Einer geht noch rein" verschwindet die Mannschaft in der Kabine. Sam holt
ein Bier.
Zweite Halbzeit, selten
so entspannt gewesen. Das Bällchen läuft flott, mir fällt
auf - tataaaaaaaa - dass ich meine "Over"-Wette längst gewonnen habe,
und gehe die Mannschaftsteile durch. Van Duijnhoven - wenig geprüft.
Colding, Bönig, Knavs solide, Meichelbeck zweikampfstark. Tapalovic
fällt nicht mal negativ auf. Zwetschge ist mittlerweile durch Preuß
ersetzt, eine Torvorlage, okay. Dariusz blüht auf, es läuft ja
auch gut. Lokvenc sehr stark, ein Tor, zwei Vorlagen. Madsen fleißig,
Edu torgefährlich, okay, mit zwei/drei groben Schnitzern, aber verziehen.
Minute 55, Konter, klasse, Wosz kommt über links, eine laaaaaaaaange
Flanke, Madsen volleeeeeeeeyyyyyy.... 5:0 !!!! JETZT GEHT ALLES !!! RIESIG!
RIESIG! RIESIG! Sam verschüttet den Rest seines Bieres, seine Baseball-Kappe
fliegt fast vom Kopf. Unglaublich. Ich ertappe mich dabei, wie ich schon
wieder den "VfL Express", der gar nicht mehr VfL Express heißt, wie
mir auffällt, sondern "Mein VfL", aus der rechten Hosentasche hole,
und die Tabelle aufschlage. Nürnberg liegt zurück, Rostock auch,
Gladbach gewinnt nicht, Mainz spielt morgen gegen Schalke, gewinnt auch
nicht. Sind wir wieder dran?? Es wäre zu schön. 5:0, das reicht.
Unsere ziehen sich weit zurück, sogar Momo Diabang darf nach langer
Verletzung mal wieder mitspielen. Das Spiel plätschert nur noch vor
sich hin, als - in Minute 67 ungefähr - die Ultras auf den Zaun steigen
und ein eilig erstelltes Plakat "P.N. - und trotzdem musst du gehen"-Transparent
(oder so ähnlich) hochhalten und mit "Neururer raus"-Rufen würzen.
Einige stimmen ein, lasst es hundert, 200 Mann sein - und jetzt kippts.
Deutlich mehr Fans pfeifen die Raus-Rufe nieder; ich verschränke die
Arme und verfolge das Schauspiel vergnügt. Beim Spielstand von 5:0
(!!!!) und nach einer wirklich guten Leistung gegen zugegeben desolate
Wolfsburger - so ein Schwachsinn. Also unsensibler gehts wirklich nicht.
Da ist es einer ganzen Fangruppierung nicht gelungen, sich in den Großteil
der Kurve hineinzuversetzen. In der Ultra-Ecke kommt es dann auch gleich
zu einer Wemmserei zwischen irgendwelchen Leuten, so dass die Polizei in
unsere Kurve stürmen muss, um das Ganze zu schlichten. Es endet in
einem lauten Sprechchor "Ultras RAUS! Ultras RAUS!", der alles übertönt.
Was für ein Spiel, was für ein Fußball-Nachmittag. Dass
ich das noch erleben darf. "Pass auf Deine Nase auf! Scheiße, was
los ist nur, wenn ich nicht da bin...", antwortet der scheißernde
Gerd auf meine "Geil! Wemmserei Ultras gegen den Rest"-Info. Drei Teenies
steigen auf den Zaun und machen abfällige Handbewegungen. "GEHT SPIELEN!!!",
brüllt Sam und fasst die Laune der Leute um mich herum treffend zusammen.
Während sich auf dem Platz Wolfsburg eine Chance nach der anderen
erarbeitet und unserem Torwart genug Gelegenheiten gibt, um sich im Kicker
eine "2" zu verdienen, denke ich nach. Über das Spiel. Die Fans. Die
Rufe gehen ein wenig unter, die "Oh wie ist das schön"-Gesänge.
Die Ostkurve ist tief gespalten. Schon immer gewesen, keine Frage, aber
in Krisenzeiten ganz deutlich erkennbar. Auf der einen Seite Ultras und
Co; Leute, denen es auf das "Supporten" ankommt, die noch nicht so wirklich
lange dabei und selbst noch sehr jung sind, maximal Mitte 20, die auf Cheoreografien
viel Wert legen mit manchmal hübschen Ideen, die lautstark brüllen,
meist sinnloses Zeug wie "Alles außer Bochum ist scheiße" -
diese von mir kritisch geführte Diskussion hatte ich schon häufiger
an dieser Stelle. Auf der anderen Seite - hoppla, Petrov macht in Minute
74 das 1:5 - die älteren, die schon den allerallerersten Bundesliga-Aufstieg
in den 70ern mitgemacht haben. Leute, die alles erlebt haben, die sich
nicht vorschreiben lassen, wann sie gegen wen zu protestieren haben und
wann sie was brüllen, wie das die Ultras und Co. am liebsten hätten.
Das sind irreparable Spannungen. Es gibt nun einmal Leute, die stehen nach
wie vor auf Neururer. Basta! Und da sind noch so Typen wie Sam, Gerd und
ich. Wir sind in keinem Fanklub, wir kommen, wann es uns Spaß macht
(na gut, ich gebe zu, wir kommen immer), wir brüllen, was uns gefällt.
"Ich will einfach nur Tore sehen! Am liebsten in der ersten, aber eigentlich
egal in welcher Liga! Hauptsache Tore und guter Fußball! Egal, wer
Trainer ist", sagt Sam kurz vor Schluss, als einige Unentwegte wieder "Neururer
raus" schreien möchten und wieder niedergepfiffen werden.
Apropos Pfiff. Der Abpfiff
folgt. 5:1 für uns, ein solches Erlebnis hatte ich lang nicht mehr.
Dieses Spiel hat so einiges bewiesen. Wer wir im Moment sind, wir, die
Fans des VfL. Wie differenziert wir alle mit Krisensituationen umgehen.
Was uns eint, ist die Hoffnung, dass es uns doch noch irgendwie gelingt,
den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Obwohl es ganz schlecht aussieht und
ich nach wie vor davon ausgehe, dass dies leider nur der äußerst
unterhaltsame und witzige erste Teil der Abschiedstour war. Wenn auch ein
ziemlich schöner. Meine privat größte Krisensituation folgt
um 17.30 Uhr, eine Viertelstunde nach dem Abpfiff. Der City-Grill hat geschlossen,
rund um den Bahnhof wird gebaut. Buuuuuhuuuuuuuu, da heult der Andi doch
gleich bittere Tränen. Heute keine Currywurst. Keine Pommes mit Majo.
"Deiche brechen richtig
- oder eben nicht". Eigentlich hätte an dieser Stelle diese Pointe
folgen sollen. Doch nun bleibt es dabei, dass es einfach nur ein verdammt
guter Song ist.
Und
der City-Grill bleibt diesmal leer...
Auswärts ein herzlicher Applaus für die Spieler nach dem Abpfiff - das ist laaaaange her!
Gladbach schenkt uns den verdienten Punkt - und wir müssen noch eine Woche weiterzittern - ein Ausflug in die konservative Lunge NRWs in ein graues Stadion
Ein 2:2 auswärts - das ist laaaaange her!
Ich möchte Teil eines Wunders sein
Eine Rauchbombe auswärts - na gut, das passiert häufiger!
Spürt es mit mir, dieses
Kratzen im Hals. Spürt es, immer, wenn Ihr einatmet, um etwas Schlaues
kundzutun. Spürt es beim Sprechen, Hecheln, Essen, Trinken. Es ist
das Kratzen, das nur Fußballfans kennen, die ein Tor so laut bejubelt
haben wie Metallica-Fans beim Konzert den ersten Riff von "Nothing else
matters". Dieses Kratzen habe ich vermisst, so viele Tage, Wochen und Spiele
lang. Heute ist es da, nach dem 2:2; doch was hat es gebracht? Wir müssen
noch eine Woche weiterzittern, anstatt Klarheit zu haben! Und getroffen
haben wir nicht einmal selbst.
Frauenfußball. Wart
Ihr schon einmal beim Frauenfußball? Hättet Ihr mich gestern
gefragt, hätte ich "Ja und Nein" geantwortet. Ja, weil ich mal ein
Jugendspiel besucht habe, in der tiefen Dunkelheit, an einem windigen Herbsttag,
und Ja, weil ich Mannschaftsporträts verfassen musste. Und Nein, weil,
weil, weil, ja weil ich eben noch keins gesehen habe außer im Fernsehen.
Bis heute Morgen. Jetzt stehe ich auf dem Sportplatz am Mühlenfeld,
verabschiede mich von meinem Taxifahrer, der "ein gutes Gefühl" hat,
was "Schumi heute in Bahrain angeht" und schaue auf die Uhr. Zwanzig nach
zwölf, upps, eigentlich hätte ich seit elf hier sein müssen.
"Entschuldigung, wie stehts?", frage ich den ersten Zuschauer, der mir
samt Hund am Arm begegnet. "2:0" antwortet der und blickt auf den Ascheplatz
und den an diesem wunderhübschen Frühlingstag umherwehenden Staub.
25 Minuten stehe ich teilnahmslos am Rand, beinahe ohne Notiz, das Tocotronic-Konzert
mit dem folgenden, bis in die Puppen dauernden "Matrix"-Besuch, liegt mir
ganz deutlich noch in den Knochen. Der Trainer der Mülheimer Mannschaft
formuliert mir glücklicherweise ein paar brauchbare Sätze über
den glanzlosen Dreier ins Blöckchen, als Sam anruft. "Wann fährst
Du heute los?" "Weiß nicht, muss erstmal bis 14 Uhr arbeiten, und
dann noch kurz nach Hause." "Ich fahr schon los. Wegen der Karte. Meld
Dich!" Okay, gebongt. Mein Bochum-Kalla-Trikot habe ich schon drunter,
aber meinen Schal eben noch nicht. Und meine Arbeitstasche muss ich noch
zu Hause abliefern. Jawollja. In der Redaktion sitzt meine Arbeitskollegin
Julia, die gerade ein paar Zeilen ausbrütet, die möglichst treffend
die Trauer der Mülheimer Bevölkerung über den Tod des Papstes
ausdrücken sollen. "Einer hat gesagt: ,Also um Harald Juhnke habe
ich mehr getrauert.' Aber das kann man ja nicht schreiben." In den letzten
Tagen war es eher das alte Holzmichel-Spiel: "Jaaaaaaaaaaaa, er LEBT NOCH!"
Arbeit runtergerissen, ab nach Hause, Schal drüber, V-F-L, V-F-L,
V-F-L, V-F-L!
Das Fußball-Schicksal
hat uns eine allerallerallerallerallerletzte Chance beschert. Acht Spieltage
sind noch zu absolvieren, und wenn wir heute gewinnen sollten, dann sind
es tatsächlich nur noch drei winzige Pünktlein auf Mönchengladbach.
Und auf Nürnberg. Und hach, dann wären wir wieder drin im Geschäft.
Doch stopp mal, ein Blick auf unsere Auswärtsbilanz trübt meine
Gedanken! Neunmal hintereinander sind wir ohne Punkt nach Hause gefahren
und haben jedes Mal mehr oder weniger deutlich eins auf die Rübe gekriegt.
Warum sollte das ausgerechnet heute besser klappen? Unter Druck hat es
in dieser Saison noch nie funktioniert. Es spricht alles gegen uns. 14.51
Uhr, Regionalexpress Richtung Mönchengladbach. Er ist rappelvoll.
Anruf bei Sam: "Bist Du im Zug?" "Nee, schon am Stadion". Genau richtig,
der Sam, der in Bochum nie früher als 20 Minuten vor dem Anpfiff da
ist, wartet in Gladbach bereits zweieinhalb Stunden (!!!) vor Spielbeginn
am Nordpark. Höllehöllehölle! Der Mischung im Zug könnte
brisanter nicht sein. Etliche Bochum-Fans lassen blau-weiße Schals
baumeln, von Bahnhof zu Bahnhof steigen mehr Gladbacher zu, ob in Duisburg,
Rheinhausen, Krefeld-Uerdingen, Krefeld oder Viersen, und dazu noch die
ganzen Wochenend-Ausflügler. Zu mehr als einem eingequetschten Stehplatz
im Türbereich hat es für mich nicht gelangt, und diese Fahrt
wird schrecklich. Die Türscheibe erwärmt die Sonnenstrahlen noch
einmal um fünf Grad, und ich schwitze ein wenig. Mein VfB Speldorf
in Mülheim liegt im Verbandsligaspiel gegen Wülfrath 0:1 zurück,
scheiße. Und seit Duisburg Hauptbahnhof steht der ekligste Mensch
vor mir, den ich je gesehen habe. Seit geschätzten vier Wochen hat
er sich und seine Klamotten nicht mehr gewaschen. Sein Alkoholpegel liegt
nicht unter zwei Promille. In seiner linken Hand hält er eine Zigarette
nach der anderen - natürlich bei Rauchverbot, aber Hinweise helfen
bei ihm nicht mehr. In der rechten Hand krallt er einen Cheeseburger von
Mc Donalds so fest, dass er ihn fast zerdrückt. Ketchup hängt
ihm an den Lippen, während der Schweiß von der Stirn Richtung
Mund herabsippt. Aus seiner Hosentasche lugt eine Flasche Bier hervor.
Ab Rheinhausen fängt der Typ auch noch an zu furzen. Sein Freund neben
ihm findet das alles zum Brüllen komisch, und am liebsten würd
ich nur noch weglaufen, wenn der Zug nur nicht so voll wäre. Puuuuuuhhh...
15.40 Uhr, endlich da! Mein Sauerstoff neigt sich meinem Ende (und auch
dem meiner meisten Mitreisenden - ob Borusse oder Bochumer) entgegen, als
ich zum wiederholten Male das Schild "Mönchengladbach Hbf" erblicke.
War schon oft hier, und selten so richtig hocherfreut. Und doch ist heute
etwas neu... der Bökelberg, so gern "altehrwürdig" genannt und
von mir als "Klassiker" oft an dieser Stelle gelobt, verstaubt gerade und
verrottet im Gladbacher Stadtteil Eicken (so heißt der glaube ich),
nördlich der Innenstadt. Der "Nordpark" ist neu. "Nordpark" steht
dann auch sogleich an den Bussen, die direkt am Bahnhof stehen und mich
gen Arena kutschieren. Na jetzt bin ich aber gespannt. Ich finde sogar
einen Sitzplatz. Um mich herum ausnahmslos Mönchengladbacher. Gut,
dass ich meinen Schal noch in der Vordertasche meines Rock-am-Ring-Pullis
versteckt halte. Der Bus rollt an und fährt. Und er fährt und
fährt. Und noch ne Ampel, und noch mal anhalten, und sind wir iiiiiiiimmer
noch nicht da?!? Boahhhh!!! Nach geschlagenen 15 Minuten endlich die Ankunft,
und HILFE, was war diese Hinfahrt doch nur eine Strapaze. Bevor ich überhaupt
die erste Stehstufe des "Nordparks" betreten habe, hat das Stadion einen
ganz ganz dicken Minuspunkt. Die Verkehrsanbindung ist miserabel. Dass
das Parkleitsystem ein Skandal sein muss, hat bisher jede Fangruppe beklagt.
Dass nicht einmal Bus und Bahn in Windeseile da sein können, und das
Stadion genau zwischen dem "Hauptbahnhof" und "Rheydt" liegt, macht die
Sache auch nicht besser. Und zu Fuß - so wie der gute, alte Bökelberg
- ist das alles auch nicht erreichbar. Gegenüber vom Fußball-
liegt das Hockeyspielfeld. Am WM-Stadion wird noch gebaut. Das wird völlig
übertrieben groß, wenn es einmal fertig ist. Niemals schauen
sich so viele Leute Hockey an, da gehen ja Zehntausende rein. Und glaubt
mir: Ich weiß, wovon ich spreche.
Kurz nach vier. Ich bleibe
stehen und erkunde die Umgebung. Aber nur eine Sekunde, denn zu erkunden
gibt es hier nichts. NICHTS! Wie ich erfuhr, entstand das Stadion auf einem
ehemaligen Militärgelände der Alliierten, das nach der "Wende"
brach lag. Mönchengladbach ist eine saukomische Stadt. Ich bin kaum
25 Minuten hier, und weiß schon, dass ich außerhalb eines Fußballspiels
hier wohl nie mehr Zeit verbringen möchte. Der ganze Niederrhein mit
Krefeld, Gladbach, bis rauf nach Kleve und Straelen ist mir zu ländlich,
konservativ, ach gebt mir noch mehr Vorurteile, die diesmal aber leider
stimmen. Gladbach, das ist ein wenig wie Klein-Kaiserslautern. In der Pfalz,
da gibt es nichts. Nur den FCK. Und aus allen umliegenden Dörfern,
Städten, kommen sie daher, um die "Roten Teufel" spielen zu sehen.
Und am Niederrhein? Genauso ländlich, genauso provinziell, und auch
nur ein Verein. Und auch reisen sie aus allen Eckchen des Umlandes an.
Kein kleinster Pisselbahnhof vergeht ohne Gladbach-Fan. "Ich hab neulich
den Kicker gelesen", sagt Sam, den ich um halb fünf vor der Bochumer
Kurve treffe, "die Gladbacher reden vom oberen Drittel in der Bundesliga
im nächsten Jahr. Raffen die nicht, dass die in fast genauso großer
Abstiegsgefahr sind wie wir?" Fachsimpeleien bei einer Cola. Sam gabelte
ich vor einer Säule sitzend auf. Seit 15.30 Uhr hockte er dort oder
auch wahlweise auf seinem Sitzplatz, um für anstehende Jura-Klausuren
zu lernen.
Es ist kein Problem, Sam
mit auf die Stehtribüne zu schmuggeln. Die Ordner kontrollieren die
Eintrittskarte kein Stück. Na prima, stehen wir wenigstens zusammen.
Sam überlegt, ob er seine Frau anrufen soll, damit sie bei "betandwin.de"
noch 15 Euro auf den VfL setzt. Ich habe meine Wette schon längt platziert
und es bei einem "mehr als zwei Tore" belassen. Ein todsicheres Ding. Sam
und ich suchen uns eine geeignete Stufe, blicken umher - und sind doch,
ehrlich, ein wenig enttäuscht. An diesem Stadion ist nichts besonders.
Die Lage ist scheiße, die Anfahrt beschissen, und innendrin ist es
nahezu deckungsgleich mit Rostock, Duisburg und Wolfsburg. Nur eben mit
20.000 Plätzen mehr. Wie Schalke sieht es gar nicht aus. Das Stadion
in Castrop-Rauxel-West ist wenigstens geschlossen und besticht durch eine
ganz nette Akustik. Aber wenn hier 100 Ultras ganz unten im Block etwas
anstimmen, dann ist das oben bei uns gar nicht mehr zu verstehen. Minuspunkt.
Bei der Konstruktion des Teils haben die Architekten wohl nur die Vorgaben
"keine Laufbahn", "alles überdacht", "Videowände" und "viele
viele VIP-Räume" erhalten. Mehr nicht.
Es gilt. Jetzt gilts! Nicht
mehr zittern müssen. Lasst uns heute verlieren. Mensch, wir sind doch
eh weg, dann können wir uns das ganze Herzblut sparen, dass wir in
den nächsten Wochen vermutlich vergeblich in diesen Verein investieren
würden. Depression. Ja! Heute ein Sieg! Und dann noch einer gegen
Hannover! Und dann sind wir wieder DA!! Euphorie. Kurz vor halb sechs.
Sam öffnet rabiat eine "Haribo Colorado"-Tüte, und gibt zu, dass
er genau wie ich kein Lakritz mag. Ich krame zwei Gummibärchen hervor
und kaue darauf rum, als Schiri Weiner in seine Piepe flötet. In 90
Minuten wissen wir mehr. Sam setzt 15 Euro.
Und dann Stille. Trauerminute.
Für den Papst. Im ersten Moment erschrecke ich mich. NICHT WIRKLICH,
ODER?? Was habe ICH mit dem Papst zu tun? Im konservativen Gladbach schweigen
alle. Natürlich. Zu Hilfe! Ich sage auch nichts. Aber ich rufe heimlich
ein leises "Tschüss" zu Harald Juhnke!
Mein Pulsschlag ist in den
ersten Minuten noch erstaunlich niedrig. Ich kann es mir sogar leisten,
meine beiden Hände in den Hosentaschen zu verkramen und dabei einen
DIN-A-4-Zettel zu zerknüllen. Tobias aus Mülheim hat ein Schreiben
verfasst, ganz auf eigene Rechnung. Ausgeteilt hat er es vor dem Stadion,
keine Ahnung, was drinsteht. Bei uns spielt Maltritz für Madsen. Etwas
defensiver also unsere Ausrichtung. "Schumi ist raus", sagt jemand hinter
mir. Das wird meinen Taxifahrer ärgern. Beide Mannschaften schmeißen
sich in die Zweikämpfe. Jede eigentlich überflüssige Grätsche
wird gefeiert wie ein Auswärtstor im Europapokal. Ab Minute sieben,
acht, neun, wird es interessanter. Und, oh ja, dafür sorgen nur wir.
Von Gladbach kommt nichts. Von den Spielern nicht, und von den Fans erst
recht nicht! Wann immer bei uns etwas nicht läuft, spielt jemand die
Kugel zu Edu. Und unser liebstes Luftloch wirbelt die Borussia-Abwehr ganz
schön durcheinander. Der Edu wird zu einer laufenden Kanonenkugel
für die Borussia-Abwehr, die irgendwann zwangsläufig los- und
zielsicher reingeht. Gleich viermal knallt Edu den Ball in der ersten halben
Stunde aufs Gladbacher Tor, dazu noch einmal Misimovic - es läuft.
"Ich glaube kaum, dass ich das jetzt wirklich sage", flüstere ich
Sam ins Ohr, damit es auch keiner hört, "aber ich habe das Gefühl,
dass die Spieler endlich einmal auch auswärts begriffen haben, worum
es geht!" 29 Minuten sind gespielt. Gladbach bisher sehr nervös, wenig
bis gar nicht zwingend. Wir haben das Ding hier im Griff. Man, wäre
das geil, wenn wir es schaffen, und dieser unsympathische Protzerklub erst
einmal in Liga zwei mit seinem Geld um sich schmeißen müsste.
Wäre das GEIL!! Dann passt Bönig im Mittelfeld fehl, Neuville
läuft frei den rechten Flügel lang, seine Flanke spielt Sverkos
im Fallen zu Kluge. Der vernascht mit einem kleinen Mini-Trick Bönig,
Knavs und Meichelbeck... und er trifft... 1:0 für Gladbach. Ist das
unverdient, ist das ein saumäßiges, saumäßiges, SAUMÄSSIGES,
DÄÄÄÄMLICHES TOR!!! "Man", winkt jemand hinter mir
ab, "ich hab es doch gleich gesagt. Jetzt hat Neururer wieder seine Ausrede.
Die ersten 30 Minuten gut gespielt, und dann ist es nach hinten losgegangen.
Das wars!" Oh ja, das glaub ich auch. Ein Rückstand. Das ist das,
was wir unter allen Umständen verhindern wollten. Wir sind wie gelähmt.
Nichts passiert mehr nach vorn, nur Lokvenc köpft noch einmal in Minute
44, aber ansonsten drückt Gladbach. Zum Glück trägt Neuville
ein grünes Trikot. Der trifft im Moment gar nichts mehr.
Halbzeit, ich hocke mich
hin. Der VfB hat das Spiel gegen Wülfrath noch mit einem blauen Auge
per 1:1 beendet. Auch meine türkischen Freunde von Galatasaray haben
1:1 gemacht, in Wuppertal-Sudberg. Der Lokalfußball verfolgt mich
nur nebenbei, nur zur Information. Der V-F-L ist aktuell. Die Stimmung
bei uns in der Kurve ist gut. Die Gladbacher sind nicht gut, verunsichert,
und für uns noch nichts verloren!! Wir KÖNNEN das noch drehen.
Kein "Neururer Raus"-Gebrüll bisher, kaum Meckereien. Sieben ereignislose
Minuten rum in Halbzeit zwei. Maltritz verliert einen Zweikampf gegen Sverkos
im Mittelfeld, wird gefoult, keine Ahnung, nicht ersichtlich. Kluge kriegt
den Ball, ein ziemlich guter Pass auf Jansen, der Colding auf zehn Metern
sieben abnimmt und dann mit Unterstützung des Innenpfostens zum 2:0
trifft. Das wars. That was it! Aus. Ende Gelände! Tschüss! Nimmer
wiedersehen! Fudschikato Klassenerhalt. "Occcchhh MANNNNN!", brüllt
Sam, und wir alle gucken wie beleidigte Kindergartenkinder, denen das Spielzeug
gerade schmerzhaft entrissen wird. "Zweeeite Liga... oh wie ist das schön,
Euch nie mehr zu sehen!" In Minute 56 vernehme ich erstmals lautstark die
Gladbacher Fans. Dieselben Gladbacher, die für "You´ll never
walk alone" die Anzeigetafel brauchen, um den Text mitzusingen. Echte Fußballer
wissen, wie der geht - oder summen nur mit. Pfff... der Text auf der Tafel!
Schwachsinn! Was tun? "Schieber" brüllen, weil Maltritz gefoult wurde?
Die Mannschaft auspfeifen? Mensch, 29 Minuten war es doch gut, doch dann??
Von der 30. bis zur 60. nur schrottreifer Mist. Aaaahhh! Ich könnt
heulen. "Ich setze auf ein 3:2", funkt Dirk aus München per sms. Wenn
das so leicht wäre.
Unser Trainer tauscht aus.
Colding und der formschwache Misimovic gehen. Neu dabei: Preuß und
Bechmann. Viele meckern. Die Auswechslungen von Neururer sind ohnehin ein
gerne gesehenes und viel diskutiertes Thema. Und jetzt hat er Diabang noch
auf der Bank, und bringt Preuß?? Wenn der Peter meint. Unsere Mannschaft
ist mausetot, aber die Gladbacher irgendwie auch. Anstatt den Sack zuzumachen,
und uns mit einer Packung nach Hause zu schicken, begnügen sich die
Grünen damit, den Ball in den eigenen Reihen zu halten und schon ab
Minute 65 übel auf Zeit zu spielen. Die "Colorado"-Tüte ist bis
auf die Lakritze leer, als Bechmann völlig freistehend den Ball über
das Tor löffelt. Weiter! Weiter! Weiter! Heute kämpfen sie! Sie
geben alles! 69., wieder Bechmann über rechts. Ein Dribbling, ein
Querpass auf Lokvenc - TOR! 1:2 nur noch. "Sauber der Robocop", brüllt
Sam, der unseren Vratislav-Lulatsch aufgrund seiner Unbeweglichkeit und
Antrittslangsamkeit umtaufte. Noch 21 Minuten, um einen, ach was, DREI
Punkte zu holen. "Over!", denke ich so bei mir und freue mich über
7 Euro Gewinn bei 4 Euro Einsatz. Immerhin drei netto.
Gladbachs Trainer Advocaat
schäumt und brüllt unentwegt an der Außenlinie. Er moppert,
schreit, das Spiel wird zerfahrener. Na gut, es war die ganze Zeit zerfahren,
aber nun...!?! Es ist noch nicht vorbei... Preuß, aus 20 Metern,
huiii, Zentimeter. Noch zehn Minuten. Wosz, aus 17 Metern, vom Strafraumeck,
huiii, Zentimeter. Die Zeit rennt weg. "Mehr Schwatte aufs Feld", sagt
Sam, kurz vor der Einwechslung von Diabang. Der hat uns hier schon einmal
das 2:2 gebracht. Und überhaupt: Sind nicht die letzten drei VfL-Spiele
hier 2:2 ausgegangen?? Aber noch fehlt ein Tor. Ein Punkt ist wenig, viel
zu wenig, und absteigen werden wir auch so. Aber das wäre es doch!
89:35 Minuten gespielt, noch einmal Freistoß. Van Duijnhoven sprintet
nach vorn. Flaaaanke, van Duijnhoven steigt hoooch, gewinnt den Kopfball,
Meichelbeck mit Dropkick... der Ball fliiiiiiegt und fliiiiiegt, abgefällllscht,
JAAAAA, JAAAA, JAAAAA, kreischen, kreischen, brüllen, hüpfen,
stürzen, umarmen, kratzen im Hals. Torjubelkratzen. 2:2. Die restlichen
zwei Minuten gehen im Freudentaumel unter. Im Freudentaumel über ein
Ergebnis, dass für uns eine bittere Niederlage ist. Aber so sind wir
Bochumer: Wir freuen uns über jeden Scheiß.
Die Mannschaft kommt, bedankt
sich artig. Die Unterstützung war okay und wir Fans sogar eine Einheit.
Sam und ich schauen uns an und werden nicht müde zu betonen, wie lustig
wir das Spiel fanden. Na gut, Sam hat in Minute 60 ganz schön laut
geflucht und um seine 15 Euro geweint, aber was interessiert ihn sein Geschwätz
von... Ihr wisst, wie der Spruch geht. "Man sind die Gladbacher dusselig",
sage ich zu Sam. "Hach, was war das lustig", antwortet Sam, ruft seine
Frau Nicole an und erzählt von dem Drama aus Gladbach. 19.25 Uhr,
ein Drama deutet sich auch bei der Rückfahrt an. Eine kahlgeschorene
Gruppe Jugendlicher steht vor uns in der endlosen Schlange, die bisher
lediglich vom HSV-Spiel getoppt
wurde, und einer fragt: "Gegen wen spielt Ihr nächste Woche!" "Hannover"
antwortet Sam. Auf einmal wird der etwa 15-Jährige von seinen deutlich
älteren Mitstreitern zurecht gewiesen. "Ey, was sprischt Du denn mit
dem da?", fragt er mit aggressivem Gesichtsausdruck. Er wollte noch das
Wort "Neger" anfügen, könnte ich schwören. Sehr, sehr traurig!
Mein "Stand up, speak up"-Armband flattert ungesehen um mein Handgelenk.
Ein paar Bochumer erblicken Sam. "Momooo ist ein Bochumer", rufen sie sofort.
Was Sam für Assoziationen auslöst, ist immer wieder erstaunlich.
"So vieles höre ich gar nicht mehr", sagt er und ich muss ihm das
glauben. Schlimm genug, dass er tatsächlich regelmäßig
Sprüche abbekommt. Lasst es mich sagen: Sam ist ein vorbildlicher
Vertreter des VfL Bochum, gerade bei Auswärtsspielen. Immer nett,
immer freundlich, immer witzig, immer friedlich. Auch wenn er seinen Rucksack
in der Busschlange auf den Rücken schnallt und nicht in der Hand trägt:
"Vielleicht muss ich meine Hände gleich benutzen!" Die Bus-Tortur
zurück zum Gladbacher Bahnhof dauert geschlagene 20 Minuten. Wieder
furzt jemand in einer Tour. Im ersten Moment denke ich sogar, dass bei
dieser Furz-Menge wahrscheinlich ich selbst der Übeltäter bin,
ohne etwas zu merken, aber neee... ganz bestimmt nicht. BAH!
Vor dem Bahnhof verdrücken
wir eine Bratwurst. Erst fünf Minuten später, als wir schon im
"Rhein-Haard-Express" von Mönchengladbach nach Münster, der über
Mülheim fährt, sitzen, fällt mir auf, dass ich 10 Euro statt
5 für zwei Würstchen bezahlt habe, und der Verkäufer mich
um fünf Euro beschissen hat. Sam trifft einen Nachhilfeschüler
von früher, ich begegne Stephan aus Münster, jaja, so ist das
beim Auswärtsspiel. In einem Vierer-Sitzeck im oberen Teil des Waggons
sind neben einer Gladbach-Frau noch drei Plätze frei. "Nein, das ist
nicht Euer ernst", sagt sie, aber doch, das ist es, und wir setzen uns.
Es wird eine lustige, analysierende, unterhaltende Rückfahrt mit Spielanalysen
und Erzählungen. Die Passagen über Sams bevorstehenden Jura-Prüfungen
schnallt die Frau, die dauernd von Mann und Kindern erzählt, die Köln-Fans
sind, und dass sie selbst aus Dülmen kommt, nicht wirklich. Sam will
jetzt doch Richter werden und hat neulich Gerd an seinem Arbeitsplatz getroffen.
That´s life. Kurz vor Mülheim schüttele ich Sam nach einem
verdammt witzigen Auswärtsspiel mit einem verdienten, aber dennoch
mordsmäßig glücklichen Punkt für uns die Hand. "Sag
mal, was trägst Du da für ein Armband?", fragt mich die Frau.
Ich erkläre Ihr die "Stand up, speak up"-Aktion. Die ist bei Gladbach
wohl nur wenigen bekannt.
Ausstieg in Fahrtrichtung
links. Es ist doch noch nicht vorbei. Eine Woche länger zittern. Immer
noch Sechzehnter. Mit der Moral packen wir das. Vielleicht. Oder nicht?
Alles doch eher unwahrscheinlich. Nee ja wieso.
V-F-L. V-F-L.
In dieser Saisonphase müssen wir wohl auch auf richtige Scheißspiele stolz sein - Phase zehn bricht an: Der letzte Hoffnungsschimmer vor dem Showdown
Gewonnen, mehr nicht
Einlaufen... also mein Favourite-Song wäre ja "Take a look around" von Limp Bizkit... ich sag nur: Mission Impossible...
Ian kommt aus Schottland.
Abpfiff, dreimal, nein,
viermal, ach quatsch fünfmal ganz ganz tief durchatmen. Wahrlich keine
Glanzleistung, die wir da heute abgeliefert haben, aber egal. Drei Punkte
geholt, erst zum zweiten Mal in dieser Saison "zu Null" gespielt. Wen holen
wir denn jetzt ein? Nürnberg? Mainz? Oder Gladbach? Wir haben es fast
wieder selbst in der Hand. Ein irres Gefühl, ein vor ein paar Wochen
niemals geglaubtes. Abstiegskampf, mittlerweile ist es Phase zehn. Der
letzte Hoffnungsschimmer. Nun fehlt nur noch der Schluss. Party oder Katzenjammer?
"Tschüss Sam! Tschüss Nicole!" heißt es an der Treppe zum
Block P rechts, und ich verschwinde Richtung Straßenbahnhaltestelle.
Schon von weitem erkenne ich den 2-Meter-Mann, der dort steht. Stephan,
der Straßenbahnfahrer aus Mülheim. Unmittelbar vor sich hat
er seinen Sohn, zehn Jahre alt, versteckt, fast so wie eine Kängeruh-Mutter
ihr Baby im Beutel. "Ja, jetzt können wir ja wieder hoffen", sagt
er kurz. Smalltalk über das Spiel. "Also von der zweiten Halbzeit
habe ich gar nicht so viel gesehen. Da war ich mehr am Bierstand." Stephan
hat eine Wollmütze auf, hey, aber so kalt ist das doch gar nicht.
Sein Sohn trägt eine weiße Mütze, mit der Aufschrift "We
are the people". "Aus Schottland mitgebracht", sagt Stephan und grinst,
bis der Arzt kommt. Oh je, ich weiß, was jetzt passiert. "Vor zwei
Wochen", erzählt Stephan und gerät in einen Ich-kann-Storys-auspacken-Singsang,
"da war ich wieder in Schottland. Pokalfinale. Jetzt braucht der Junge
keine Trikots. Vier Stück, dazu noch Schals, Fahnen, und alles umsonst.
Geschenkt gekriegt" Wenn der Zufall Stephan nicht in Mülheim auf die
Welt geschickt hätte und er es sich hätte aussuchen können,
dann wäre er in Glasgow oder Edinburgh gelandet. Hundert Pro. Wir
quetschen uns in die Bahn, fahren ruck, zuck zum Hauptbahnhof. Jetzt noch
ne Pommes essen. Wir stratzen zu Dritt die Rolltreppe hoch, und - oh Schreck
- der "City-Grill" hat immer noch zu. Und meine Befürchtungen werden
noch größer. Das Inventar ist fast komplett entfernt, und ich
befürchte, dass meine liebste Bude, die mich im letzten Jahrzehnt
begleitete, abgerissen wird. Kein Schild steht dran, nichts. Stephan will
noch zwei Bier kaufen, für sich und Ian. "Einer aus Schottland. Den
treffen wir am Bahnsteig." Also bestellen wir bei "Mc Döner" um die
Ecke zwei Hähnchen-Döner (für seinen Sohn und mich), eine
Cola (für mich) und zwei Bier. "Gleich in Mülheim geh ich nachem
Uli, inne Quelle. Der is ja Schalker. Dat kann ich mir nich verkneifen",
zwinkert Stephan. Bahnsteig. Auch im Bahnhof wird noch gebaut. Man ist
das eng. Ian kommt um 17.54 Uhr, zwei Minuten vor der Abfahrt. Ein leicht
übergewichtiger Mann, so um die 1,80, mit Dreitagebart, um die 40
Jahre alt, ziemlich abgewrackt angezogen. "Der is Manager einer schottischen
Band, sagt er immer", verrät Stephan. Gemeinsam lassen sie Moritz-Fiege-Flaschen
floppen. Rückfahrt. Immer wieder kommen die Gespräche auf das
Wochenende in Schottland. Ich erfahre, dass die Rangers das Pokalfinale
gegen Motherwell mit 5:1 gewonnen haben. "Too easy", sagt Ian und versucht,
die neue VfL-Hymne "Unsere Heimat, unsere Liebe, in den Farben blau und
weiß, achtzehnhundertachtundvierzig, nur damit es jeder weiß"
anzustimmen. Urkomisch klingt das, und noch geiler sind die Versuche von
Stephan, wieder einmal den Text zu übersetzen. "Our hometown, our
love, in the colours blue and white". Während er das sagt, mampft
er die Reste des Döners auf, und alle um uns herum amüsieren
sich. "We were so drunken", und dann landet das Gespräch wieder beim
schottischen Pokalfinale. Stephan erzählt, das er wohl Zigaretten
geraucht hat, und sich am Tag danach nicht mehr daran erinnern konnte.
Und dass er in zwei Wochen wieder hin will. Seiner Frau muss er das aber
noch verklickern. "Bye Ian. See you soon", sagt Stephan. "Bye Ian", sage
ich.
Gerd ist in Damaskus.
Morgens, 12 Uhr in Nordrhein-Westfalen,
in Mülheim. Ich schalte mein Handy an, und der Tickerton verrät
mir, dass irgendjemand eine sms geschickt hat. Auf meinem Handy klicke
ich ein wenig rum, bis ich die entscheidende Taste gedrückt habe.
Gerd. Boah, kommt der etwa schon wieder nicht? Wofür hat sich der
Kerl eigentlich eine Dauerkarte gekauft, wenn er sowieso nie da ist? Das
waren maximal 50 Prozent der Spiele! Bürschken!! Und Tatsache. Gerd
sagt ab. "Moin! Bin gerad in Damaskus und reise heut noch nach Amman, schaffe
es daher nicht ins Stadion. Schickste Ergebnisse? Insh allah schaffen wirs
ja noch... Salam aus Syrien!" Mensch, ich dachte, der hat gerade erst ein
Haus gekauft und ergo keine Kohle mehr für Urlaub. Getäuscht!
Dreieinhalb Stunden später stehe ich neben Sam, seiner Frau Nicole,
Krüger und all den anderen namenlosen, aber mir bekannten Gesichtern
im Block P rechts. Am Mülheimer Hauptbahnhof, da bin ich noch einigen
Fußballspielern des Klubs TSV Heimaterde begegnet. Keine Ahnung,
wo die sich rumtreiben. Mein Bruder Thommy war schon lange nicht mehr da.
Er hat sich per Mail für das letzte Heimspiel gegen Stuttgart angesagt.
Dirk ist in Wien.
Okay, Gerd muss ich also
schon einmal den sms-Ticker schicken. Es ist 14.30 Uhr, eine Stunde noch,
da frag ich doch gleich mal bei Dirk in München nach. "Aufholjagd,
Teil 39. VfL gegen 96. Mein Tipp 3:1..." Ziemlich fix eine Antwort: "Mein
Tipp 3-2, bin in Wien und sehr gespannt." Dirk, München, noch zwei
Wochen. Donnerstagabends, weeeeeeg, ab in den Zug, ab ins deutsche Museum,
auf den Marienplatz, na gut, München ist nicht meine Traumstadt, aber
doch eine Reise wert. Muss aber noch ne Eintrittskarte für das Spiel
kaufen. Mal gucken, vielleicht hat ja der Ticketservice heute auf. Und...?
Welch Überraschung! Er HAT auf! Und ich Dusselbirne fahre sonst extra
nach Bochum, um mir Auswärtskarten zu kaufen. Da habe ich in den letzten
Jahren einige Touren umsonst gemacht. So ein Shit! Nordkurve im Olympiastadion,
10 Euro.
Andi ist im Ruhrstadion.
Wir gewinnen, wir gewinnen,
wir gewinnen, wir gewinnen... jaaaaaaa! "Ist zwar ein richtiges Scheißspiel,
aber irre spannend", höre ich mich kurz vor Schluss zu Sam sagen.
Lasst uns dieses Spiel schnell vergessen. Wir wollen drinbleiben, brauchen
Punkte, und die haben wir geholt. Die Art und Weise spielt ausnahmsweise
überhaupt keine Rolle. Alles über der Kicker-Spielnote 4,5 geht
gar nicht. Erste Halbzeit, es passiert nichts. Zumindest nichts vor dem
96-Tor. Die Hannoveraner sind besser im Spiel, schalten besser um. Kaufman
und Stajner vergeben Hundertprozenter. Glück. "Das könnte 0:2
stehen", pustet Sam zwei-, ach dreimal tief durch. Pause. Jetzt auf unsere
Kurve. 55. Minute, warten auf unsere erste Torchance... Freistoßflanke
Preuß, Kopfball Maltriiiiitz, TOOOOOOOORRRR, EIGGEEEENNTOOORR, Cherundolo
fälscht ab, total dumm, wie blöd, egal, 1:0, 1:0, 1:0!!! Das
Glück ist wieder da, zurück im Ruhrstadion, wurde auch allerhöchste
Eisenbahn. Schon wieder rettet uns ein Eigentor!! 1:0, halten, halten,
halten, haltet das Ergebnis. Haltet es!! Und ich sehe das Positive: Die
Abwehrarbeit ist heute 1 A, was nicht gerade für Hannover spricht.
Rein sicher, Colding, Knavs, Meichelbeck und in der zweiten Halbzeit Tapalovic
sehr, sehr aufmerksam. Der in der Ostkurve überaus beliebte Meichelbeck
kriegt sogar verhaltene Sprechchöre. Wahnsinn... Wosz fleißig,
Lokvenc find ich im Gegensatz zu allen anderen Zuschauern sowieso gut,
Edu kommt nach der Pause besser rein. Unglücklich nur Madsen, Bönig
und Misimovic. Egal, kämpft, Jungs, kämpft. Weiter! Weiter! Eine
Chance bekommen wir noch, durch Edu, der den Ball kurz vor Schluss an den
Pfosten wuchtet. Das ist´s. Gewonnen. "Egal wie", heißt es
doch so schön.
Schlusspfiff. Erleichterter
Jubel. Wen holen wir jetzt ein? Nürnberg? Mainz? Gladbach?
... ist im VfL-Tagebuch 2004/2005 - TEIL 6 nachzulesen !
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