Oder auch: www.waz.de/zoom-mh
Links:
Startseite Beruf | Startseite Uni-Leben | Startseite VfL Bochum |
Startseite Konzerte | Startseite Reisen | Startseite Privates |
Tag für Tag stehen Zeilen in der WAZ,
die aus meiner Feder stammen – na ja, zumindest fast jeden Tag. Auf dieser
Seite kann ich Euch natürlich nicht alle Artikel präsentieren;
schließlich erscheinen pro Monat im Durchschnitt 4000 Zeilen von
mir, das macht über 240.000 Zeilen in den letzten Jahren!
Die überwiegenden Texte erschienen
im Sportteil, aber seit Mitte 1999 versuche ich mein Glück ab und
an auch in der Lokalredaktion. Auf dieser Seite seht Ihr nun meine Leckerbissen
aus den letzten Jahren Lokalredaktion. Seit dem 26. August 2005 existiert
übrigens die Jugendseite "Zoom", die einmal pro Woche erscheint. An
ihrer Entstehung und Entwicklung war ich beteiligt.
Viel Vergnügen!
Tabus brechen, Gags unter
der Gürtellinie - das ist sein Ding, das ist Tom Gerhardt. Mit seinem
vierten Solo-Programm Au Weia machte er am Samstag Station in der Stadthalle.
Gerhardt poltert, Gerhardt
prollt, Gerhardt pöbelt; ob als Türsteher Hansi, schwangere Carmen
oder Heizungsmonteur. Das ist die Masche des studierten Germanisten (das
ist er wirklich), und die Zuschauer kommen in Scharen. Wohlgemerkt sind
das überwiegend Fans, die ansonsten wohl kaum in den gemütlichen
Theatersesseln der Stadthalle Platz nehmen. Gerhardts Anhänger lieben
nun einmal deftige Späße. Schließlich erreichte der 42-Jährige
mit seinen Kino-Hits „Voll normal“ und „Ballermann 6“ Millionen.
Seine Solo-Auftritte? Die
werden schwächer.
Gerhardt erfreut seine Zuschauer
zwar mit den Erfolgsfiguren Hausmeister Krause und Pudelmützen-Tommie,
doch die Ideen gehen aus, sind nicht neu. Mit Kabarett hat das wenig zu
tun, lediglich als Jesus 2000, mit einem Kreuz auf dem Rücken; ein
interessanter Einfall. Jesus als Proll, der sich Sprüche anhören
muss wie „Hau ab, du Hänger“ und den Spitznamen Latten-Jupp trägt
- typisch Gerhardt.
Über zwei Stunden verpasste
er dem Publikum mit zwölf Nummern die verbale Faust, zwischendurch
sorgten drei Tänzerinnen – das Ballermann-6-Image muss eingehalten
werden - und ein Trommler für Stimmung. Ob das Programm schwächer
war oder nicht, dem richtigen Gerhardt-Fan ist das egal. Er lacht sowieso,
und wenn es nur die wirklich abgefahrenen Kostüme sind oder Gisela
und Ingo. Dieses Pärchen saß in der ersten Reihe...
Seine letzten Worte als
Pudelmützen-Tommie waren „Voll die Seuche“. In der letzten Zugabe
trat er mit Teletubbie-Kopf auf. „Au weia!“
aer
Mit Gags und Gangs durch
die Nacht
Mülheimer Silvester-Streifzug
Am Morgen danach erinnern
nur noch zerfledderte rote Knaller-Überreste und zertretene Glasscherben
an die durchzechte Nacht. Auch Mülheim schaffte den Sprung ins Jahr
2000.
Die irische Gruppe U 2 hat
mal gesungen: „All is quiet on New Years Day.“ Alles ruhig am Neujahrstag.
So ist es. Familien spazieren durch die MüGa, erzählen vielleicht
vom Vorabend. Vielleicht auch nicht.
Was ist das nur ruhig gewesen
um halb neun am Silvesterabend. Noch dreieinhalb Stunden bis Ultimo, bis
zum Super-GAU, dem Computer-Crash, gar dem Weltuntergang, wie unverbesserliche
Humoristen behauptet hatten. Und die Mülheimer feiern. Über die
Straßen streunen einige jugendliche Gangs und verschießen herumalbernd
erste Böller. Einige Lauschangriffe bei Privatpartys ergeben interessierte
News: Bei Hinz läuft das Fernsehen. Die ZDF-Gala aus Berlin. Modern
Talking singt grad vom Sexy Sexy Lover. Nebenan bei Kunz besäuft sich
die Jugend. Die CD von Nirvana läuft. Was für ein Stilbruch.
Die kleinen Partys sind
es, die Mülheim ausmachen. Auf den Straßen ist eigentlich gar
nichts los. Schon eher bei den geplanten Feten. 21 Uhr, Wasserbahnhof.
Eine romantische Stimmung. Die orangefarbenen Laternenlampen erhellen die
Stadt, ein leichter Wind umweht sanft die Ohren, die Wellen der Ruhr schlagen
ans Ufer. Noch drei Stunden. 120 Gäste im Franky's sind grad noch
bei der Vorspeise. Irgendwas mit Hummer und Lachs. Alle haben 350 Mark
für eine Karte bezahlt und werden dafür nach allen Regeln der
Kunst verwöhnt. Essen, Büffet, leckere Cocktails wie zum Beispiel
eine famose Virgin Pina Colada die nicht-alkoholische Version und
ein Rahmenprogramm wird hier geboten. Okay, der Zauberer kommt erst um
1 Uhr nachts. Nicht schlimm, dafür singt jetzt bereits Stargast Christian
Franke, das Stimmenwunder.
Ringlokschuppen, eine knappe
Stunde später.
Kirschgartenfest das
ist eine völlig andere Devise. „Es geht nicht um Silvester, sondern
darum, dass wir ein Fest zusammen feiern“, verrät Schuppen-Chef Holger
Bergmann. Für 99 Mark haben sich 200 Besucher sommerlich gekleidet
und es sich auf grünem Teppich gemütlich gemacht. Der soll Rasen
symbolisieren. In der Mitte ein Kirschbaum. Stühle? Nur am Rand! Gegessen
wird ganz picknick-like. Im Tanzpavillon läuft leise Musik. Besinnlich
gehts hier zu. Im Laufe des Abends verdunkeln sich die Lichter, bis nur
noch Sterne sichtbar werden. Bei jeder Gartenparty wird's dunkel. Einleuchtend.
Doch das bekommen wir nicht mehr mit.
Kristina Bach singt nämlich
in der Stadthalle Bei der Silvester-Gala des MCC Rot-Weiß. Im Foyer
und im Galasaal sind 600 Menschen versammelt; sie schunkeln, lachen und
essen. 19 000 Pfennige haben sie auf den Tisch gelegt. MCC-Boss Herbert
Rudolph stehen die Schweißperlen auf der Stirn, aber er ist zufrieden.
Schließlich hat er diese Silvester-Gala drei Jahre geplant.
Was sind das nur für
arme Schweine, die jetzt arbeiten müssen. Noch 22 Minuten bis zum
großen Gong, Modern Talking sind inzwischen bei SAT 1 gelandet und
haben noch immer den Sexy Lover drauf. In der DRK-Notrufmeldestelle an
der Löhstraße sitzen Holger Kleinbrahm und Clifford Vogt geschniegelt
und gebürstet, mit Anzug und Krawatte: „Man muss doch wenigstens ein
bisschen was draus machen.“ Sagen's und schlürfen Kaffee und Wasser.
Knall bumm peng
zisch. Es ist 0 Uhr, Guck-Ort Schlossbrücke. Bestimmt 100 Leute stehen
hier. Die Mülheimer sind ausdauernd.
Eine halbe Stunde ist der
Himmel blau, rot, gelb. Vom Weltuntergang keine Spur. Auf einer Parkbank
liegt eine Alkoholleiche. Auch das gab es in d e r Silvester-Nacht.
Andreas Ernst
Allo chefe? Gibbe neues
Ali-Programm. Isse damit aufgetreten in Stadthalle. Alles paletti?
Vier Worte als Visitenkarte,
perfekt zur Identifikation dieses Kabarettisten. Im Hirn des Düsseldorfers
Helmut F. Albrecht entstand die Figur Ali Übülüd, der mediterrane
Gastarbeiter, der das Chaos liebt.
600 Mal stand Albrecht mit
dem ersten Programm Radio Paletti auf der Bühne. Und nun Top-Job-Profis.
Wenig Neues aus Albrechts Feder, wieder zieht er Geschichtchen aus dem
Alltagsleben. Ali hat sein eigenes Zeitarbeits-Büro gegründet,
vermittelt Jobs an sich selbst oder andere. Dabei entstehen kleine und
große Abenteuer. Kein Vorurteil wird nicht durch Alis Brille gesehen
und dabei mit dem heillosen Durcheinander der Erlebnisse zu einem interessanten
und amüsanten Cocktail vermengt.
Ali baut für Noah getreu
dem Motto „Nach mir den Flutsint“ die Arche, verteidigt sich vor dem Sicherheitsausschuss
des Kernkraftwerks Biblis, in dem er Riesenkraken gezüchtet hat, und
beim Staatsbürgerschaft-Aufnahmetest hält er Ludendorff für
ein Rotlichtviertel. Die Gags funkeln leicht, aber so ganz zünden
sie nur bei den echten, den wahren Ali-Fans. Die Themen gehen in der Gesellschaft
halt nicht aus, und sicher lässt sich nach dem Ali-Strickmuster problemlos
noch ein drittes Programm schreiben.
Doch die starken Passagen
des Top-Job-Profi-Programms waren die, in denen Albrecht nicht Ali war,
sondern etwa der 82-jährige Rentner Günter, der eine revolutionäre
Zelle gründet, Swinger-Partys veranstaltet und die Probleme des Alterns
analysiert. Kein verschenkter, aber auch kein überschwänglicher
Kabarett-Abend war das in der Stadthalle. Helmut F. Albrecht hat dafür
ein gutes Ali-bi.
Andreas Ernst
Sie heißen Marie-Luise,
Angelika, Conny, Annemie, Renate, Brigitte, Doris; sehen in ihren Verkleidungen
ein wenig so aus wie der Club der Teufelinnen. Doch stopp, die Rede ist
von der Müttergarde.
Ein etwas anderer Termin:
Treffpunkt Parkplatz Ruhr-Sporthalle, Rosenmontag kurz vor 14 Uhr, bei
den Karnevalswagen der MüKaGe. An der Kaiserstraße formieren
sich die Wagen, am Horizont sind Hunderte von Narren zu sehen. Die haben
Lust auf Party, Bonbons, Bier und Sekt.
Und die reiferen Damen der
Müttergarde? Sie wollen strampeln! Welch eine Überraschung. Im
22-sten Jahr ihres Bestehens nehmen sie zum zweiten Mal mit einem eigenen
Vehikel teil, einem Fahrrad für zehn Personen. Sportlich, sportlich.
An alles ist gedacht: Geworfen werden Bälle, Mini-Frisbees, Lakritze,
Weingummi und selbst gebackene Krapfen. Der Wagen ist ausstaffiert mit
liebevoll aus Krepppapier gedrehten Rosen, fertig gestellt am wöchentlichen
Hausfrauen-Nachmittag. Los geht's aber in die Pedale treten die Frauen
doch nicht. Das Zehner-Radl besitzt vornedran einen Motor, welch eine Schummelei
... Da können sich die Mädels aufs Schmeißen, Kaffee trinken
und Singen konzentrieren. Getreu dem Motto „Und dann die Hände zum
Himmel“.
Viertel nach zwei: Auf dem
Präsidentenwagen der MüKaGe stehen Wolfgang Tremer, Hans Achterfeld
und Manuela Holterhoff. Brumm, brumm, brumm, drei kräftige Ruckler
kündigen den Start an. In Fünfer-Reihen drängeln sich die
Massen an der Kaiserstraße, in der Kurve zur Leineweber sind die
Reihen nicht mehr zu zählen. Helau!, Werft doch mal hierhin. Viele
Süßigkeiten haben die drei nicht zur Verfügung. Rosenmontag
mit Taktik: „Wieviel darf ich wo werfen, damit es bis zum Ende reicht?“
Doch Schluss mit den Gedanken. Upps, grad ist eine Mini-Frisbee am Kopf
eines gierigen Erwachsenen gelandet. Sorry!
14.45 Uhr Zeit für
Melancholie. Ein leichter Wind säuselt, der Rathausturm wirkt wie
eine Boje im Trubel, links und rechts Menschenmassen, selbst die Wolken
scheinen sich zu Bonbons zu formen. Das muss doch für Wolfgang und
Hans immer ein besonderer Moment sein. Wolfgang winkt ab, er ist seit Jahrzehnten
dabei: „Alles Routine. Ich fiebere nicht mehr darauf hin. Spaß macht's
trotzdem.“
„Heee-lau!“ Das ruft Manuela
nebenan lauter als sonst. Sie hat ihre Oma erspäht. Die Karawane
zieht weiter, vor dem Handelshof stehen viele Jugendliche; die schmeißen
gern mit Schmackes zurück. Ab in Deckung! Es geht zurück zur
Leineweber, schließlich um 16.15 Uhr in die letzte Kurve vor dem
Parkplatz. Wie geht's der Müttergarde? Vor dem Rathaus gab's keine
Bonbons mehr, da musste nachgeladen werden. Es war nicht so aggressiv wie
in den Vorjahren, strahlt Angelika. Den Rosenmontag werden die Muttis gemeinsam
in einem Restaurant ausklingen lassen. Und diesen Tag bestimmt nicht vergessen.
„O-la-la willst Du eine Pizza?“ Mitschunkeln zwingend erforderlich.
Das war's. Der Zug ist vorbei.
Die Straßen leeren sich. Die Schallwellen des letzten Helau bahnen
sich den Weg durch die Gassen.
Bis zum nächsten Jahr!
Andreas Ernst
Er singt von blinden Passagieren,
Labyrinthen und leeren Manegen; sie beschäftigen sich mit Jura, Wirtschaftswissenschaften
und Medizin. Er, das ist Olaf Henning; sie sind Mülheimer Studenten,
die den Olaf-Fanklub blinderherzclown gründeten.
Studenten und die simpel
gestrickte Musik des Sonnenstudio-braunen Schlagerstars; passt das zusammen?
Ja, das geht, meinen Marc Horstmannshoff (22), Björn Steffen (22),
Jens Steffen (25) und Björn Bremeyer (23), vier von zehn Gründungsmitgliedern
des Olaf-Fanklubs. Sie verfolgen ihren Star zu Stadtteilfesten, Autogrammstunden,
Jubiläumspartys von großen Kaufhäusern und in viele Ruhrgebiets-Discos.
Sie hören immer dasselbe
Programm, aber echten Fans wird nicht langweilig. Björn und Jens flogen
im Sommer sogar nach Mallorca, ins „riu Palace“. Zweimal pro Woche tritt
Olaf in der Hochsaison dort auf. Mülheim grüßt Olaf
den Erkennungssprechchor des Fanklubs einmal auf Malle singen. Das ist
fast schon ein Lebensziel, ruft Marc. Zwei Textzeilen begeisterten anfangs:
„Du bist nicht mehr Herz-Dame, Du bist höchstens noch Pik-Sieben.“
Super Partymusik, meinten die Studis, erwarben Tickets für einen Henning-Auftritt.
Als Gag bemalten sie T-Shirts, erfanden den Namen „blinderherzclown“, eine
Collage dreier Olaf-Hits. Aus einer spontanen Laune erwuchs ein ernst gemeinter
Fanklub. „Eigentlich sollten wir in die Fanklub-Zentrale in Witten eingegliedert
werden. Aber von Olaf bekamen wir eine Sondergenehmigung“, blickt Björn
zurück. Na klar, Olaf Henning ist ja auch gebürtiger Mülheimer.
Mittlerweile stehen in der
Klub-Liste 33 Namen, auch von Nicht-Studenten. Die T-Shirts sind professionell
gedruckt und jeder Olaf-Abend wird zelebriert. „Wir treffen uns vorher,
trinken ein paar Bierchen, trällern auf dem Hinweg ein paar Olaf-Lieder.
Vor dem Auftritt quatschen wir ab und zu noch mit ihm“, erzählt Jens.
Die Niveau-Frage stellen sich die Jungs und Mädels nicht. „Wir haben
Spaß. Er hat Spaß.“
Auch gestern im Ringlokschuppen.
Da stand der komplette „blindeherzclown“ und rief „Mülheim grüßt
Olaf.“ Der antwortete, und der Jubel war groß. Wie immer.
Noch fünf Schritte
bis zum kollektiven Freudentaumel. Der Ball liegt auf dem Elfmeterpunkt,
die Hände von Zehntausenden türkischer Fußball-Fans auf
dem Globus zittern. Popescu läuft an ... und verwandelt - Galatasaray
Istanbul hat den UEFA-Cup gewonnen.
Im Ruhrstadion sind die
Holzbänke für 300 Zuschauer kein Hindernis die Fans hüpfen
von oben nach unten, tanzen, küssen sich. Eine Werbeagentur hatte
die Party organisiert und dafür in vielen Nachbarstädten geworben.
Boris Walitza, Geschäftsführer des in Styrum heimischen Fußballklubs
Vatan Spor, fühlt sich pudelwohl: Ein sehr stimmungsvolles Fest. Es
macht sehr viel Spaß. Der komplette Vatan-Vorstand ist ebenso anwesend
wie sechs Spieler des Landesligisten. In den Halbzeitpausen dudelt
türkische Musik durch die Lautsprecher. Die Tribüne dient als
Mega-Tanzfläche. Selbst Tarkan hätte nicht für bessere Stimmung
gesorgt. Nach dem goldenen Schuss im Elfmeterschießen geht es von
den Sitzbänken auf den Rasen Jubelschreie en masse.
23 Uhr, die Nacht ist noch
jung. Die Eppinghofer Straße wird abgesperrt. Hupende Autos fahren
vorbei, die Innenstadt ist in ein rot-gelbes Farbenmeer getränkt.
Galatasaray-Fahnen und Türkei-Flaggen hängen aus den Wohnungen
und Autos. Minutenlang wird der Kreisverkehr blockiert. Es war eine große
Party. „Wir konnten vor unserem Lokal kaum gehen“, berichtet ein Wirt des
Restaurants „Zum Bürgermeister“.
Erst ab Mitternacht schallen
keine Hupentöne mehr durch die Straßen. Lediglich die Fahnen
lassen erahnen, was passiert ist. Im Sommer findet die Europameisterschaft
statt. Auch die Türkei ist dabei. Die türkischen Fans planen
die nächsten Partys.
aer
Leise betritt der Spätankömmling
den Raum. Der Zigarettengeruch vermengt sich mit dem Duft des türkischen
Tees zu einem orientalischen Mix. Im EM-Viertelfinale Portugal gegen Türkei
sind 44 Minuten gespielt.
„Wie steht's?“ Pssssst....
1:0 für Portugal. Gerade ist das Tor gefallen. Die Vereinsfamilie
des türkischen Klubs Vatan Spor sieht sich das Spiel gemeinsam an,
im Cafe von Vereinsmitglied Münir. Hier ist nicht mehr Mülheim;
hier ist Istanbul. Live-Atmosphäre. Nur die deutsche Reporter-Stimme
von Reinhold Beckmann stört. „Den türkischen Sender empfangen
wir hier nicht“, weiß Boris. Wimpel hängen an der Wand und Fotos.
Ansonsten werden hier Karten gekloppt, jetzt langweilen sich Herz-Dame
und Pik-Bube. König Fußball regiert. Spieler, Fans, Vorstandsmitglieder
von Vatan starren auf den Bildschirm; schweigend, wie es sonst so gar nicht
türkische Fan-Art ist. Die Mienen sind so betreten wie das Wetter,
also verdammt trübe. Turan kommt von rechts: „Stell Dir vor: Alpay
hat 'Rot' gesehen. Jetzt haben wir Unterzahl.“ Das Leben ist kurzweilig,
erst recht der Fußball. Arif dringt in den Strafraum ein, 80 Personen
springen auf, Teetassen fallen um, ein portugiesischer Abwehrspieler holt
die unfaire Bremse raus: Elfmeter. Ein Jubelschrei durchzieht die Sandstraße,
aus dem gegenüber liegenden Cafe Marama stürmen die Fans auf
die Straße. Münir ordert eine Lokalrunde. „TÜR KI
YE! TÜR KI YE!“ Arif schießt selbst. Vier Schritte bis
zum Ausgleich. Wir holen den Titel, durchschallt es den Raum. Arif läuft
an... kurze Trippelschritte... vergurkt... gibt's doch gar nicht. „Unser
Trainer ist bekloppt. Arif hat vorher noch nie einen Elfmeter geschossen.“
Jetzt wird's schwer. Der
Schiedsrichter pfeift ab. Fünf Handys brummen und fiepen. Halbzeit-Analyse
mit der türkischen Heimat. 0:1.
1:0. Drei Straßen
weiter, in der Georgstraße, liegt das portugiesische Kulturzentrum.
Ein Folklore-Straßenfest hat hier stattgefunden. Es riecht nach Sardinen
und Stockfischbällchen. Ein Fest ohne Teilnehmer? Nein, alle sind
drinnen. Dort liegt die Spannung. Hier schweigt niemand. Wer schweigt verliert.
Ein Flair à la Lissabon. Von Istanbul über Mülheim nach
Lissabon. Wahnsinn. Joao hat sich in seine grün-rote portugiesische
Fahne vergraben. Muss dem warm sein. Toni ruft ganz laut im Dreier-Takt:
POR TU GAL. Die Menge stimmt ein.
Die Bude ist rappelvoll.
Maximal 60 passen rein. 120 sind drin. Die Hitze ist eigentlich unaushaltbar.
Eigentlich... Jeder portugiesische Spieler wird gefeiert, als würde
der EM-Pokal schon in Südwest-Europa stehen.
Das Leder fliegt in den
Strafraum, Nuno Gomes versenkt zum 2:0.
Eine Jubelorgie ist nichts
dagegen, eine deutsche Fußball-Kneipen-EM-Party ein Langweiler. Die
Südländer brauchen nicht mal Alkohol. Fünf Fans stürmen
nach draußen, springen in ihr Auto und hupen. Türkische Fans
werden im TV gezeigt. OOhhhh..... Ein portugiesischer Fan ruft ganz laut:
„Türkiye!“ Die Menge lacht. Keine Spur von Mitleid.
Noch 25 Minuten sind zu
spielen. Die portugiesische Mannschaft ist klar besser, vergibt eine Großchance
nach der nächsten. Die Hände sind pausenlos am Himmel. Es bedarf
dazu nicht der Hilfe eines Karnevals-Schlagers.
„FIGO!“ „BAIA!“ „SA PINTO!“
Portugal hat neue Nationalhelden. Die Mülheimer Fans jubeln. Vier
Minuten noch, alle zählen mit, drei, zwei, eine... AUS!
Draußen gießt
es in Strömen. Egal. Eine Erkältung riskieren nur wegen eines
Fußball-Siegs? Aber klar doch, kein Problem. Jetzt werden die Hupkonzerte
erst richtig laut. In der Heimat ist es jetzt bestimmt viel wärmer.
Ein Blick zu Münir.
Sein Cafe hat sich geleert, das Fernsehgerät ist ausgeschaltet.
Die vorbeifahrenden portugiesischen Wagen werden ignoriert. Herz ist Trumpf.
Andreas Ernst
Sie ist bunt, glitzernd,
dauernd partybereit und friedlich, diese Schlagerwelt. Am Freitag nahmen
900 Fans in der Ruhr-Sporthalle ein Bad in der vermeintlichen Idylle. Olaf
Henning kam, sang und gewann das Spiel.
Er sei der Shooting-Star
am deutschen Schlager-Himmel, sagt ZDF-Grinse- und Schlager-Fachmann Uwe
Hübner gern. 20 Jahre hat Olaf Henning am Zehntweg gewohnt. Dass er
seinen Wohnsitz nun nicht mehr in Mülheim hat, verschweigt er besser.
Er hat ein Heimspiel. 20.45 Uhr im Nikolaus-Kostüm betritt er
die Bühne, trällert seine Hits. Blinder Passagier, Die Manege
ist leer. Ein Dankeschön-Konzert soll es sein. Schließlich hat
Olaf die Oktober-Hitparade gewonnen. Der Erlös geht an ein Kinderheim.
Welches? „Oh, da hab' ich spontan keine Ahnung“, gibt der Manager zu. Die
Werbung scheint die Hauptsache zu sein.Übrigens ließ sich der
Mülheimer Fanclub „Blinderherzclown“ breitschlagen, den Security-Dienst
zu übernehmen. Bunte Schlagerwelt. . .
Olaf Henning gibt den Leuten
das, wonach sie gieren: einen wummernden Bass, der am nächsten Tag
noch im Schädel dröhnt, eingängige Melodien, die eigentlich
immer ähnlich klingen, sowie Texte, die ausnahmslos von Herzschmerz
handeln und meistens jede Art von Tiefsinn vermeiden. Sein neuester Hit
heißt „Dicke Eier, Weihnachtsfeier“. Zeilen in anderen Songs lauten
„Komm', hol' das Lasso raus, wir spielen Cowboy und Indianer“ oder wie
in seinem ersten Hit „Du bist nicht mehr Herzdame, Du bist höchstens
noch Pik Sieben.“
Seine Fans stehen auf sowas.
Sie reisten gar aus Brandenburg an. Dass Olaf Henning alle Titel offensichtlich
begleitet vom Halb-Playback singt ungewöhnlich für ein
Live-Konzert finden sie nicht weiter schlimm. „Der Olaf, der kann
total geil Party machen.“
Die Fanschar wird offenbar
größer. Vor vier Wochen erst begann die Werbung für das
Konzert, in kürzester Zeit war die Halle ausverkauft. Viele junge
Mädchen kreischen. Für den Mann, der in jedem zweiten Lied auffordert:
„Und jetzt alle die Hände nach oben.“ Für den Mann, der 327 Mal
in diesem Jahr auftrat und seinen Anhängern überall sagte: Ihr
seid die Besten. Mit „Das Spiel ist aus (Game Over)“ wurde er am Samstag
übrigens Dritter der ZDF-Jahres-Hitparade. Die Fans nennen ihn dafür
Schlager-Gott.
Allerdings nur in den ersten
drei Stunden des Auftritts: Weit nach Mitternacht ist es, da sind von den
900 Besuchern nur noch 200 da, einige haben viel getrunken. Der Manager
betritt die Bühne. Wollt Ihr noch mehr Olaf Henning? Nein danke, es
reicht.
Das Spiel, äh, Konzert
ist aus. Game Over.
Andreas Ernst
Sein Bauch wird runder,
der Vollbart ist immer noch dran. Kabarettist Volker Pispers präsentierte
im Rhein-Ruhr-Zentrum sein Programm „Damit müssen Sie rechnen“.
Vorreden braucht er keine.
Er platziert sich neben einem Stehtisch und plaudert. Zweieinhalb Stunden
lang legt Pispers das Stethoskop auf Politik und Gesellschaft und diagnostiziert
ohne Einfühlungsvermögen für den Patienten. Er wirkt, in
dem, was er sagt, wie ein Anhänger der Grünen – allerdings desillusioniert,
seitdem diese Partei an der Regierung beteiligt ist. Er schont niemanden.
Nicht die Opposition, aber schon gar nicht die rot-grüne Koalition.
Auch nicht Gerhard Schröder, Lehrer, Ärzte oder die Deutschen
allgemein („Deutsch - das ist ein genetischer Defekt“).
Die Sprüche des Trägers
des Deutschen Kleinkunst-Preises sind zynisch, oft makaber. Er präsentiert
den Zuhörern Zahlenspiele („Jeder Bürger gibt im Monat 14 Pfennig
für die Abgeordneten aus. Und was nichts kostet, ist nichts“), springt
schnell von Thema zu Thema; Volker Pispers macht es den 600 Kabarett-Interessierten
im Cinemaxx nicht leicht.
Aber dank seiner brillanten
Mimik und Gestik wird es nicht langweilig. In den zwei Teilen des Programms
streift er alle wichtigen politischen Themen, wie die BSE-Krise („die dümmsten
Bauern hatten den dicksten Landwirtschaftsminister“). Auch die CDU-Spendenaffäre
und die Diskussionen um eine Leitkultur und um einen Rechtsruck in der
Republik geraten in den Blickfang des verbalen Wadenbeißers.
Als Pispers das Thema NATO-Einsatz
im Kosovo anspricht („Rudolf Scharping - vom Waschlappen zum Staatsmann.
Das ist nur im Krieg möglich.“), lachen allerdings nicht alle im Saal.
Es wird ruhiger. Volker Pispers begeistert nicht jeden.
Von Andreas Ernst
Von diesen Hupkonzerten
werden sie noch ein Weilchen träumen! Türkische Fußball-Fans
verwandelten Mülheim am Samstag in einen rot-weißen Ozean der
Glückseligkeit und machten den Tag zur Nacht. Die Türkei steht
im Halbfinale der Fußball-Weltmeisterschaft - Türkiye yari final!
Zum Beispiel die Ulu-Moschee
an der Feldstraße. 150, vielleicht auch 200 Fans haben sich versammelt,
lassen die rote Fahne mit dem weißen Stern und dem weißen Halbmond
wehen. Der Grillgeruch steigt in die Nase, doch das Fleisch verbrennt fast.
Na klar, auch
der Grillmeister will gucken.
Gebannt starren 300, vielleicht auch 400 Augen auf den Fernseher. Es läuft
nicht wie geplant. Laut feuern die Fans ihre Spieler an, wie Yildiray Bastürk,
der in Leverkusen spielt. "Yürü - yürü - yürü"
(lauf, lauf, lauf) rufen sie ihm aus mehreren Tausend Kilometern Entfernung
zu, um nach einem dummen Ballverlust mit trapattonihaften Gesten aufzuspringen.
"Hayretya!" Das darf doch nicht wahr sein! So ein Mist!
Der Vorsitzende (auf türkisch:
Baskan) der Ulu-Moschee, Musa Yeter, schlendert durch die Reihen, versorgt
die durstigen Kehlen mit Tee und Kaltgetränken. "So viele Chancen",
murmelt er. "Das gibt's doch nicht", ergänzt Enver Sen, Vorsitzender
des Ausländerbeirats. Der Ärger richtet sich auf Hakan Sükür,
Stürmer außer Dienst. "Der ist so schwach wie Bierhoff", mosert
Ergin Yeter. Was für eine Beleidigung ...
Es fällt und fällt
kein Tor. Torwart Rüstü ist der Star. Jede noch so leicht abgefangene
Flanke wird mit Beifallstornados belohnt. Torhüter als Helden - schau
nach bei Olli Kahn.
Verlängerung. Schweißgeruch.
Dann eine Flanke von Ümit, ein Schuss von Ilhan - TOOOOR! "TÜR-KI-YE!
TÜR-KI-YE!" 1:0 gewonnen! Ein Rockkonzert ist nichts gegen dieses
wilde Rumgehüpfe. Auch neutrale Beobachter werden in den Jubelsturm
einbezogen, umarmt, geherzt. Die Party kann beginnen: Den fertigen Döner
in die Hand (er schmeckt wirklich!) nehmen, raus auf die Straße,
rein in die Autos. Jubeln bis zur Heiserkeit.
Was-kostet-die-Welt-Stimmung!
Die linke Hand auf die Hupe, in der rechten eine Fahne. Türkiye yari
final!
Ein weißer Stuhl
steht auf der Bühne, drei Gitarren liegen davor. Ein Mann im Nadelstreifenanzug
setzt sich, begrüßt 40 Zuhörer. Tom Liwa spielt im Ringlokschuppen.
Solo und unplugged.
Ein Liedermacher, der beweist,
dass Rock nicht oberflächlich sein muss. Ein grummelnder Romantiker,
der laut Eigenaussage Romantiker hasst. Einer, der in seinen Träumen
von Jürgen Möllemann gefoltert wird. Das ist Tom Liwa. Seine
Texte können Nadelstiche sein, zu Diskussionen zwingen. Sie laden
den Hörer aber auch ein, die Augen zu schließen, nichts zu sagen
und sich wie im siebten Himmel zu fühlen. Einst spielte der Duisburger
für die "Flowerpornoes", nun ist er 42 und seit einigen Jahren solo
unterwegs. In Deutschlands Künstlerszene wird er geschätzt. Sein
Publikum duzt er, und unterhält es in den Pausen zwischen den Songs
mit leisen Geschichten aus seinem Leben.
Der Abend beginnt politisch,
mit "Kylie und Jochen". Politik und Religion ("Frag nie wieder") sind die
Themen - und natürlich Liebe. Das Stück "Faultier" schrieb er
für seine Frau. Er erzählt das ("Faultiere sind sehr intelligent")
- und seine Fans schmunzeln. 22 Stücke spielt Tom Liwa, die melancholischen
Töne dominieren. Zum Beispiel in Höhepunkten wie "Für die
linke Spur zu langsam", "Eskimo" oder "Julianastraat". Dort heißt
es: "Diese Welt ist ein trauriger Platz, an dem man immer wieder vergisst,
wie traurig man ist." Da wippt das Publikum einen Tick heftiger mit und
klatscht ein kleines bisschen lauter.
Jeder Akkord ist ein Genuss,
die einschmeichelnde Stimme ein Erlebnis. "Ich sitz gleich da vorn und
rauch", deutet er nach Lied Nummer 22 auf die Treppe und verabschiedet
sich. Die Fans schlendern vorbei, und danken ihm mit viel Applaus für
zwei schöne Stunden.
Der Mann ist Schauspieler,
war Berliner Tatort-Kommissar, bekam Preise für "RTL Samstag Nacht".
Nun versucht sich Stefan Jürgens als Musiker und Kabarettist. Zur
Eröffnung der Reihe "Kabarett im Zett" präsentierte er das Programm
"Langstreckenlauf".
Auf der Bühne steht
ein Klavier und ein Hocker. Jürgens kommt, begrüßt im Cinemaxx
die Zuschauer und spielt.
Jürgens solo? Wie soll
das gehen? Standby-Comedy ist seine Sache nicht. Er sucht eine Nische in
der Kabarett-Welt - und meint, sie in einer Mischung aus melancholischen
Klavier-Songs und witzigen Texten aus der Alltagswelt zumeist im üblichen
Mann-Frau-Familien-Schema zu finden.
Das alles ist nicht nur
aneinandergereiht, sondern soll Sinn machen. Welchen? Romantische Begriffe
spielen die Hauptrolle, wie "Stille". In den Liedern wie "Boot aus Schlaf"
sowieso, mit eindringlichen Natur-Bildern. In den Texten geht es rasant
zu - so wird er von seiner Familie einmal durch Karstadt gejagt. Auch dabei
bleibt er der einsame Rufer, der der permanenten Kurzatmigkeit entflieht,
das Tempo drosselt. Er singt "Leise und ruhig dreht der Wind". Sagt "Zeit
ist nicht nur Einteilung des Tages, sondern auch Stille, die Fülle
der Erinnerungen".
Jürgens trägt
sein drittes Soloprogramm vor, das aber nur wie ein weiterer 90-minütiger
Gehversuch in der Solo-Welt wirkt. Die Witze sind mal gut und mal schlecht.
Sein Beitrag zum Thema Ikea lautet: "Lebst Du schon oder schraubst Du noch?"
Naja. Richtig witzig ist es nicht, aber auch nicht richtig melancholisch.
Sich auf das Programm einzulassen und die Schnittmenge zwischen Liedern
und Texten herauszuarbeiten, ist schwer.
In der Zugabe versucht Jürgens,
das Programm nach einem angespielten Klavierstück ironisch zu brechen,
indem er "Mein Gott, klingt das alles melancholisch" sagt. Indes: es gelingt
nicht. Ein netter Versuch, nicht mehr. Jürgens erhält Applaus
- aber keine Ovationen. Beides zu Recht.
Sein Markenzeichen ist ein
rotes Cordhemd, die Frisur erinnert an Manfred Krug. Horst Evers präsentierte
zum Abschluss der Reihe "Lach.haft" in der Sparkasse sein Programm "Horst
Evers erklärt die Welt".
Es kommt nicht oft vor,
dass ein Humorist zu Beginn erst einmal sein Programm erklärt, und
nicht die Welt. "Ich weiß nicht, ob Sie wissen, was auf Sie zukommt",
begrüßt er die 70 Zuhörer. Und was kommt? Zwei einstündige
Teile, in denen er im Stehen insgesamt 15 Texte vom Blatt abliest. "Vorleseshow"
nennt er diese etwas andere Kabarettform, die unter anderem mit dem "Salzburger
Stier" und der "Tuttlinger Krähe" ausgezeichnet wurde.
Die Geschichten heißen
zum Beispiel "Zwei Plätze für Scholz", "Ich war der Appendix"
oder "In Würde altern". Politisch sind die nicht. Sie behandeln Alltagsthemen.
Die fasst der sehr schöne Text "Das große Spiel" zusammen, der
in Evers Gehirn spielt. Vor 2,5 Millarden Gehirnzellen treffen die Teams
"1. FC Horst jetzt reiß dich aber mal zusammen" und "VfL boarh bin
ich kaputt" aufeinander. Das "Golden Goal" schießt der Stürmer
"He lass mal n' Bier trinken gehen". 1:0 für den VfL.
Wenn Horst Evers in der
Pause mit den Zuhörern am Tresen gestanden hätte, es wäre
nicht aufgefallen. Er verbreitet den "Er ist einer von uns"-Charme, ohne
dabei prollig zu wirken. Wer ihn anschaut und anhört, kann sich sofort
vorstellen, wie er in Berlin in seiner Wohnung sitzt und sein Alltagsleben
in Worte fasst.
Seine Texte haben einen
trockenen Humor. Sich in Horst Evers kleiner Welt zurechtzufinden - der
Programmtitel ist Ironie - ist manchmal anstrengend, aber doch witzig.
Nach zwei Schmunzelstunden erhält er daher viel Applaus.
aer
Von Andreas Ernst
Treffpunkt Ratssaal.
Der Regierungschef aus Japan und der Wirtschaftsminister Arabiens sitzen
an einem Tisch und verhandeln. Ein geheimes Gipfeltreffen in Mülheim?
Nein! Bis morgen führt die Willy-Brandt-Schule in Zusammenarbeit mit
der Bundeswehr das Simulationsspiel "POL&IS" durch.
Jürgen Wolf, Jugendoffizier
der Bundeswehr, läutet eine Glocke. Es wird ruhig. "Wir sind hier
am East River in New York zusammengekommen, um den Ernteertrag des nächsten
Jahres zu erfahren." Elf Wirtschaftsminister gehen zum Pult, nehmen nacheinander
zwei Plüsch-Würfel in die Hand und schleudern sie auf den Boden.
Eine "7" für Asien. Ernte: durchschnittlich.
Klingt kompliziert - ist
es aber nicht. In den 70ern wurde das Planspiel zu Politik und internationaler
Sicherheit entwickelt. Die Welt besteht darin aus elf Regionen, der UNO,
der Presse, der Weltbank und NGOs wie zum Beispiel Greenpeace. Jedem Schüler
wird eine Aufgabe zugelost, zum Beispiel Regierungschef oder Oppositionsführer.
In Mülheim sind es 44 aus zwei Erdkunde-Grundkursen der Jahrgangsstufe
11 der Willy-Brandt-Schule.
Zu Beginn bekommen alle
eine Ausgangssituation mitgeteilt - und dann wird verhandelt. Gespräche
über geheime Geschäfte, Waffenlieferungen, Abrüstung, Kooperationen.
Am Ende eines jeden POL&IS-Jahres wird in verschiedenen Bereichen Bilanz
gezogen. "Wir schaffen in drei Tagen fünf bis sieben Jahre", erklärt
Benjamin Wittekind, ebenfalls Jugendoffizier. Sieger gibt es nicht. "Am
Ende wird analysiert", sagt Wittekind.
Beratend dabei sind die
begeisterten Lehrer Mathias Kocks und Thomas Bremkes. Der Lerneffekt ist
hoch: Die Schüler können ihr Wissen über Staaten und Organisationen
sowie die UNO komplettieren und anwenden. Und sie gewinnen rhetorische
Fähigkeiten, durch Vorträge vor dem Plenum oder in Gesprächen.
"Es treffen zig Interessen aufeinander", sagt Kocks - und begibt sich zum
Ozeanien-Tisch, um sich über die Entwicklungen "down under" zu informieren.
Neben der China-Flagge sitzt Mirko Schumacher. Er trägt einen Anzug.
Mit Krawatte. An seinem Revers pappt das Schild "Wirtschaftsminister".
"Wenn man die Welt rettet, muss man sich auch so anziehen", sagt er. Anfangs
war er skeptisch, genau wie Stefan Keienburg, der Kollege von der Presse.
"Ich muss alles dokumentieren", sagt er. Beide sind nun mit vollem Elan
dabei - acht Stunden am Tag.
Ab heute Abend wird im Ratssaal
"nur" über lokale Themen gestritten. Japan und Arabien treffen sich
woanders.
Von Andreas Ernst
An der Theke steht Michel
und bestellt ein Bier. Links daneben Björn, ebenfalls gut gelaunt.
Im Hintergrund läuft "Jump" von Van Halen, ziemlich laut. Ein normaler
Freitagabend im Ringlokschuppen. Und doch nicht. Auf dem Kalender steht
"24. Dezember".
Die Uhr zeigt 23.45 Uhr.
Eine weiße Weihnacht - das wäre schön gewesen. Es nieselt
ein bisschen, der Wind weht schwach bis mäßig. Die Massen strömen
Richtung MüGa, Richtung Schuppen. Ein Schock, die Schlange geht bis
draußen vor die Tür. Sie wird länger, jedes Jahr. Tobi,
24, geht "schon immer" hierhin. Heute kann er aber nur eine Stunde bleiben.
Morgen geht es in den Skiurlaub. "Vor drei Jahren", erinnert er sich, "da
war das lustig. Da haben wir morgens um sechs eine Schneeballschlacht gemacht."
Blick zum Himmel. Schneeflöckchen? Nicht in Sicht.
Eine halbe Stunde anstehen,
und rein ins Vergnügen. Der Weg von der Kasse bis zur Tanzfläche
beträgt geschätzte hundert Meter, eine Sache von Sekunden. Nicht
so bei der "Wilden Weihnacht". Hunderte von Leuten zwängen sich den
Gang entlang. Von 18 bis 30 ist jede Altersklasse vertreten, dabei sind
lässig gekleidete, auch ein paar mit Anzug. Und immer wieder der Satz
"Heeeeey, du auch hier?" Nadine, 26, Broicher Abiturientin von 1997 studiert
in Berlin. Der Heiligabend im Schuppen ist trotzdem gebucht. Ein Beispiel
von vielen.
Halb eins, die Theken sind
randvoll. Zweierreihen. Ein Bier hier, ein Bier dort. Viele Mülheimer
Sportler sind da. Hockeyspieler, Fußballer. Ein Uhr nachts, die Tanzfläche
ist erreicht, zahlreiche Unterhaltungen später. Ein Blick hoch zum
DJ-Pult. Seit fünf Jahren stehen dort die Brüder Christian und
Michael Knöpfel, diesmal gemeinsam mit Markus Kesch. "Auf eine Musikrichtung
festlegen können wir uns hier nicht", brüllt Michael. Er spielt
hintereinander "Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben" von Jürgen
Marcus und REM's "Losing my religion". "Wie spät ist es?", fragt er.
Zwei Uhr. "Zeit, um mal wieder einen Zwischenspurt einzulegen. Wenn alle
mitsingen, das ist das Größte." Er schmeißt die Ärzte-CD
in den Player - "Zu spät".
Halb drei, eng ist es immer
noch. Das T-Shirt ist durchtränkt mit verschüttetem Bier. Auf
Cola beschränken sich nur wenige. Von Geschenken spricht niemand -
nur von Partyyyyy. Tanja, 26, nippt an ihrem Glas und philosophiert um
drei: "Eigentlich ist es doch so wie immer. Wie in jedem Jahr. Viele Leute
hier, ein bisschen was trinken." Sie besucht den Schuppen nur einmal im
Jahr. Heiligabend. So geht es vielen. Noch einmal ein Blick zu den DJs.
Sie bleiben bis sechs Uhr. Der 1. Weihnachtstag wird im Bett verbracht.
Aber so geht das den meisten. Draußen regnet es immer noch. Von Schnee
keine Spur.
Nachts in Mülheim.
Die Straßen sind verlassen. So mancher Weihnachtsbaum leuchtet durch
die Fenster, ruhig fließt
die Ruhr. Ein Rundgang durch das Zentrum. Vorbei geht es am "Starclub"
an der Kohlenstraße. Die "Old School"-Party liegt um vier in den
letzten Zügen. Noch immer ist die Tanzfläche voll. Vor dem "Ballermann"
an der Sandstraße steht die Polizei, es gab eine Schlägerei.
Genauso wie im Ringlokschuppen. Fest des Friedens, der Liebe?
Fünf Uhr morgens. Das
Bett ruft. Noch 364 Tage bis zum nächsten Heiligabend. Dann
geht es wieder um 23.45 Uhr auf die Straße, in Discos. Eine etwas
andere Weihnachts-Tradition.
Noch einmal hatten sich
alle versammelt - ein bisschen heiser, ein bisschen müde, aber immer
noch verdammt gut gelaunt. Karnevalsprinz Maik I. übergab den Rathausschlüssel
zurück an Oberbürgermeisterin Dagmar Mühlenfeld.
In den Rittersaal des Schlosses
Broich hat Mühlenfeld die Narren gebeten. Erstmals. "Hier ist es einfach
schöner", sagt Hauptausschuss-Vorsitzender Heiner Jansen bei seiner
Begrüßung. Das Ornat sitzt immer noch wie angegossen. "Es war
eine sehr schöne Session, mit einem tollen Zug."
Dagmar Mühlenfeld hat
die Bürgermeister Markus Püll und Renate aus der Beek mitgebracht,
quasi als städtisches Dreigestirn. "Sorgen um die Schlüssel habe
ich mir nicht gemacht", sagt die OB und lobt den TV-Auftritt des Teams
am Rosenmontag: "Ihr habt den karnevalistischen Anspruch der Stadt gut
vertreten."
Der Fanfarenzug der KG Düse
marschiert ein. "Es weiß ja jeder", sagt Maik I., "die Schlüsselabgabe
ist so etwas wie der Abschluss. Am liebsten würde ich ihn gar nicht
abgeben." Deshalb hat er ihn mit Handschellen festgeschnallt. Den kleinen
Schlüssel dafür muss Dagmar Mühlenfeld suchen. Sie findet
ihn nach wenigen Sekunden. Hofmarschall Lothar Schwarze hat ihn um seinen
Hals geschnallt. Auch den Kinderprinzen Patrick II. erspäht sie schnell
zwischen dem Fanfarenzug und luchst ihm seinen kleinen Rathausschlüssel
wieder ab.
Heiser, müde und gut
gelaunt heben alle noch einmal die tolle Session hervor und hoffen auf
ebenso viel Engagement in den nächsten Jahren. Ein letztes Mal stimmt
der Fanfarenzug "Viva Colonia" an. Und ein letztes Mal ruft Heiner Jansen
das dreifache "Uss Mölm Helau".
In Raum 106 der Luisenschule
pauken eigentlich Achtklässler Französisch-Vokabeln. Diesmal
geht es aber nicht um die Konjugation des Verbs "regarder". Bei Saft und
Keksen lernen sich die Teilnehmer des Tandem-Praktikums mit der Rembergschule
für geistig Behinderte kennen.
Philipp, Moritz, Mareike,
Lutz und 14 weitere Schüler sitzen rund um die Tische und hören
den betreuenden Lehrern Lars Metelmann (Rembergschule) und Norbert Niechoj
(Luisenschule) zu. Auch Luisenschul-Leiter Bernd Troost sagt ein paar Worte.
Zum vierten Mal gibt es
diese ungewöhnliche Zusammenarbeit. Im Rahmen ihres Berufspraktikums
in der Jahrgangsstufe 11 haben sich neun Luisenschüler aus drei Pädagogik-Kursen
gefunden, die mit ihren gleichaltrigen Kollegen in die Betriebe gehen.
"Für uns war es immer schwer, Praktikumsplätze zu finden", sagt
Lars Metelmann. "Die Betriebe hielten den Aufwand für zu groß
und konnten keine Assistenten stellen." Durch die Zusammenarbeit mit dem
Gymnasium ist das anders.
Beim ersten Treffen finden
sich neun Pärchen. Sie werden nach den Osterferien zusammenarbeiten.
In diesem Jahr stehen ein Cafe´, zwei Gärtnereien, ein Kindergarten,
Tengelmann, Rewe, Kaufhof, Mc Paper und die Stadtbücherei auf der
Liste. In der ersten Woche des Praktikums begleiten die Gymnasiasten ihre
Partner im Alltag an der Rembergschule. Dann geht es zwei Wochen lang in
die Betriebe. Lars Metelmann fragt jeden einzelnen nach seinem Spezialgebiet.
Pascal hat sich Rewe ausgesucht. Als Partner meldet sich Christian.
Die Resonanz war bisher
stets positiv. Bei den Schülern sowieso, und auch bei den Betrieben.
Das ergab eine anonyme Umfrage im letzten Jahr. Inzwischen gibt es 16,
die sich bereit erklärt haben, Praktikanten aufzunehmen. "Wir haben
die Auswahl", freut sich Metelmann. Die Nachbereitung ist unterschiedlich.
Das Thema "Behinderung" taucht im Lehrplan erst in Jahrgangsstufe 12 des
Pädagogik-Unterrichts auf. An der Rembergschule gibt es Gesprächsrunden
und Praktikumsmappen.
Die Vorfreude und Spannung
jedenfalls ist groß. Bei allen Schülern.
aer
Von 28 Lebensjahren verbrachte
ein Mülheimer fast fünfeinhalb im Gefängnis. Nun kommen
noch einmal 15 Monate hinzu - wegen schwerer Körperverletzung an seinem
Vater.
Gesenkten Hauptes sitzt
der große Mann auf der Anklagebank. Er trägt ein schwarzes Shirt
mit der Aufschrift "Germania", seine Haare sind kurz geschoren. An Handschellen
wird er in den Saal geführt. Richter Bernd Fronhoffs erkennt ihn beim
zweiten Hinsehen - ein alter Bekannter.
Am 17. Dezember wurde er
aus dem Gefängnis entlassen. Wieder einmal. Sein Vater und ein Freund
holten ihn ab. Das Trio besorgte einen Kasten Bier und eine Flasche Jack
Daniels Whisky. In der Wohnung des Vaters hörten die drei laute Musik
von den Böhsen Onkelz und tranken. "Ich wollte mir einen schnasseln",
bezeichnet das der Angeklagte. Sein Vater beließ es bei ein, zwei
Bier und der Freund - sagt der 28-Jährige - "hat trinktechnisch früh
den Geist aufgegeben". Also schüttete er sich den Alkohol fast alleine
in die Kehle.
Unter anderem wegen Körperverletzung
ist er vorbestraft, und genau zehn Stunden nach seiner Entlassung rastete
er wieder aus. Als der Vater ihm "Mach doch mal die Musik leiser" zurief,
wurde der Angeklagte gewalttätig. Er ging mit einer Nagelschere auf
seinen Vater los, mit zwei Promille, wie die Blutuntersuchung ergab. Mit
einer Augenhöhlen- und Halsprellung, Nasenbluten und Schürfwunden
musste der Vater zur ambulanten Behandlung ins Krankenhaus. Der Sohn kam
in U-Haft - eine misslungene Party. Bei der Urteilsverkündung ist
der Vater auch im Saal. Seit der Tat herrscht Funkstille. "Es tut mir von
ganzem Herzen Leid", sagt der 28-Jährige. Im Gefängnis habe sein
Mandant geweint, sagt der Anwalt. Die Strafe von einem Jahr und drei Monaten
ohne Bewährung akzeptieren sie. Hinter Gittern nimmt der Mülheimer
an Sitzungen der Anonymen Alkoholiker teil. "Es liegt an ihnen", sagt Richter
Fronhoffs. "Sonst sieht das bald finster aus."
aer
ANMERKUNG:
Dieser Text erschien im WAZ-Mantelteil
auf der Seite "Ruhrgebiet" im Rahmen einer Kirchen-Serie. Er wurde also
von Hunderttausenden gelesen!
DIE SERIE: Nach dem überwältigenden Echo auf den Tod des alten und die Wahl des neuen Papstes ist schon von einer "Renaissance der Religion" die Rede. Die WAZ-Serie "Kirche 2005" beleuchtet den Alltag der beiden großen Kirchen im Revier - einen Alltag, in dem es viel Schatten, aber auch viel Licht gibt.
Von Andreas Ernst
WAZ Mülheim. Mitten
in der Mülheimer Innenstadt. An einem normalen Nachmittag schlendern
Jung und Alt durch die Fußgängerzone. Eine Nebenstraße
heißt Kohlenkamp. Und dort, zwischen einer Bank und einem Juwelier,
steht ein etwas anderes Geschäft: die katholische Ladenkirche.
Ein Kirchengebäude?
Ist das nicht etwas mit Turm und Glocken? An der Tür steht Hans Herbrand,
einer der ehrenamtlichen Mitarbeiter. Eine Rundführung durch die 60-Quadratmeter-Kirche:
Im ersten Raum gibt es Bücher, Postkarten, Snacks. Ein Bildband über
Papst Benedikt XVI. liegt natürlich schon auf einem Tisch. Und dahinter
ist der "Raum der Stille". Auch Stadtdechant Manfred von Schwartzenberg
ist da. Eine Ausstellung in der Ladenkirche wird eröffnet. Programm
gibt es also auch.
Kirchenaustritte, leere
Sitzbänke bei Gottesdiensten, das ist der Alltag. "Wenn die Menschen
nicht in die Kirche kommen, muss die Kirche zu den Menschen kommen" - dieses
Motto ist ein schöner Satz. Aber wie lässt sich das umsetzen?
Mit der Ladenkirche zum Beispiel. Herbrand, von Schwartzenberg und viele
weitere aus dem "Sachausschuss Ladenkirche" stehen rund um die Büchertische.
In kurzer Zeit haben alle die beiden Räume renoviert und gefüllt.
Nach nur zweimonatiger Umbauzeit eröffnete die Ladenkirche am 27.
November 2004 - und das ohne jegliche Unterstützung aus steuerlichen
Mitteln, sondern nur mit Hilfe von Firmen und Spendern. "Das war eine Basis
des absoluten Wollens", sagt von Schwartzenberg. Die Küchen-Einzelteile
erstanden die Mülheimer im Internetauktionshaus Ebay, die Möbel
sind secondhand, und die monatliche Miete ist günstig - der Besitzer
ist katholisch. Unterstützung aus Kirchensteuermitteln gibt es immer
noch nicht.
Die Ladenkirche will auch
an die drei Wesensäußerungen der Kirche anknüpfen: Verkündigung,
Caritas und Gottesdienst. Verkündigung bedeutet Gespräch über
Gott und die Welt. Aber das alles geschieht trotz der City-Lage unaufdringlich.
"Wir laufen nicht mit der Gießkanne durch die Stadt, um die Leute
zu taufen", sagt von Schwartzenberg. Und Caritas? Das heißt, dass
die ehrenamtlichen Helfer - im Moment sind es 40 - die Gesprächspartner
an weitere Institutionen der Kirche weiterverweisen, zum Beispiel die Ehe-
und Familienberatung. Berater kommen zu bestimmten Zeiten. Ein Trauercafe´
findet ebenfalls statt.
Und Andachten gibt es auch
in der Ladenkirche. Werktags um 12 Uhr und zusätzlich am Donnerstag
um 17 Uhr versammeln sich die Katholiken im "Raum der Stille". Eine Evangelische
Ladenkirche gibt es auch in Mülheim, ein paar Straßen weiter,
am Rand der Innenstadt. Die eröffnete im Juni 2004. "Vielleicht kommen
einmal Zeiten", sinniert Manfred von Schwartzenberg, "in denen eine Kooperation
möglich ist". Noch anderthalb Jahre läuft der Vertrag. In Zeiten
von XXL-Gemeinden ist die Ladenkirche eine Art "Wohlfühl-Projekt".
"Wir sind nicht bereit zu resignieren und wollen optimal mit den Zwängen
umgehen", sagt der Stadtdechant.
Im abgedunkelten "Raum der
Stille" stehen die Stühle im Halbkreis um die weiße Kerze, die
hell leuchtet. Und rund um einen Tisch mit einem Fürbittenbuch. "Ich
möchte beten für junge Leute, die Not leiden", steht darin. Oder
auch: "Ich danke für das gute Gespräch." In der Fußgängerzone
gehen die Leute rauf und runter. Davon ist im kleinen Raum gar nichts zu
spüren.
Ladenkirche, Kohlenkamp
30, 45468 Mülheim, 0208/2999678, Öffnungszeiten: Mo. bis
Fr., 10 bis 18 Uhr, Sa., 10 bis 14 Uhr, www.ladenkirche-muelheim.de
Es ist ein schöner
Vormittag in Köln, direkt am Hansaring. Eine Filmrollenlänge
entfernt vom S-Bahnhof strahlt die Sonne ins Cafe? Schmitz. Thomas Durchschlag
wartet schon, er schlürft einen Milchkaffee. "Im August", sagt der
Mülheimer Filmemacher zur Begrüßung, "da kommt ,Allein´
ins Kino."
Im August also. Und jetzt
gerade? "Im Moment schreibe ich an meinem zweiten Drehbuch." Halt, stopp,
nicht so schnell. Thomas Durchschlag? Wer ist das überhaupt? Ein Mülheimer,
der auf der linken Ruhrseite groß wurde. Dessen Eltern noch in Broich
wohnen. Der das Gymnasium Broich besuchte, und mehr schlecht als recht
mit dem Abitur im Jahre 1994 abschloss. Als er in Klasse elf war, wollte
er einen Schülerstreik anzetteln. Eine von ein paar Erinnerungen,
die hängen blieben.
Jetzt ist er 30, sitzt im
Cafe? und putzt seine heuverschnupfte Nase. An Filme dachte er zu Oberstufenzeiten
noch nicht. Schon eher ans Fotografieren. Nach einer kurzen Zeit bei Radio
Essen war er außerhalb der Schule kaum einmal ohne Kamera anzutreffen.
Er knipste für lokale Blättchen und begann ein Studium in Essen
im Fach "Kommunikationsdesign". Dass er von der kleinen zur großen
Kamera fand, lag auch am Kino Rio. Er jobbte zwei Jahre lang als Filmvorführer.
Eine Arbeit, die für ihn keine Arbeit war. "Umsonst ins Kino zu gehen,
das war eine tolle Zeit. Ich habe 150, 200 Filme gesehen." Und sein Entschluss
stand fest.
Ab zum Film.
"Ich bin in Pressegesprächen
nicht so der Erzähler", sagt Thomas Durchschlag. Er ist einer, der
direkt auf den Punkt kommt und bitterernst gucken kann. Der aber auch eine
durchdringende und ansteckende Lache hat. Und dann erzählt er weiter.
Er kann das nämlich doch.
Er zählte zu den Fünf,
die 2001 an der Kunsthochschule für Medien in Köln aufgenommen
wurden, lernte bei bekannten Namen. Bei wem? Egal, Prominenz bedeutet ihm
wenig. "Ich will Kinofilme machen." Ein einfaches Motto. Seine Karriere
begann mit drei Kurzfilmen. "Beziehungen zwischen Menschen interessieren
mich. Die will ich erzählen. Und das fand ich an den Filmen im Rio
immer so toll."
In den letzten anderthalb
Studienjahren schrieb er am Drehbuch von "Allein". Das wurde dann vom WDR
und der Filmstiftung NRW mit insgesamt 800 000 E gefördert. "Allein"
ist das einfühlsame Porträt der Studentin Marie, die am Borderline-Syndrom
leidet und deren Leben geprägt ist durch die Sucht nach Nähe
und durch Exzesse mit Sex, Tabletten und Alkohol. Durchschlag drehte den
Film in 23 Tagen mit seinen Wunsch-Schauspielern Lavinia Wilson und Richy
Müller in den Hauptrollen. Wenige Schnitte zeichnen den Film aus.
"Es geht nicht darum zu zeigen, was man kann. Der Film ist reduziert auf
die Geschichte und Figuren. Er hat eine große Intensität."
Durchschlag drehte überwiegend
in Essen. "Eigentlich", sagt er, "könnte er in jeder Großstadt
spielen. Aber das Ruhrgebiet ist nicht so designed, hat seinen eigenen
Charme." Er wohnt in Köln. Mülheim nennt er aber "meine Heimat".
Sein Vater hat im Film eine Nebenrolle. "Naja, Nebenrolle. Er latscht einmal
durchs Bild." Da lacht der Regisseur durchdringend.
"Allein" lief bei den Filmfestivals
in Hof, Saarbrücken, Rotterdam, San Francisco. Und bei der Berlinale
im Beiprogramm. Bald fliegt Durchschlag nach Seattle. Landauf, landab wurde
das Debüt gefeiert, zum Beispiel als "tief beeindruckend" (Saarländischer
Rundfunk) oder als "schnörkellose Charakterstudie, behutsam und melodramatisch
erzählt, von einer sinnlichen Eleganz" (Süddeutsche Zeitung).
Berlinale, roter Teppich, Klatschblätter. Schickimicki!? "Wie, Schickimicki?"
Diese Frage versteht Durchschlag nicht. Das Wort taucht in seinem Wortschatz
wohl nicht auf. Er schaut ein bisschen grimmig, fast verärgert.
Kann sich ein Regisseur
Ziele setzen? Zum Beispiel Preise? "Ich will einen nächsten Film machen."
Im August also kommt "Allein"
ins Kino. Ins Rio auch? "Vielleicht", sagt Durchschlag. "Wäre schön."
Er trinkt seinen Kaffee aus und geht. Zurück zum Drehbuch.
26.8.2005
Eure ZOOMer: aer, km,
a.ha, jul
"Jetzt legt doch mal die
Hände aufeinander", sagt der Fotograf. "Und guckt ein bisschen freundlicher".
Julia (jul) ist ganz unten, hat bestimmt das Zahnpasta-Lächeln aufgelegt
- knipsknips macht es zwischendurch - darüber Andrea (a.ha) und Kristina
(km), auch mit einem fetten Lachen, ziemlich lustig geht's zu. Und ganz
oben ich, Andreas (aer), naja, könnte freundlicher gucken, aber ein
Grinsen muss reichen.
"Lacht doch mal, lacht doch,
ist für eure erste Seite." Jaja, der Fotograf hat gut reden. Erstmals
macht's "Zoom". Das e r s t e Mal. Wie sieht die Seite wohl aus, wenn sie
gedruckt ist? Blau, okay. Zu blau!? Und wie kommt sie an? Interessant genug?
Knipsknips macht es; Julia , Andrea und Kristina können kaum noch
hocken. Wir sind's, die Zeitungsmacher, wir sind's, jene kleine Randgruppe,
die Woche für Woche die besten Partys, die interessantesten Geschichten
und die witzigsten Hintergründe sammelt, wir sind's, die mal heimlich,
still und leise, mal neugierig und auffällig mit Block in der Hand
durch die Straßen der Stadt schleichen, die Theken und Tanzflächen
Mülheims verunsichern, die Preise vergleichen undundund. . . Schaut
nach oben - sooooooo sehen wir aus. Der Fotograf knipst ein letztes Mal.
Jetzt hat er das perfekte Bild. Julia, Andrea, Kristina, Andreas, von unten
nach oben. "Wie die vier Daltons", sagt der Kerl an der Kamera und lacht
laut. Mist, dann wäre ich ja Averell.
Vier sind wir. Aber alleine
ganz bestimmt nicht fantastisch. Wir haben nur acht Augen, IHR, für
die unsere Seite bestimmt ist, viel, viel mehr. Mailt uns, klickt auf unsere
Internet-Seite, tragt euch ins Forum ein. Schickt uns eure Lieblinge, Eindrücke,
Tipps, Kritik, Fotos, füllt unsere Rubriken. Sprecht uns an. Werktags,
wochenends, im Laden auf der Sandstraße, im Schuppen, im AZ, im StarClub,
im Festival Garden. . . info
Hier landet ihr direkt bei
uns: www.waz.de/zoom-mh - redaktion.muelheim@waz.de - Eppinghofer Straße
1 bis 3 - 44 308 31.
Anmerkung: Das ist ein "ganz normaler" Dienstag-Text nach einer PK (Pressekonferenz)
Von Andreas Ernst
Nein, die Wikinger haben
Mülheim nicht erobert. Zumindest die Freilichtbühne ist ab Freitag
aber besetzt. Sechsmal heißt es dort "Wickie und die starken Männer".
Mitten auf der Ruhr. Die
Crew des Westfälischen Landestheaters und Horst van Emmerich vom Verein
der Freunde der Freilichtbühne schippern bei traumhaftem Sommerwetter
im Boot übers Wasser. "Schön hier, oder?", fragt van Emmerich.
Und alle nicken.
Auf dem Leinpfad geht eine
Kindergruppe spazieren. Die Schauspielerin Mariam Kurth alias Wickie hat
ihren Wikingerhelm gar nicht abgenommen, spricht sie an und plappert munter
drauflos. Und Gerrit Pleuger, die Ylva und Orne spielt, steht im Pelz daneben
und improvisiert mit. Am Ende erklingt das Wickie-Lied, das nun wirklich
jeder kennt. "Hey hey Wickie - hey Wickie hey" - und da singt sogar die
ganze Bootsbesatzung mit.
Sechsmal vom 2. bis zum
11. September wird das Stück auf der Freilichtbühne an der Dimbeck
aufgeführt. Das Stück, das jeder kennt. Die Kinder, da die Serie
oft wiederholt wird. Die Eltern, weil sie einst die Erstausstrahlung von
"Wickie" im Fernsehen erlebten. Und die Großeltern, weil sie daneben
saßen. Wickie, das ist der kleine, ein eher ängstlicher Typ
inmitten der großen, starken Wikinger. Der aber mit Hilfe seiner
gewitzten Einfälle den Großen und Starken trotzt. "Emanzipation
gegen die Eltern, aber auf charmante Art", nennt das Dramaturg Peter-Adrian
Krahl.
Horst van Emmerich freut
sich auf das Stück, freut sich auf das westfälische Landestheater.
Und doch verfolgt er ein Hauptziel: Er will die Freilichtbühne sechsmal
so voll wie möglich sehen. "Damit das einigermaßen kostendeckend
läuft", sagt er. Und dazu spricht er entlang des Leinpfads jeden an
- selbst Rentner, die mit Wickie noch nie etwas zu tun hatten. "Kommen
Sie! Sie sind herzlich willkommen", ruft er ihnen zu. Und sagt dann: "Ich
bin so oft angerufen worden wie vor keinem anderen Stück." Hartmut
Pönitz, "Mädchen für alles" in der Freilichtbühne,
erzählt, dass sich Kindergeburtstage angekündigt hätten.
So sieht Optimismus aus. Van Emmerich und Pönitz planen auch schon
für 2006. Roberto Ciulli und das Theater an der Ruhr haben sich angekündigt.
Halt, erst einmal zählt aber nur Wickie.
Das Stück ist für
Kinder ab sechs gedacht. Gespielt wird auch bei Regen. Und damit es auch
neben der Freilichtbühne etwas zu sehen gibt, hat Pönitz ein
Wikingerlager organisiert. Aus ganz Deutschland kommen Wikingerdarsteller,
die Zelte aufbauen, eine Schatzsuche veranstalten. "Die Kinder sollen nicht
in erster Linie nur zum Konsumieren in die Freilichtbühne kommen",
sagt Hartmut Pönitz.
"Esst immer viel Gemüse
und Obst", brüllt Darstellerin Mariam Kurth einer Kindergruppe zu
- und steckt sich danach eine Zigarette an. Darauf ein lautes "Hey Wickie
Hey".
Von Andreas Ernst
An der Eingangstür
hängt ein Plakat. Handgemalt, mit Edding vermutlich. "Politische Diskussion"
steht drauf, im Raum D05/D08
im Berufskolleg Lehnerstraße. Blick auf die Uhr. 9.25 Uhr,
Mist, spät dran. Vor
fünf Minuten ging es los.
"Wo ist das? Wo ist der
Raum?" Schnell durchgefragt, links die Treppe hoch. Klausuren werden dort
sonst geschrieben, sagt mir jemand. Heute sitzen fünf Politiker bei
ihrer mündlichen Prüfung. Vor 300 Schüler-Lehrern. Bestimmt
300. Wo ist noch Platz? Jemand deutet auf einen leeren Stuhl. Ach nee,
von hinten ist der Blick gut. 300! Wahnsinn!Eine freiwillige Sache? Nur
weil zwei Unterrichtsstunden ausfallen? Hey, es ist sogar leise. Politik
an der Schule - ich hab's unterschätzt. Auf dem Podium zwei Lehrer.
Rechts die schwarz-gelbe Möchtegern-Koalition mit Ulrike Flach (FDP)
und Heiko Hendriks (CDU). Und links die rot-rot-grüne Podiumsfraktion
mit Matthias Kokorsch (Linke), Hartmut Kremer (Grüne) und Anton Schaaf
(SPD). "Wow, der Kokorsch ist wirklich von einer Partei", sagt jemand.
Stimmt, sieht eher aus wie ein Schülervertreter. Maximal 25 ist der.
Rechts an der Tafel stehen
weiß gekritzelt die Themen. Punkt eins läuft schon. "Arbeit".
Und dann noch "Sozialpolitik", "Energie", "Familie", "Steuern". Ganz schön
viel vor für zwei Stunden.
Erste Statements. Von rechts
nach links. Hendriks, Flach und der Rest. "Glauben Sie keinem Politiker,
der ihnen verspricht, Arbeit zu schaffen. Das können nur Unternehmer",
sagt Schaaf. Applausapplausapplaus, als hätte es Kermit, der Frosch
befohlen. Ein Applaus-O-Meter wäre nicht schlecht. Wer bekommt den
meisten, den lautesten, den längsten? Gefühlt sind das eher die
drei links der Lehrer. Rot-rot-grün quasi. "10 Prozent besitzen 65
Prozent des Volksvermögens." Die Schüler buhen!
Witzig. Nach jedem Statement
Applaus. Oder nicht. Die Schüler hören zu, denken mit, reden
mit. "Ich hätte gedacht, dass es langweilig wird", sagt Benedikt,
ein Veranstaltungskaufmann, der die ganze Diskussion mit seinem Kurs organisiert
hat. Engagement pur. Die Unterschiede der Parteien werden deutlich. Heikles
Thema Studiengebühren. "Die sind asozial", sagt Kokorsch und bekommt
donnernden Applaus. Frau Flach, die Bildungspolitikerin, hält ein
kurzes Plädoyer für Gebühren. Naja, das Applaus-O-Meter
wäre arbeitslos in diesem Moment. Stefan meldet sich. "Ich habe das
CDU-Wahlprogramm gelesen. Und nur einen Punkt zur Bildung gefunden, nämlich
dass Reli-Unterricht ordentliches Unterrichtsfach werden soll." Er schaut
Hendriks an. "Bildungspolitik ist eben Ländersache", beginnt der seine
Antwort. Am schwersten hat es Kokorsch, der Vertreter der Linkspartei,
ganz links. Rhetorisch kommt er gegen die abgebrühten, erfahrenen
Politiker nicht an. Und doch ist er so etwas wie der Sympathieträger
des Plenums. "Einer von uns", sagt so mancher. Die nächste Meldung.
Eine Schülerin. "Wenn hier geredet wird" - und deutet nach links -
"dann wird dort" - und deutet nach rechts - "gelacht, vor allem bei Herrn
Kokorsch. Ich finde das geschmacklos". Riesen-Applaus. Politiker in Bedrängnis.
Ein Finger nach dem anderen
springt in die Höhe. Von gefühlt 15 Fragen gehen gefühlt
16 an Hendriks von der CDU. "Es ist schön, dass wir so gefragt sind",
sagt der Unternehmensberater leicht ironisch. Er weiß genau, dass
die meisten die CDU-Pläne eher kritisch sehen. Warum er selbst keine
Azubis hat, wird er gefragt. Politiker in Bedrängnis, Teil zwei.
Was, nur noch ein paar Minuten?
Und gerade hat erst Themenkomplex drei, nämlich die Energie, begonnen.
Die linke Seite predigt gegen Atomenergie, weist auf den noch 100 000 Jahre
strahlenden Atommüll hin. Und rechts werden die preiswerten Vorteile
gelobt. "Wo bitte ist Atomenergie günstig, wenn wir 100 000 Jahre
die Scheiße am Arsch haben!?", sagt einer zu Flach. Applaus!
Anderthalb Stunden sind
rum. Gonggonggong. "Ich wusste schon vorher, was ich wähle", sagt
Benedikt. Andere nicht. Eins ist klar: Wer glaubt, alle Jugendlichen wären
nicht an Politik interessiert, der hat keine Ahnung.
"Cheers", immer nachts um halb eins, direkt nach Heiner Bremer auf RTL. Eine Bar in Boston, in der sich das Leben um Besitzer "Mayday Malone", einen ehemaligen Baseball-Spieler der Red Sox drehte. Und um die Barkeeper Woody und Coach, die Kellnerinnen Carla und Diane sowie die Dauer-Gäste Norm, Cliff und Frasier. Wenn Norm die Bar betrat und mit einem lauten "NOORM!!" aus gefühlten 1000 Kehlen begrüßt wurde, dann sank ich beruhigt im Sessel zusammen und sammelte Kraft für den nächsten Schultag. Im August des letzten Jahres - so ergab die Urlaubsplanung - ging es nach Boston. In die Cheers-Stadt. INS Cheers. Ins Original. Neben der Bar ist das ein Riesen-Merchandising-Shop und ein wenig enttäuschend. Und doch fand ich etwas, was mich auf Anhieb umhaute. Einen Cheers-Baseball mit "Mayday Malone"-Autogramm. Nun liegt er auf meinem Fernseher und fast jeder, der meine Studi-Bude betritt, muss zuerst den Fang-Test bestehen. Übrigens: Cheers kommt wieder. Auf Kabel 1. Nachts um zwei.
ANMERKUNG: "Guten Morgen" heißt die zweispaltige Notiz auf der Lokalteil-Titelseite, die jeden Tag erscheint und redaktionsintern "Spitze" genannt wird! Jeder darf seinen Senf dazu beitragen! Der Inhalt? Ganz kleine Alltagsgeschichte plus Pointe...
WAZ / 22.8.2005
Fast 30
Oh je, es ist soweit.Ich
werde ALT! Als 27-Jähriger ist die Erkenntnis womöglich verfrüht,
aber das erste Zeichen bekam ich Samstag. Ich weilte im Ringlokschuppen,
aber nicht zu irgendeiner Party, sondern bei der "Wilden 30". DREISSIG!
Und leider fand ich den Großteil der Musik auch noch beschämend
gut - war schließlich aus meiner Jugendzeit. Erst als "Summer of
69" durch die Lautsprecher dröhnte, ein Lied, in dem Bryan Adams die
beste Zeit seines Lebens im Jahr 1969 gitarrenlastig besingt, fühlte
ich mich besser. Denn die meisten brüllten so inbrünstig mit,
als hätten sie diesen Sommer selbst erlebt. Puh... ich nicht!
WAZ / 7.9.2005
Fast 30 II
Ich habe es wieder getan.
Mich zog es wieder zur "Wilden 30" in den Ringlokschuppen und dabei bin
ich immer noch erst 27. Alles war wie beim ersten Mal. Die Musik (von U2
über Depeche Mode, Fury in the Slaughterhouse, AC/DC bis zu Bryan
Adams - Achtziger und Neunziger eben), die Leute (etwas zu alt für
mich) und mein Empfinden (uuuuaaaah, bin ich aaaaalt). Doch auch diesmal
gab es die Rettung. An der Theke quatschte mich eine Mitt-Dreißigerin
von der Seite an. "Also du bist doch noch lange nicht 30. Was machst du
mit deinen 23 hier?", fragte sie. Und das ernsthaft. Mir kamen fast die
Tränen.
WAZ / 8.12.2005
Glückskeks
Am vietnamesischen Imbissstand
auf dem Weihnachtsmarkt lächelt mich das Glas mit den Glückskeksen
an. 50 Cent das Stück - ach, so eine asiatische Lebensweisheit kann
nicht schaden. Flugs verdrücke ich das Gebäck, krame das Papier
hervor. "Sie bekommen ein verlockendes Angebot, handeln Sie!" Hmm. . .
was für ein Satz. Ein Profivertrag bei Bayern München? Moderator
bei Wetten, dass...? Ein Abendessen mit Heidi Klum? Ein paar Meter weiter
brüllt der Bratwurstmann: "Hier! Eine Wurst! Umsonst!" Glückskekse
habens wirklich in sich.
Von Andreas Ernst
Die Eppinghofer Straße
am Samstagabend. Von der Musiknacht ist hier nichts zu spüren. Die
Dönerläden sind leer, das Leben spielt sich in den Caf´e´s
ab. Überall läuft der Fernseher. Ist irgendetwas besonders heute?
Genau, Fußball. Das Länderspiel Türkei gegen Deutschland.
Naja, ganz so wie bei der
WM ist die Eppinghofer Straße nicht geschmückt. Keine überdimensionalen
Fahnen. Im Starcafe´ direkt am Kreisverkehr steht der Wirt zur Begrüßung
an der Tür. "Herein, herein", sagt er und serviert im Handumdrehen
einen türkischen Tee. Mit Stückchen Zucker. Zehn Minuten sind
gespielt, 0:0 steht's. Etwa 30 Leute sitzen vor dem Fernseher, entweder
gebannt und mitgehend. Oder auch zu sechst rund um einen Tisch. Die Karten
werden im Sekundentakt aufs harte Holz gekloppt, aber immer wieder geht
der lünkernde Blick auf die Mattscheibe. Was passiert? Was machen
die Altintops? Und Alpay? Der Ball läuft flott durch die türkischen
Reihen, 19. Minute, Tümer steht frei, die Karten fliegen auf den Boden,
Jubel liegt in der Luft... und... und... und... daneben! "Hayret ya!" Das
darf doch nicht wahr sein. "Solch eine Chance", heißt es in der großen
Runde. Da wirkt der Tee wie ein Beruhigungsmittel. Sechs Minuten später
fast dieselbe Szene. Tümer trifft den Pfosten, Altintop staubt ab.
1:0. Ein Jubelschrei braust über die Eppinghofer Straße.
Halbzeitpause. Spaziergang
durch Mülheim. Einige zieht es zur Musiknacht. Auf der Bruchstraße
hingegen ist es ruhig. Im "Schrägen Eck" läuft der Fernseher
auch. Per Beamer ist die ZDF-Übertragung sogar an die weiße
Wand gebannt. Doch nur zwei, drei Leute schauen wirklich hin. An der Theke
reizen ein paar Leute beim Skat. Der Fußball interessiert nicht wirklich.
Horst pafft genüsslich ein paar Zigarillo-Rauchschwaden in die Luft.
"Zarko, bringze ma n' Pils", ruft jemand dem Wirt zu. Der Dart-Automat
ist ausgeschaltet, der Billardtisch aber wird bevölkert. Irgendwann
in der 60. Minute, nach dem x-ten Pils und nach dem x-ten "Boah, is dat
langweilig"-Ruf.
Eine Minute vor Schluss
schießt Nuri Sahin, der Dortmunder, das 2:0. Buh-Rufe. Im "Schrägen
Eck" hängt immerhin ein Gladbach-Schal an der Wand. Dass der Gladbacher
Neuville
noch das 1:2 erzielt? Egal.
Nimmt keiner mehr wahr. "Zarko, zahlen bitte", ruft jemand und sagt ironisch
zum an der Theke sitzenden Lutz: "Dat hat sich gelohnt, wa?" Lutz schaut
enttäuscht und meint nur: "Blamabel."
Von Andreas Ernst
Er ist der Meister der Musik,
der Held der Heimorgel, das Aushängeschild der Alleinunterhalter.
Er ist derjenige, der seine Fans nach jedem Lied mit "Freunde der Heimorgel"
anspricht. Er ist der einzig wahre Mambo Kurt. Einen sehr, sehr kurzweiligen
Samstagabend bot der Mann mit der auffälligen Sonnenbrille 100 Fans
im Schifferhaus.
Einen Vollbart hat er sich
stehen lassen. Sonst ist er ganz der Alte. Unter lautem Gejohle betritt
er die Bühne. Auf der linken, oberen Ecke der Orgel schimmert eine
Mini-Discokugel in den buntesten Farben. Ganz klar: Dieser Typ ist ein
Gesamtkunstwerk. Er kann es sich erlauben, das erste Lied "Jump", im Original
von Van Halen, mit dem Rücken zum Publikum sitzend vorzutragen. Schließlich
sollen alle sehen, wie schwer es ist, die Heimorgel zu bedienen. Die Fans
danken es mit lautem Applaus. "Danke, Freunde der Heimorgel", sagt Mambo
Kurt.
Hits, Hits und nochmals
Hits reiht Mambo aneinander. Mal lässt er die Finger über seine
Orgel fliegen (die es heute übrigens "für unter 100 Euro bei
ebay gibt", wie er sagt). Mal erhebt er seinen linken oder rechten Arm
und wippt zur Musik mit. "Ich will zum partnerschaftlichen Tanz anregen",
sagt er. Denn zum sich Näherkommen seien nicht immer viele Biere nötig.
"Mambo! Mambo!", rufen die Fans.
Er spielt Europes "The Final
Countdown", "Just can´t get enough" von Depeche Mode. Und Metallicas
"Enter Sandman" im Walzer-Takt - das ist nicht verhunzt, sondern weltklasse
und kultig parodiert. Einige Songs stellt er unter das Motto "Lieder, von
denen ihr nicht glaubt, dass man sie auf der Heimorgel spielen kann." Er
kann es sich leisten, ein Lied von "Deutschlands größter Bossanova-Band"
anzukündigen und dann Rammsteins "Engel" vorzuführen. Und danach
folgt "You´re my heart, you´re my soul". Super.
15 Minuten Pause. Verfliegt
die Lust der Fans auf die Heimorgel? Mitnichten! Das zweite Set beginnt
er mit einem "Lied über Mülheim". Und es kommt "Paradise City"
von Guns´n´Roses. Aus "Thunderstruck" von AC/DC macht er "Sambastruck".
Und bei "Insomnia" von Faithless stellt er zwischendurch die Begleitautomatik
seiner Orgel an, springt von der Bühne und lässt sich bei seinem
"Stage dive" von 20 Jungs durchs Schifferhaus tragen. Mit "Musik ist Trumpf",
dem Lied, mit dem er 1982 den "Jugend musiziert"-Wettbewerb an der Heimorgel
gewann, lässt er den Abend ausklingen. Vorerst.
Denn ohne Zugaben lassen
ihn die Mülheimer Fans nicht nach Hause. Für drei weitere Stücke
begibt sich Mambo Kurt hinter sein geliebtes Musikgerät, zunächst
"Zu spät" von den Ärzten, dann Green Days "Basket Case". Der
letzte ist der "Sunshine Reggae". Passend zum Herbstwetter.
Mambo Kurt ist schräg.
Mambo Kurt ist witzig. Mambo Kurt ist liebevoll. Wer braucht einen Abend
mit Robbie Williams oder Jennifer Lopez, wenn es auch Mambo Kurt sein kann?
Nach zwei Stunden huldigen ihm seine Fans, kaufen Sonnenbrillen und CD´s
und klopfen ihrem Meister auf die Schulter. "Danke, Freunde der Heimorgel",
sagt Mambo Kurt ein letztes Mal.
- Anreißer auf Seite
1 -
Glühwein und Geschenke
Saarner Nikolausmarkt ist jedes Jahr
ein großer Mülheimer Treffpunkt
Das Handy klingelt. Inmitten
des ganzen Trubels. Es ist laut. Schon mittags um eins strömen
die Massen über den Saarner Nikolausmarkt. "Wo seid Ihr gerade? Habt
Ihr bei Auto Wolf oder an der Sparkasse angefangen?", lautet die Frage.
"Bei Auto Wolf." "Okay, wir kommen jetzt dorthin." Eine typische Szene
an diesem Dienstagnachmittag. Typisch Markt.
Die Düsseldorfer Straße.
Malerisch, Kopfsteinpflaster, schön. Alltags wird es in Hauptzeiten
schon einmal eng. Heute auch. Aber nicht mit Autos. Treffpunkt Auto Wolf,
an der Ecke zur Kölner Straße. "Was, auch wieder hier?" Eine
Frage, die hier jeder Besucher nicht nur einmal stellt. Saarner Nikolausmarkt,
das bedeutet sehen und gesehen werden. Saarner Nikolausmarkt, das bedeutet
Glühwein trinken, Saarner Nikolausmarkt, das bedeutet Geschenke kaufen.
Das Handy klingelt wieder.
"Hallo? Wir haben gerade jemanden getroffen und kommen später", krächzt
es auf der anderen Seite des Hörers. So ist das eben in Saarn. Hier
treffen sich ehemalige Schulkollegen, die sich nur einmal pro Jahr sehen
- eben hier. Hier treffen sich die Saarner Vereine, Verbände und Gemeinden.
Beim Glühwein ob mit oder ohne alkoholisch hochprozentige Zugabe,
ob beim Kinderpunsch oder Kakao - die kleineren Streitigkeiten des Jahres
sind schnell vergessen. Blick zum Himmel. Herrliches Wetter. Schade, dass
kein Schnee mehr liegt, wobei das fast schon zu idyllisch gewesen wäre.
Es ist knackig kalt, so dass jedes warme Getränk eine willkommene
Abwechslung ist. Nur die wenigsten greifen auf kühles Bier zurück.
Nun klingelt das Handy nicht
mehr. Gefunden. Bei Auto Wolf. Nun kann es losgehen. Losgehen mit der Tour
auf dem Nikolausmarkt. In Richtung Sparkasse.
- Fortsetzung auf Seite
3 -
Sogar die Klostertropfen
schmecken
Reichhaltiges Angebot beim Saarner
Nikolausmarkt von Bäh-Broten bis zu Hutverkäufern. 320 Lichterketten
beleuchteten die Düsseldorfer Straße. Letzte Glühwein-Runde
um 21.30 Uhr
Von Andreas Ernst
Ein Renner ist er, dieser
Saarner Nikolausmarkt. Mittags um eins, abends um neun. Am Anfang der Düsseldorfer
Straße und auch am Ende.
Die ersten Meter, ab Auto
Wolf. Es geht in Richtung Dorfkirche. Hier ist der erste große Markt-Schwerpunkt.
Laut brüllen vier Jungs: "Die echten Saarner Klostertropfen! Immer
hier!" Klostertropfen, ein Kräuterschnaps. "Die schmecken eigentlich
nur auf dem Nikolausmarkt", sagt der Saarner Leo Werry. Der Spendenstand
für die Gemeinde im Bistum El Quiche´ steht direkt daneben.
"Wir machen das nun im 19. Jahr", sagt Elfi Lohr. Sie trägt eine rot-weiße
Nikolausmütze und rührt gut gelaunt im dampfenden Kochtopf herum.
Und weiter geht's. An manchen Stellen ist kaum ein Durchkommen. Treffpunkt
zwei für die Besucher ist der Marktplatz. Auf dem Weg dorthin geht
es vorbei an Buden, Buden und nochmals Buden. Überall gibt es Glühwein,
in zahlreichen Ergänzungsvariationen. Kakao ist auch sehr beliebt.
Die Marktbummler futtern Waffeln, Bäh-Brote, Würstchen, Mettwurst-Brote,
Currywürste, an einem Stand gibt es sogar Eisbein. Es gibt Keramikstände,
Hutverkäufer, Schmuck, Geschenke, Gebasteltes.
An der Straßenecke
zur Lehnerstraße steht der Nikolaus. Diesmal im Kostüm des Bischofs
von Myrna und nicht in Rot und Weiß. Da guckt so manches Kind erst
einmal verdutzt. Manche Clique zieht von Stand zu Stand.Das ehrgeizige
Vorhaben: überall einen Glühwein trinken. Eine wirklich unlösbare
Aufgabe.
In der Dunkelheit entwickelt
der Nikolausmarkt seinen ganzen Charme. Wenn der Atem sichtbar wird, wenn
nur noch eine Mütze vor frierenden Ohren schützt, wenn Handschuhe
kalte Finger wärmen müssen, wird der Spaziergang noch schöner.
Vergessen ist die Arbeit, dass der Wecker früh klingelt. 320 Lichterketten
mit 61 440 Birnen beleuchten die Straße.
Um punktgenau 21.30 Uhr
ist Schluss. Wie in jedem Jahr. Doch nach dem Markt ist vor dem Markt.
Und der Mittwoch, 6. Dezember 2006, ist schon jetzt bei vielen vorgemerkt
- jede Wette.
'Ne Wahnsinns-Show am
Heiligen Abend
"An Tagen wie diesen" drängeln
sich Jugendliche und Junge Erwachsene im Schuppen zur "Time of my life"
bis "Westerland"
Von Andreas Ernst
Kurz nach halb vier. Der
Heilige Abend ist vorbei, Mensch, erstaunlich warm für eine Winternacht.
Der Ringlokschuppen liegt zurück, vereinzelt taumeln und spazieren
Leute nach Hause. Vorbei geht es an drei Polizeiwagen, auf dem Parkplatz
stehen Taxis, hübsch aufgereiht, eins hinter dem anderen. "Nabend",
sagt ein Fahrer. Im Radio läuft "An Tagen wie diesen" von Fettes Brot.
"Absolute Wahnsinnsshow, die Sonne lacht so schadenfroh, an Tagen wie diesen",
näselt der Sänger. Und der Fahrer fragt: "Wie war es?"
Ja, wie war es eigentlich?
Eine schwere Frage, kurz nach halb vier. Gedanken sortieren.
Rückblick, die Uhr
schlägt zwölf. Wie jedes Jahr Heilig Abend ist der Ringlokschuppen
angesagt. "Die wilde Weihnacht" heißt das Spektakel, das Jahr für
Jahr dieselbe Klientel anlockt. Jugendliche. Junge Erwachsene. Hunderte.
Hui, Schlange bis zur Drehscheibe. In der Kälte. Inken, 27, steht
drin. Zum ersten Mal. "Bin gespannt", sagt sie und wartet auf ein Vorankommen.
Zehn Minuten später,
endlich drin. Jacke abgeben, durchquetschen und rein ins Getümmel.
Halt, erst noch ein paar Getränke ordern. "Ein Pils, eine Cola bitte."
Kostet sieben Euro. Sieben!! Warum das? "Inklusive Pfand." Ein großes
Hallo. "Ach, du auch hier!? Du auch? Hey! Hallo! Alles klar!?" Herzliche
Wiedersehen. Und weniger herzliche. "Und sonst?" "Muss!" Sieben Euro für
ein Pils und eine Cola, manoman.
Björn, 28, seit Jahren
Stammgast, kommt vorbei. Geht kurz vor ein Richtung Jacke. "Ey, das Durchschnittsalter
ist 18,875 Jahre. Ich verschwinde in die Kneipe nebenan." Tschüss
dann. Den neuen Diskoraum sehen viele zum ersten Mal - hat sich eben einiges
geändert in 2005. Inken lehnt an der Wand. Wie findet sie's? "Geht
so." Am DJ-Pult steht wie in den letzten Jahren das K&K-Projekt mit
den Brüdern Christian und Michael Knöpfel. Schwierige Aufgabe,
viele Musikgeschmäcker zu vereinen. Von "La Casima Negra", "Time of
my life" bis zu "Westerland" - was für eine Mischung. "An Tagen wie
diesen" läuft auch, den kritischen Taxt vernimmt hier keiner. Bei
Westernhagens "Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz" drehen die Knöpfels
den Knopf runter. "Und jetzt ALLE!" Und alle trällern: "Mit Pfeffermiiiiinz
bin ich dein Priiiiinz."
Genug gesehen. 1.45 Uhr,
mal die Kneipe ausprobieren. "Ein Weizen, eine Cola bitte". 4,80 Euro kostet
der Spaß. Hä? Billiger? In der Kneipe ist's leiser und das Publikum
etwas älter. Björn steht dort. "Fast so, als ob man sich mit
dem Alter für die Kneipe qualifiziert." Um kurz vor drei brüllt
jemand: "Geeeeeil, guckt mal raus: 'ne Wemmserei." Draußen prügeln
sich zwei Jungs. Die Security geht dazwischen, drei Polizeiwagen kommen
angedüst.
Fünf nach halb vier.
"Und? Wie war es jetzt?", fragt der Taxifahrer wieder, dreht sein Lenkrad
und braust durch die Innenstadt. Im Radio ist wieder der Refrain dran:
"Absolute Wahnsinnsshow." Die Sonne lacht in dieser Nacht nicht schadenfroh.
"Wie es war? Wie immer!"
Eine Handynummer. 0160 und
so weiter, schnell gewählt. "Janet Köhler?", fragt eine Stimme
am anderen Ende. Puh, endlich bekommen. Gar nicht so einfach. 18 Jahre
alt sein und Badminton spielen - das können viele. Aber Jugend-Europameisterin
und Mülheims Jugendsportlerin des Jahres - ausgezeichnet vor mehr
als 2000 Zuschauern in der RWE Rhein-Ruhr-Sporthalle - das ist nur Janet.
Wann trainiert sie eigentlich? Die Aufzählung beginnt. "Montag ab
19.30 Uhr, dienstags von 14 bis 16 und 19.30 bis 21.30 Uhr, mittwochs von
8.30 bis 11.30...", und so geht es weiter und weiter. Momeeent. Nicht so
schnell. Zusammengerechnet sind's mindestens 20 Stunden pro Woche Badminton,
Badminton und noch einmal Badminton. Davor, dazwischen und danach steht
die Ausbildung zur Bürokauffrau an der Bochumer Be´ne´dict
School der RAG Bildung im Mittelpunkt. Im "Haus des Sports" bewohnt Janet
ein Zimmer. In drei Monaten zieht sie in eine Wohnung.
Das Gespräch läuft
und läuft, die Handyleitung kratzt zwischendurch etwas. Nein, kontaktscheu
ist Janet nicht. Sonst hätte sie am 1. September 2004 wohl einen kleinen
Großstadtflash bekommen. Sie stammt aus Hoyerswerda in Sachsen, besuchte
in Jena ein Sport-Internat - und dann ging's ab in den Ruhrpott. Mit-Azubis
und die Mitspieler beim 1. BV Mülheim erleichterten den Einstieg.
Nur die Verkehrsführung machte ihr zu schaffen. "Ich war am Anfang
ziemlich oft falsch".
Nach Hause zieht es sie
nur alle fünf oder sechs Monate. Nun gut, also verbringt sie auch
die Wochenenden meist in Mülheim. Und wo geht die 18 Jährige
hin? Freeland, Gelber Elefant, Ballermann - alles schon ausprobiert? "Nee,
Freeland ist nicht so mein Ding, der Gelbe Elefant eher eine Kinderdisco."
Und Ballermann? "Ja, doch, wenn ich gut gelaunt bin, einfach so zum Tanzen.
. ." Aber weggehen muss nicht immer sein. Zu oft stehen samstags und sonntags
Turniere im Terminkalender. "So ein chilliges Wochenende ist auch mal ganz
nett", sagt sie. Chillen, ein Lieblingswort der U-19-Europameisterin. Ein
bisschen chillen hier und dort, zwischen Schule und Trainingshalle - das
muss schon drin sein.
Ein nettes Gespräch.
Heute um 14.30 Uhr kann Janet nicht ans Handy gehen. Dann ist sie "temporary
not available", weil sie den Badmintonschläger in der Hand hält,
wie so oft. Im Forum steht sie für Schaukämpfe zur Verfügung.
Eine Wahl-Mülheimerin auf Werbetour für ihre Lieblingssportart.
Chillen muss sie ein anderes Mal.
Wim organisiert alles
rund um den Schläger
WAZ-SERIE MITMENSCHEN: Karl-Wilhelm
Kölsch ist einer von 65 ehrenamtlichen Helfern beim Badminton-Turnier,
den "German Open"
Von Andreas Ernst
Sein Arbeitsplatz ist ein
großer Schreibtisch im "Presse Center". Sein Werkzeug ist eine Woche
lang eine Tastatur, auch zu Schere und Tesafilm greift er ab und zu. Wim
Kölsch ist einer der 65 ehrenamtlichen Helfer des 1. BV Mülheim
bei den "German Open" im Badminton.
Es klopft an der Tür.
"Herein", sagt Kölsch. Jemand aus der koreanischen Delegation steht
im Raum. "Eight copies, please." Kölsch antwortet auf Englisch, betätigt
den Kopierer. Wieder ein Job erledigt. Auf seinem PC-Bildschirm blinkt
eine Internetseite, natürlich zum Thema Badminton. Eigentlich heißt
er Karl-Wilhelm Kölsch. "Wie der eine und wie der andere Opa", scherzt
der 49-Jährige. Beim BVM ist er für alle "Wim".
Aus den Sporthallen der
Stadt ist er kaum noch wegzudenken - wenn es ums Thema Badminton geht.
Im BVM-Vorstand arbeitet der Mitarbeiter der städtischen Sozialagentur
erst seit 2002. Seine Kinder Benny und Alina spielen hingegen seit 1993
beim BVM. Vater Wim schaute immer beim Training zu. "Wie es dann so ist",
sagt er, "unterhält man sich mit anderen Eltern, ärgert sich
über das eine oder andere. Und irgendwann habe ich gesagt: Wim, du
musst aufhören zu meckern und selbst mithelfen." Seine John-Lennon-Brille
liegt rechts neben dem Bildschirm. Wieder kommt jemand. Eine Akkreditierung
wird verlangt. Kein Problem für Wim Kölsch.
Wieviel Prozent seiner Freizeit
er mit Organisation rund um den Schläger verbringt, das muss er nicht
nachrechnen. "95 Prozent", sagt er mit lauter Stimme. Beim BV ist er Pressesprecher
und gestaltet die Internetseite im Alleingang. Und bei den German Open
ist seine Hauptaufgabe, die Turnier-Homepage mit Texten und Ergebnissen
zu füllen. Botengänge, Zeitungsartikel ausschneiden und an die
Pressewand kleben - das erledigt er nebenbei. "Fünf Stunden Schlaf
pro Nacht sind in dieser Woche normal. Manchmal sitzen wir bis um eins
in der Nacht hier", sagt er. Alles ehrenamtlich.
Selbst nimmt er den Schläger
übrigens nicht in die Hand. Und Spiele der weltbesten Badminton-Asse
kann er sich nur ganz selten anschauen. So ist das eben als Mitarbeiter
im "Presse Center". Extra für dieses Turnier hat er zwei Wochen Urlaub.
Zwei Wochen! Denn am Wochenende nach den "German Open" richtet der BVM
die Westdeutschen Schüler-Meisterschaften aus, auch in der RWE Rhein-Ruhr-Halle.
Dann geht für Wim Kölsch alles wieder von vorn los. Organisieren,
Internetseite aktualisieren, Artikel ausschneiden und an die Wand kleben.
Aber einer wie er, der jammert nicht. "Ich bin eben mit Leib und Seele
dabei." Zum Schluss setzt er seine John-Lennon-Brille auf und flitzt durch
die Halle. Ein typischer Botengang."Wenn ich nach Metern bezahlt würde.
. .", sagt er.
"Geißbock" zwischen
den Bällen
WAZ-SERIE MITMENSCHEN: Henk Kaspers
verteilte Essensmarken im "Communication Center" bei den "German Open".
Heute sitzt er im Flieger und begleitet
das Fußballteam des 1. FC Köln ins Trainingslager nach Portugal
Von Andreas Ernst
Im Radio läuft "Regen
und Meer" von der Band Juli. Naja, Juli ist nicht wirklich, ein Meer nicht
in der Nähe - höchstens Regen trifft es etwas. An die frische
Luft kommt Henk Kaspers aber fast gar nicht im Moment. Er verteilt Akkreditierungen
und Essensmarken im "Communication Center" bei den "German Open" in der
RWE Rhein-Ruhr-Sporthalle.
Unten, tief im Keller des
Gebäudes, nimmt der 30-Jährige in der Sitzecke Platz. Eine Grünpflanze
zwischen Sessel und Couch sorgt sogar für ein wenig Gemütlichkeit.
"Am Montag", sagt Kaspers mit ruhiger, unaufgeregter Stimme, "da war hier
am meisten los." Hier, im Kommunikations-Zentrum, erhalten alle außer
Journalisten ihre Akkreditierung. Hier holen Schieds- und Linienrichter
ihre Kleidung ab. Hier ordern Spieler Extra-Busse zu Hotels und Flughäfen.
Hier gibt es Essensmarken für alle. Kaspers und vier Kollegen bearbeiten
die Anfragen.
Seit seinem siebten Lebensjahr
spielt er beim 1. BV Mülheim, mittlerweile hat es der Mitarbeiter
der städtischen Sozialagentur sogar zum Geschäftsführer
gebracht. "Wir hoffen, durch die Ausrichtung profitieren zu können,
indem wir mehr Mitglieder und Sponsoren bekommen", sagt er und bearbeitet
parallel eine Akkreditierungs-Anfrage.
Für Henk Kaspers ist
es der letzte Tag im "Communication Center". Heute Mittag schon sitzt er
im Flieger ins portugiesische Portimao, mit einem Schal des 1. FC Köln
um den Hals. Er ist einer der größten "Eff Zeh"-Fans der Stadt
- der Ober-Geißbock an der Ruhr sozusagen. Den Mülheimer Fanklub
leitet er. In Portimao ist der FC ab heute im Trainingslager. Nicht viele
FC-Spiele fanden in den letzten Jahren ohne Kaspers statt. "In der Bundesliga
ist es aber schwierig", sagt er. "Denn am Samstag muss ich häufig
Badminton spielen." Ein Sportler in der Zwickmühle. Vor ein paar Jahren
zählte Kaspers noch zu den "Groundhoppern", das sind Fußballfans,
die es sich zum Ziel gesetzt haben, Spiele in möglichst vielen Ländern
zu sehen. 20 hat Kaspers geschafft. "Rumänien zur U21-EM war 1998
mein verrücktestes Erlebnis. Da ging es ab nach Bukarest", sagt er.
Regen gibt es in Portugal
nicht. Aber Meer. Nach dem German-Open-Stress hat sich Henk Kaspers diese
Ablenkung verdient.
Dscharrrko liebt seine
Arbeit
WAZ-SERIE MITMENSCHEN: Kroatischer
Wirt leitet das "Schräge Eck" seit 1979 und ist immer für einen
Witz und eine Runde Billard zu haben.
Ob er im Rentenalter in seine Heimatstadt
Split an der Adriaküste zurückkehrt, weiß er aber noch
nicht
Von Andreas Ernst
Vor ihm auf der Theke liegen
15 Bierdeckel, mindestens. Alle versehen mit Strichen und Namen. Nur einer
hat den Überblick im "Schrägen Eck" an der Klopstockstraße.
Es ist Zarko Pulic, der Wirt. Im großen Saal der Gaststätte
findet ein Darts-Bundesliga-Spieltag statt. Und zwischen Bier, Cola, Wasser
und Chili con carne erzählt Zarko, sprich "Dscharrrko", aus seinem
Leben.
"Seit 1979 leite ich das
hier", sagt er und blickt in seiner Gaststätte herum. An der Wand
hängt ein Schal von Borussia Mönchengladbach. "Und mir war kein
einziges Mal langweilig." Im Nebenraum fliegen die Pfeile, wird ständig
applaudiert. Als Hintergrundmusik läuft etwas von Bon Jovi. Und Zarko
denkt an 1970 zurück, als er nach Deutschland kam. Er stammt aus Split
an der kroatischen Adriaküste und absolvierte seine Gastronomie-Lehre
in Dubrovnik. "Im ersten Haus am Platz. Tito selbst habe ich bedient. Und
das Handwerk von der Pike auf gelernt."
In Deutschland wurden Gastronomie-Fachkräfte
gesucht. Einer wie Zarko. Gemeinsam mit seiner Frau arbeitete er in Stuttgart,
Rastatt und Leverkusen. Bis sie 1974 im Restaurant "Croatia" direkt neben
dem Hotel Handelshof in Mülheim landeten. Seitdem schiebt Zarko sechsmal
pro Woche Elf-Stunden-Schichten.
"Ich liebe meine Arbeit.
Und meine Gäste", sagt er und hebt seine Stimme. Zarko ist ein Wirt,
der immer für ein Würfelspiel oder eine Runde Skat zu haben ist.
Der auch selbst am Dart-Automaten mitspielt, gern zum Billard-Queue greift
und die Kugeln in den Löchern versenkt. Der immer einen Witz auf Lager
hat. Und der seinen Gästen Konzerte anbietet. Er selbst griff in den
Jahren mit Freunden oft zu Gitarre und Akkordeon.
Zwischendurch serviert Zarko
einen Teller voll Chili. Er ist 59, in sechs Jahren geht er in Rente. Und
zurück ans Meer? Zurück nach Split? Da setzt sich Zarko, lehnt
sich zurück und denkt nach. "Meine Stammgäste sagen immer, dass
sie sich nicht vorstellen können, dass ich abhaue", sagt Zarko schließlich.
"Wir überlegen, in Kroatien alles zu verkaufen." Seine Kinder (33
und 26) sind in Mülheim zu Hause. Und sein Sohn ist in Zarkos Fußstapfen
getreten - als Vereinswirt von Rot-Weiß Mülheim.
Über dem Eingang steht
"AWO, Seppl-Kuschka-Haus". Kurz klingeln und sofort öffnet sich die
Tür. Wo ist Michael Mölders? In der vierten Etage. Schnell die
Treppen hoch, und rein in die Schreinerei. Da ist er. Er, der Zivi.
Nein, einen Arbeitskittel
trägt er nicht. Michael ist normal in Jeans gekommen. "Die Leute hier
genießen das, wenn Michael da ist", sagt "Chef" Frank Greuel. Auf
dem Tisch stehen Kekse mit Cappuccino-Füllung und Kaffee. Michael
legt eine Pause ein und schlürft an der Tasse. Warum Zivildienst?
Und nicht Bundeswehr? "Das", sagt der 21-Jährige, "war sofort klar."
Und zwar nicht nur aus Gewissensgründen, sondern auch, um in Mülheim
zu bleiben.
Seit dem 1. September ist
er bei der AWO. Wie jeder Wehrdienstverweigerer ging er auf Job-Suche.
Die Angebotspalette ist groß. "Die AWO war die erste Einrichtung,
die auf meine Anfrage geantwortet hat", sagt er und lacht danach. "Nein",
ergänzt er, "auch der Aufgabenbereich sagte mir sofort zu." Jeden
Tag von 8 bis 16 Uhr beschäftigt er sich nun mit der Ergotherapie
in der Schreinerei. Er betreut die Klienten, hilft ihnen bei den einfachen
Arbeiten, wie zum Beispiel Reparatur von defekten Tischen und Stühlen.
Am Anfang war es für ihn schwierig, in einem Übergangsheim für
Menschen mit psychischer Behinderung zu arbeiten. "Da bin ich manchmal
echt fertig nach Hause gekommen", sagt er. Inzwischen, nach fünf Monaten,
ist er Cheffes rechte Hand und auch einmal alleiniger Betreuer in der Schreinerei.
Ende April ist er fertig.
Und was dann? Er nippt an der Kaffeetasse, greift in den Kekstopf und sagt:
"Vielleicht hänge ich noch ein, zwei Monate bei der AWO dran." Mit
dem Studium beginnt er erst im Oktober. Dann ist er 22 - was ihn stört.
"In der Schule habe ich eine Ehrenrunde gedreht, und durch die neun Monate
Zivildienst kann ich erst spät anfangen." So mancher ist in Zeiten
des Bachelor-Studiengangs mit 22 schon fertig.
Michaels geplantes Studienfach
klingt dafür sehr interessant. Er hat sich für populäre
Musik- und Medienwissenschaften an der HfM Detmold in Kooperation mit der
Uni Paderborn entschieden. Selbst spielt er seit vielen Jahren Gitarre
und Klavier - und das sehr gut. Mit seiner Band "Two and a half" und einigen
Coversongs im Gepäck tritt er gelegentlich auf. Musikmarketing, Produktion,
Management - so stellt er sich seine Zukunft vor.
Erst einmal arbeitet er
in der Schreinerei des Seppl-Kuschka-Hauses. Und das gern. Da bleibt für
den Kaffee und einen Keks zwischendurch nur in der Mittagspause Zeit.
Die Filmrolle ist groß,
das Gewicht schwer zu schätzen. Florian Neutzsch steht am dicken,
grauen Bauer-Projektor im Hinterraum des Kino Rio und arbeitet. Rolle auflegen,
3 - 2 - 1 - und. . . Film ab!
Woody Allens "Match Point"
läuft gerade im schnuckeligen 80-Mann-Kino. "Woody mag ich sehr",
sagt Florian und schleicht an den roten Sitzen vorbei ins Cafe´.
Er blickt zur Schlossbrücke, auf die Ruhr. "Mülheim braucht so
ein Kino. Ein Programmkino.Und der Standort am Fluss ist perfekt", sagt
er. "Filmvorführer". . . eine perfektere Variante auf die Frage nach
dem Nebenjob gibt es kaum. Florian blickt im Cafe´ herum und auf
die aufgemalten Filmplakate an der Wand. Es riecht nach Kaffee. Großes
Kino.
Seit drei Jahren arbeitet
der 23-Jährige im Rio. Tagsüber beschäftigt er sich mit
seinem Mechatronik-Studium, das er gerade in Bochum durchzieht. Jeden Montag
und Dienstag geht es ab ins Rio. "Am Anfang", sagt er, "da habe ich die
Theke gemacht. Und kurze Zeit später umgeschult." Filmvorführer?
Ein Lernberuf?
Jaaa, natürlich! "Match
Point" zum Beispiel besteht aus zwei Filmrollen. Das heißt für
Florian: Nach 45 Minuten hinein ins Hinterzimmer, die Rollen passend wechseln
und so überblenden, dass der Zuschauer nichts merkt. Eigentlich gehört
zum Job, die ganze Laufzeit des Films im Kinosaal zu verbringen. "Aber
bevor ich zum x-ten Mal den gleichen Film sehe, setze ich mich ins Cafe´."
Und raucht eine Zigarette, trinkt ein Käffchen, schaut auf die Ruhr.
Wenn die Rolle reißt oder der Ton ausfällt, beschweren sich
die Zuschauer automatisch. "Mit dem Mülheimer Publikum habe ich bisher
Glück gehabt. Wenn etwas schief ging, waren alle nett, wenn ich um
Entschuldigung bitten musste."
Noch mindestens zwei Jahre
dauert sein Studium. So lange will er weiterhin zweimal pro Woche Sechs-Stunden-Schichten
im Rio schieben. Er wohnt in Essen und kennt dort die anderen Programmkinos
wie Astra, Eulenspiegel und Galerie Cinema sehr gut. Filme gucken, Filme
gucken, Filme gucken - was für ein Job! Was er genau bevorzugt, kann
er gar nicht genau sagen. Woody Allen eben. Jeder Tag mit "Match Point"
ist da fast schon ein verwandelter Matchball.
"Die Leute sagen, dass die
Filme hier zu anspruchsvoll sind. Stimmt aber nicht", sagt Florian. So
richtig anspruchsvoll wird's für Florian erst zu Hause. Dort wartet
der einjährige Sohn Theo Sebastian. "Das ist mein Privat-Kino", sagt
er. Dabei fällt sein Blick auf die Kerzen im Cafe´. Filmvorführerische
Romantik.
Von Andreas Ernst
Auf der Tribüne sind
alle versammelt. "FC Bolzen! FC Bolzen!", brüllen die Stars des Ruhrgebiets-Kabaretts
im Stakkato. Die Proben für die Revue "FußballFieber" laufen
seit zehn Tagen im Ringlokschuppen. Am 31. März ist die Premiere in
Dortmund.
Herbert Knebel (Uwe Lyko)
ist Trainer, Platzwart, Mädchen für alles beim FC Bolzen. Er
trägt eine orangefarbene Trainingsjacke im 60er-Look. Im Spiel des
FC gegen den SV Gewerbegebiet Lütgendortmund-Ost ist gerade das 0:8
gefallen. Betreuer Erwin (Heinz-Peter Lengkeit) hockt neben Knebel - ein
gescheiterter Ex-Fußballer, heute Betreuer beim FC und Wirt der Vereinskneipe
"Zur Latte".
0:8 also. Vereinsboss Ralf-Günter
(Jochen Malmsheimer) läuft ungeduldig umher, brüllt im schmierigen
Rosa-Anzug herum. Seine Frau Gudrun (Stephanie Überall) beobachtet
das Geschehen und will nicht wissen, was Abseits ist. Ihre Tochter Jenni
(Bianca Lammert) blickt ständig auf Fußballer Paul (Alexander
Stirnberg) herüber, der nur auf der Reservebank und neben Mutter Elfi
(Gerburg Jahnke) hockt. 0:8, dabei bleibt es.
Die Ex-Missfits, Knebel,
Malmsheimer - klar, dass bei den Proben viel gelacht wird. Auf der Bühne
und außerhalb. "FußballFieber" ist die Geschichte über
den Fußballer Paul auf dem Weg ins Nationalteam. Und über Liebe
mit verschiedensten Pärchenbildungen. Die Revue bedient vortrefflich
die Erwartungen nach knackigen Sprüchen von Knebel und Co. In der
Kneipe blättert Elfi in "Dr. Calmunds seine kleine Ernährungslehre
für Nationalspieler" und "Sexualberater von Dr. Assauer". Sie will
ihrem hoffnungsvollen Paul Sex vor dem Spiel verbieten. Und danach? "Danach
gilt die zweite Regel. Nach dem Spiel ist vor dem Spiel."
Nächste Szene. Training.
Knebel und Erwin wollen das Talent Paul durch Lauftraining fit machen,
den "heftigen Erfahrungsschatz" weiterreichen. "Dat is Erwin und mein seine
Pflicht." Zitat von wem? Knebel, klar. Zwischenmotivation bieten drei Flaschen
Bier - eine für jeden. Nach dem ersten Schluck verzieht Knebel das
Gesicht. "Is dat von Omo dat Pils?" In Bierlaune redet Erwin von seinem
unrühmlichen Karriereende wegen einer Verletzung. "Wat war ich ein
Hoffnungsträger. . ." Knebel pflichtet bei: "Der Erwin hatte einen
Mörderbums. Jetzt sieht dat Knie aus wie Dresden ´45 - ein Mahnmal",
sagt Knebel. Mit Paul gehen sie "in den medias seinen res". Drei Wochen
noch will Regisseur Ulrich Waller proben. Zwei Stunden wird das Stück
dauern - also 90 Minuten plus Verlängerung.
Von Andreas Ernst
Stramm in Reih und Glied
stehen sie nebeneinander: acht Bauern. Eine Reihe dahinter zwei Türme,
zwei Springer, zwei Läufer, eine Dame. Und natürlich der König.
Langsam bewegt Ilja Ozerov seine rechte Hand in die weiße Bauernreihe.
"Weiß e4", sagt er und zieht den Königsbauern zwei Felder nach
vorn. Dann greift er ein wenig weiter und schiebt einen schwarzen Bauern
von c7 auf c5. "Das heißt sizilianisch", sagt er.
Ruhig schaut Ilja auf die
32 Figuren auf den 64 Feldern. Er ist 19, studiert Mathematik in Bochum
und spielt Schach in der Jugend-Bundesligamannschaft des SV Nord. Die hat
sich gerade für die Endrunde um die deutsche Meisterschaft qualifiziert.
"Das freut mich sehr", sagt Ilja, "in meinem letzten Jahr um die deutsche
Meisterschaft zu spielen." Bald wird er 20 - und ist dann zu alt für
das Jugendteam. Der Blick wandert zurück aufs Brett. Sizilianisch,
das ist nicht die einzige Variante. Er zieht Figuren hin und her, erklärt
italienisch, spanisch undsoweiter. Und dann zahlreiche Untereröffnungen.
Schach? Einfach nur hinsetzen und drauflos spielen? Neeein, so einfach
muss das nicht sein.
Geboren ist Ilja in Moskau,
kam mit vier Jahren nach Deutschland. Über Düsseldorf und Wuppertal
fand er nach Mülheim. Wann er zum ersten Mal ein Schachbrett sah,
weiß er gar nicht mehr. Ab der sechsten Klasse besuchte er die Luisenschule,
blieb dort bis zum Abi. Jetzt wohnt er wegen der Uni-Nähe in Herne.
Die Figuren stehen unsortiert
auf dem Brett, Ilja geht im Schachzentrum an der Südstraße in
einen Nebenraum und holt ein Heft. "Schach in Schulen, Bauerndiplom", steht
darauf. Beim SV Nord leitet er Kinder- und Jugendlehrgänge. Die höchste
Stufe ist - logisch - das Königsdiplom. Die Internetseite des SV betreut?
Klar, der vielseitige Ilja. Er sorgt dafür, dass die Spiele der Erwachsenen-Bundesligamannschaft
live ins Netz übertragen werden. Auf der Seite "schach.de" ist Ilja
Ozerov zudem Stammgast, und spielt "online" gegen Gleichgesinnte aus aller
Welt. Neueste Variante ist im World Wide Web Bullet-Schach. Eine Partie
dauert nur wenige Minuten.
Auf dem Kragen seines weißen
Hemdes steht SV Nord. Den roten Schal hat er abgelegt. Profi will er nicht
werden. "Der SV Nord", sagt er, "ist der beste Verein im Westen, vielleicht
in Deutschland. Hier bleibe ich." Obwohl er in Herne lebt, obwohl er in
Bochum studiert. Wenn er Schach spielt, wird es meist 1. e2-e4 c7-c5 heißen.
Denn sizilianisch hat es Ilja Ozerov am liebsten.
Von Andreas Ernst
Und Ballack passt quer auf
Podolski, Flanke, Kopfball Klose, Tooooooorrrrr! Mal ehrlich, in der Zeitung
wirken diese Zeilen nicht. Das sind Radio-Sätze - und dort auch nur
von einer Stimme: Manni Breuckmann. Der leibhaftige WDR-Manni stellte sich
am Dienstag 150 Zuschauern und -hörern im Ringlokschuppen. Er las
aus seinem Buch "Mein Leben als jugendlicher Draufgänger".
Diese Stimme. . . einfach
Wahnsinn. Er ist für alle der Manni und nicht der Breuckmann. Angeblich
geht es nicht um Fußball, heißt es. Aber das stimmt natürlich
nur halb. Manni setzt die Brille auf die Nase und liest. Sein Werk beschäftigt
sich mit seiner Kinder- und Jugendzeit in Datteln. Er - Jahrgang 1951 -
erlebt die Nachkriegszeit mit Wirsinggemüse und "olfaktorisch problematischem"
Plumpsklo. In den 60ern geht es um die Beatles, Stones, Bier, schöne
Mädchen. Das ist nicht neu und literarisch schon hundertmal verewigt.
Mindestens. Er hat solide formuliert, mit witzigen Stellen, ab und zu ironisch.
Seine Stimme würzt
den Abend. Dieses butterweiche, klare, wohl temperierte Organ. Augen schließen,
sich ein Radio vorstellen. "Der Manni, der ist auf dem Boden geblieben",
sagt jemand.
In der ersten Geschichte
geht es um eine Mutprobe im September 1958 an einem Sägeblatt am Gatter.
1967 - nächstes Kapitel - rockt Jugend-Manni mit einer Band auf einer
Abizeugnis-Verleihung und wird vom Direktor rausgeschmissen. Den Schuppen-Fans
trägt er "Everybody needs somebody" vor. Sollte aber lieber beim Lesen
bleiben. Hach, was für eine Stimme. . .
Bei der ersten Bandprobe
darf ein Besuch im "Gourmet-Pommestempel Curry-Franz" nicht fehlen. In
der dritten Buchprobe schildert Manni seinen ersten Rausch.
Nach anderthalb Stunden
geht es dann doch um Fußball. Mannis erster Torschrei, am 7. Mai
1972, war für Miriam ("weil ich es ihr übers Mikrofon besorgen
wollte"). Längst trinkt Manni eine Flasche Pils. Zum Schluss beantwortet
er Fragen. Warum er nicht zum Fernsehen ging? "Mir reicht der DSF-Doppelpass,
um mal auf die Brause zu hauen."
16 WM-Spiele darf er kommentieren.
Podolski auf Klose, Tooooooooorr! Das klingt nur bei Manni schön.
Wow, wirklich eine fantastische Stimme!
Von Andreas Ernst
Schnell kommt sie angesprintet.
Noch 15 Minuten bis zum Kick-Off. Ist das wirklich. . . Christin Schlensog?
Im Handball-Tor beim RSV wirkt sie so brav und nett. Jetzt kann sie auch,
grrrr, ganz grimmig schauen. Ihr Kopf lugt ganz winzig zwischen den riesigen
Schulterpolstern hervor. In der linken Hand trägt sie einen Helm,
auf dem die Spuren von zahlreichen American-Football-Schlachten erkennbar
sind. Rote und schwarze Flecken.
"Ich muss jetzt weg", sagt
Christin Schlensog und setzt den Helm auf. "Sonst wird der Trainer sauer."
Das Bundesligaspiel der Mülheim Shamrocks gegen die Hamburg Amazons
beginnt.
23 Jahre ist Christin alt
und arbeitet als Maschinenbau-Ingenieurin. Eben noch bei Siemens, jetzt
schon auf dem Rasen am Wenderfeld. "Four, three, two, one", brüllen
die Shamrocks. Der Geruch von Grillwurst und Steak zieht bis zur Stehplatztribüne.
Lecker. Ab geht's. Football-Fremde können nur schwer folgen. Wofür
gibt es wie viele Punkte? Der Stadionsprecher hilft.
Es geht in eine Richtung.
Die Hamburgerinnen sind chancenlos und wälzen sich meist ungewollt
im Matsch. Wo ist Christin? Die mit der Riesen-"32" auf dem Trikot. Die
in der Offensive ein "Fullback" ist. Bei einem Spielzug bekommt sie das
Football-Ei, läuft ein paar Schritte, und KRAWUMM reißt es sie
zu Boden. Autsch, hat bestimmt weh getan. Nein, sie steht schnell wieder
auf. In Halbzeit zwei fängt es an zu regnen. Ist für eine Hallensportlerin
bestimmt ungewohnt. 31:0 gewinnen die Shamrocks. Christin kommt vom Feld,
setzt den verdreckten Helm ab und ist glücklich. Erst seit ein paar
Monaten gehört sie dazu. "Die letzte Handball-Saison", sagt sie, "die
ist nicht so rosig gelaufen." In der Verbandsliga schrammte der RSV nur
knapp am Abstieg vorbei. "Da habe ich überlegt, ob ich die Sportart
wechseln soll." Sie kam zu den Shamrocks. Ruck, zuck gab es die Ausrüstung
- und deshalb schmerzen die vielen Rempler gar nicht.
Am Morgen danach. "Ich habe
mehr Muskelkater als beim Handball", sagt Christin. Vor zwei Wochen hat
sie ihren ersten Touchdown beim Football geschafft. Wenn sie einen Siebenmeter
beim Handball abwehrt, ist dies dasselbe Gefühl? "Vergleichbar", sagt
sie.
Ab September tauscht sie
die Football-Kluft gegen das Torwarttrikot. Der Spaß am Handball
ist auch wieder da. Und dort gibt es einen Vorteil: Nicht so viele blaue
Flecken.
Von Andreas Ernst
Im Zehn-Minuten-Takt biegt
die Straßenbahnlinie 102 in die Endhaltestelle "Oberdümpten"
ein. Ein Blick aus dem Fenster. Auf der einen Seite: die Häuser an
der Borbecker Straße. Auf der anderen: die Hauptschule Dümpten.
Der Schulhof ist leer, die Schüler sind in ihren Klassen. In bunten
Farben prangen die Trikots der WM-Teilnehmer an den Fenstern.
Hauptschule. Ist es dort
wirklich so friedlich?
Fünf Neuntklässler
und Lehrer Boris Walitza sitzen in einem Klassenraum brav nebeneinander.
Von links nach rechts: Der 17-jährige Konstantin aus Kasachstan -
seit 2004 in Deutschland. Daneben Efkan aus der Türkei. 16 Jahre alt,
Schüler der 9c. "Ich komme aus einem Ort am Schwarzen Meer", sagt
er mit fester Stimme und umklammert seine Schultasche. Ein wenig schüchtern
blickt Fiona (16) aus Kenia, seit einem Jahr in Deutschland. "Sie hat viel
gelernt und schon den Sprung in die Regelklasse geschafft", sagt der Lehrer.
Die Libanesin Hanifa (15) und die Türkin Ayse (17) sind in Deutschland
geboren. Hauptschule; ein Multikulti-Ort. Ein Ort der Gewalt? Rütli-Schulen-Effekte
auch in Mülheim?
Efkan meldet sich. "Einen
guten Ruf haben wir Hauptschüler nicht", sagt er. "Aber Gewalt und
Waffen gibt es an der Schule nicht." Lehrer Walitza hakt ein: "Manchmal
kloppen die sich schon, aber nicht, weil sie Ausländer sind." Außerhalb
der Schule hatte Efkan einmal ein Negativerlebnis. "Ich wollte in einen
Laden rein, doch dann hat der Türsteher gesagt: ,Heute keine Ausländer.
Heute keine Türken'. Da bin ich sehr wütend geworden."
Über vier Millionen
Arbeitslose; gibt es bei den Neuntklässlern Zukunftsangst? Konstantin
hat noch keine genaue Vorstellung von der Zukunft. Was er machen will?
Er zuckt mit den Schultern. Efkan ist ein bisschen weiter. "Chemielaborant",
lautet sein Wunsch. Neben ihm sitzt Fiona und sie flüstert leise "Krankenschwester".
Hanifa will ihre Schullaufbahn bis zum Abi fortsetzen. "Ein bisschen Angst
habe ich aber schon. Man merkt ja, wie die Leute gegen Hartz IV demonstrieren."
Ganz rechts sitzt Ayse; sie zuckt mit den Schultern. In der neunten Klasse
läuft die Berufswahlvorbereitung, kommt die Berufsberatung. Noch ein
Jahr, dann bewerben sich die fünf aus vier Nationen.
Die Hauptschule - in der
öffentlichen Meinung kommt sie nicht gut weg. Boris Walitza kann viel
aus seinem Schulalltag erzählen: "Es gibt Schüler, die viel lernen,
aber auch welche mit ,Scheißegal'-Einstellung, gerade in unserer
zehnten Klasse. Da haben die wenigsten eine Lehrstelle."
Konstantin, Efkan, Fiona,
Hanifa und Ayse. Aus Deutschland wollen sie nicht mehr weg. Sie bleiben
in ihrer Freizeit auch nicht unter sich. "Ich habe überwiegend deutsche
Freunde", sagt Hanifa energisch. "Nach Hause? Im Sommer, zwei Wochen in
den Urlaub", ergänzt Efkan.
Eine 102 steht abfahrbereit
an der Haltestelle. Ein Schulbesuch gegen Vorurteile. Es gibt in Dümpten
Zukunftsangst, Gleichgültigkeit. Es gibt aber auch das Gegenteil.
Hoffnung und Engagement.
Von Andreas Ernst
Es ist Elfmeterschießen.
"Neiiin, bitte nicht", hallt es aus der einen Ecke. "Ach", flüstert
eine Stimme, "im Elferschießen sind wir doch nicht zu schlagen."
Haltet doch die Klappe, alle. Ruhe bitte. 1200-faches Zittern in der RWE
Rhein-Ruhr Sporthalle. Einfach nur hineinbeißen in den Fanhut, an
den Nebenmann, die Nebenfrau krallen. Kein Fachsimpeln hilft mehr. Nichts.
Aus drei Richtungen starren
die Fans auf die Leinwand. Zum Beispiel Dieter. "Bin zum dritten Mal hier",
sagt er. "So voll wie heute war's noch nie." Rundherum schwarz und rot
und gelb, im Gesicht, auf der Hand, auf dem Kopf, auf der Fahne. Anpfiff.
"Steht auf, wenn Ihr Deutsche seid", brüllt die Menge. "Auf geht's
Deutschland schießt ein Tor." Jemand versucht es mit "Ihr seid nur
ein Rindfleischlieferant", nein, der Spruch ist nicht massenkompatibel.
Im Lauf des Spiels wird
es leiser. Marcel Reifs Moderatoren-Stimme ist klar zu vernehmen, das Spiel
spannend, intensiv. Umschauen auf der Tribüne. Freundeskreise und
Sportteams sind vertreten.
Zweite Halbzeit. In Reihe
eins steht Michael auf und geht Getränke holen. "Passiert ja nicht
viel." Nicht viel? 0:1 in der 49. Minute. Mülheim ist still. Mülheim
weint, Michael hat's nicht gesehen. "Hör doch auf mit die Scheiße",
brüllt jemand, auf dessen Trikot ein Autogramm prangt. Keins von Ballack
oder Klose. "Diana hat dich ganz, ganz doll lieb." Diana, hilf. 0:1, es
kann doch nicht vorbei sein. Bitte nicht!! "Auf geht's, Deutschland, schießt
ein Tor." Zweckoptimismus!?! Nein. 80. Minute 1:1. Die Verlängerung
zieht vorbei. Es ist Elfmeterschießen. Die ersten drei Schüsse
sitzen. Großaufnahme von Lehmann. "Jeeeeens!", brüllt die Menge.
Jens, mach's! Jens, halt sie! Halt, die anderen müssen noch verwandeln.
"Ich halt's nicht aus", sagt einer, geht raus und zündet sich vor
der Halle eine Zigarette an. Die Augen schließen, sich den Strand
vorstellen, eine verschlafene Bucht an der Karibik. "Was schließt
du die Augen. Deutschlaaaand!! Elferschießen!!! Komm wieder zu dir!"
Es gibt kein Entkommen.
Los geht's. 1:0, 1:1, 2:1
- dreifacher Kollaps. Wer hat bloß dieses VERFLUCHTE Elferschießen
erfunden? Nächster Schuss. . . Gehalten! Gehalten! 3:1, 3:2, 4:2.
Einen noch abwehren, Jens! Einen noooocc... Jaa! JAA! Halbfinale, wir sind
dabei. Mülheim feiert, Mützen fliegen, Becher kippen um, egal,
herzen, Flirtbörse umsonst, herrlich! Ab auf die Kaiserstraße:
hupen.
ANMERKUNG: "Guten Morgen" heißt die zweispaltige Notiz auf der Lokalteil-Titelseite, die jeden Tag erscheint und redaktionsintern "Spitze" genannt wird! Jeder darf seinen Senf dazu beitragen! Der Inhalt? Ganz kleine Alltagsgeschichte plus Pointe...
WAZ / 16.8.2006
I'm a Schlumpf
Heute schon gesurft? Nicht?
Na dann flugs ins Netz und www.nr1finder.de tippen. Wer immer schon wissen
wollte, welches Lied bei der eigenen Geburt auf Platz eins der Charts stand,
ist hier richtig. Unser Fotograf verzog bei "Ich wünsch mir ne kleine
Miezekatze" etwas das Gesicht. Die freie Mitarbeiterin konnte mit "Sunshine
Reggae" gut leben. Der Redakteur, 58er-Jahrgang, sagte nichts zu Freddys
"Ich bin bald wieder hier". Bei mir war es Vader Abrahams "Lied der Schlümpfe".
Darauf ein lautes lalalalalalalalalalaaa.
aer
WAZ /
4.9.2006
Drei Punkte
Neulich im Aquarius: der
Freund heiratet. Sonst ganz die Ruhe selbst, zupft er sich diesmal ganz
nervös die Krawatte zurecht (sonst trägt er nie eine), wippt
auf den Zehenspitzen (oh je, so viele Leute), und wartet auf seine Zukünftige
(er hat sie noch nicht gesichtet). Erst vor dem Standesbeamten erblickt
er seine bezaubernde, ja hinreißende Fast-Frau, und im entscheidenden
Moment verschlägts ihm vor Rührung fast die Sprache. Nur zögernd,
krächzend, fast heiser bringt er die entscheidenden zwei Buchstaben
heraus. Hinterher auf sein verpatztes "Ja" angesprochen, reagiert der Fußballfan
schon wieder souverän: "Knapp gewonnen gibt auch drei Punkte."
ANMERKUNG: Von August bis Oktober 2006 hatte ich auf der Mülheimer WAZ-Jugendseite "Zoom" meine eigene Kolumne "Andi will...", die nicht wirklich auf meinem Mist gewachsen war, sondern in einer Zoom-Redaktionskonferenz entstand.
WAZ / 16.8.2006
Es wäre so schön: Metallica
in Styrum
Andi liebt Festivals.
Headbangen im Stadion, zelten an der Ruhr und von der A 40 glotzen die
Raser. Es wird aber nicht gehen: "Sad but true"
Mein Name ist Andi. Ich
bin eigentlich zufrieden. Eigentlich. Ich laufe auch gern durch Mülheim.
Eigentlich. Denn manchmal fallen mir Kleinigkeiten auf. Da sage ich einfach
nur: "Andi will..." Willkommen zur ZOOM-Rubrik für einen Trotzigen
in dieser Welt.
Neulich im Ruhrstadion.
Ein Fußballspiel. 100 Zuschauer verlieren sich auf der rot-gelb gestrichenen
Haupttribüne, die Laufbahn steht nach einem Gewitter unter Wasser,
der Rasen leuchtet grün und ein Zug rauscht vorbei. Das Ruhrstadion
wäre doch ein Super-Ort für. . . ein Musik-Festival!? Auf der
Gleisseite könnte die große Bühne stehen. Auf der Tribüne
fänden 1000 Leute Platz, drumherum und auf dem Rasen noch einmal ein
paar. Wow, ein Musik-Festival in Mülheim ein ganzes Wochenende lang
vor ein paar Tausend Zuschauern - und dann kommen AC/DC, Die Ärzte,
Die Toten Hosen am nächsten Tag Green Day, Foo Fighters und Metallica
undsoweiter. Das wärs. . . Auf den benachbarten Ruhrwiesen könnten
die Festival-Gänger zelten, direkt unterhalb der Autobahn A40. Naja,
bevor ich weiter träume: Ein Naturschutzgebiet grenzt ans Stadion,
es gibt keine Parkmöglichkeiten, von Sicherheits- und Anwohnerbedenken
ganz zu schweigen. Realisierbar ist das nullkommanull. Aber lasst mich
doch schwelgen. Andi will. . . ein Festival! Was soll Andi wollen? Mailt
an: zoom.muelheim@waz.de
WAZ / 23.8.2006
Mando Franz mit Peppers und Fighters
Andi will eine Disco
mit Gitarrenmusik
Mein Name ist Andi. Ich
bin eigentlich zufrieden. Eigentlich. Ich laufe auch gern durch Mülheim.
Eigentlich. Denn manchmal fallen mir Kleinigkeiten auf. Da sage ich einfach
nur: "Andi will..." Willkommen zur ZOOM-Rubrik für einen Trotzigen
in dieser Welt.
Mal ehrlich: Habt Ihr Euch
noch nie Gedanken darüber gemacht, was für eine Disco in Mülheim
noch fehlt? Ich schon. Es gibt in Mülheim Schlager, House, Charts.
Aber einen Laden, in dem jede Woche Gitarrenmusik im netten Ambiente à
la Pulp läuft (by the way: Pulp ist in Duisburg).
Meine Playlist: Mando Diao,
Franz Ferdinand, The Strokes, Metallica, GunsnRoses, AC/DC, die Peppers,
Foo Fighters, Kettcar, Tomte, The Hives, Kaiser Chiefs, The Darkness, Life
of Agony, Morrissey, Adam Green, Green Day, Offspring, Farin Urlaub, Smashing
Pumpkins, Tocotronic. . . Wäre schön. Andi will: ne gute Disco!
aer Was soll Andi wollen? Mailt an: zoom.muelheim@waz.de
WAZ / 30.8.2006
Wenn Coldplay die Liebe untermalt
Andi will in Mülheim
eine Soap drehen
Mein Name ist Andi. Ich
bin eigentlich zufrieden. Eigentlich. Ich laufe auch gern durch Mülheim.
Eigentlich. Denn manchmal fallen mir Kleinigkeiten auf. Da sage ich einfach
nur: "Andi will..." Willkommen zur ZOOM-Rubrik für einen Trotzigen
in dieser Welt.
Neulich: Mal ein bisschen
rumgezappt. "Verbotene Liebe" spielt in Düsseldorf. "Marienhof" und
"Unter uns" in Köln, "Verliebt in Berlin" und "Berlin Berlin" (damals)
- geschenkt, steht ja im Namen. Warum kommt eigentlich keine Soap oder
Telenovela aus Mülheim?? Und vor allem: Wie würde die aussehen?
Seht sie vor Euch, die Aufnahmen vom Sonnenuntergang an der Ruhr, irgendwas
von Coldplay (beliebt in Soaps) im Hintergrund, jemand haucht "Ich liebe
Dich" ins Ohr seiner Liebsten (und in die Linse), geht danach in den "Marktplatz"
und zwei Stunden später mit einer Frau aus dem Freeland (aber nicht
der von der Liebeserklärung) nach Hause. . . Andi will: Ne Soap aus
Mülheim. aer Was soll Andi wollen? Mailt an: zoom.muelheim@waz.de
WAZ / 6.9.2006
For Sarah with love
Mein Name ist Andi. Ich
bin eigentlich zufrieden. Eigentlich. Ich laufe auch gern durch Mülheim.
Eigentlich. Denn manchmal fallen mir Kleinigkeiten auf. Da sage ich einfach
nur: "Andi will..." Willkommen zur ZOOM-Rubrik für einen Trotzigen
in dieser Welt.
Mal das Programm des Ringlokschuppens
aufschlagen. Was gibts denn bald Schönes? Blätterblätter,
aha, 2. Oktober, "Jürgen Kuttner erklärt die Welt" im Schuppen.
Kuttner. . . ist das nicht der Daddy von Sarah? Recherchiert, Internet,
Wikipedia, die Antwort ist nah. Er ists.
Mann, wie gern würde
ich die mal interviewen. Die ist zwar nur einssechzig groß, geht
aber als zierlich und ausgeflippt durch. Viele meiner Freunde finden die
blöd, einfach nur blöd. Ich nicht. Ich mag sie irgendwie. Vielleicht
liest sie mal diesen Brief:
Liebe Sarah! Warum schickst
Du Deinen Vater vor? Warum liest DU nicht im Schuppen aus DEINEM Buch "Das
oblatendünne Eis des halben Zweidrittelwissens"? Nicht nur bei Harald
Schmidt ist es lustig. Wir sind es auch. Komm doch zu einem ZOOM-Treffen
und Du bist die nächsten zwei Jahre von allein kreativ. Mindestens.
Warum Berlin? Komm ins Ruhrgebiet, komm nach Mülheim. Sarah, melde
Dich! Schreib eine Gastkolumne bei ZOOM. Kriegst auch ein Bier dafür
oder was immer Du trinken willst. Du bist die Randgruppe aller Randgruppen.
Wenn nötig, mach ich auch ne Nahaufnahme aus/von Dir. Liebe Grüße,
Dein Andi. Denn: Andi will. . . Sarah sehen!
aer
Was soll Andi wollen? Was
fehlt in Mülheim? Was wünscht Ihr Euch? Irgendwelche Ideen? Mailt
an: zoom.muelheim@waz.de oder schreibt ganz klassisch an die WAZ Redaktion,
Eppinghofer Straße 1-3, 45468 MH
WAZ / 5.10.2006
Schrei nach Mottoparty
Acht Stunden lang Die
Ärzte die Die Toten Hosen im Wechsel. Bochum hat es vorgemacht. Dabei
ist Bela B. ganz bööööse
Mein Name ist Andi. Ich
bin eigentlich zufrieden. Eigentlich. Ich laufe auch gern durch Mülheim.
Eigentlich. Denn manchmal fallen mir Kleinigkeiten auf. Da sage ich einfach
nur: "Andi will..." Willkommen zur ZOOM-Rubrik für einen Trotzigen
in dieser Welt.
Hab ich Euch schon von der
Matrix in Bochum erzählt? Naja, heute gleich zweimal, denn der Laden
mitten in Langendreer (also schon fast in Dortmund) ist unser Weitwinkel.
Egal. Montag jedenfalls verließ ich unser geliebtes Mülheim,
um die Bochumer Partyszene zu testen. Die Matrix lieferte einen tollen
Anlass, nämlich eine Ärzte/Hosen-Party. Was sich einfach nur
nach Schnapsidee anhörte, wurde - oh Wunder - ziemlich gut angenommen.
An die Wand wurden die Live-DVDs projiziert und aus den Lautsprechern ertönte
von 22 Uhr bis sechs Uhr am nächsten Morgen im Wechsel ein Ärzte-und
ein Tote-Hosen-Lied. Depeche-Mode-Partys waren gestern. Eindeutig. Was
für eine glorreiche Idee! Nach "Micha der Cowboy" folgt "Eisgekühlter
Bommerlunder", nach "Zu spät" "Alles alles Liebe". Dazu noch "Paul"
(der Bademeister, Ihr wisst schon) und "Opel-Gang" (die frühen Hosen-Lieder
sind die Besten, als Campino noch nicht so sentimental war), "Schrei nach
Liebe" und "Sascha". Ich könnt noch ein paar Stunden weitermachen.
Oder mittanzen. Wir Mülheimer könnten als lokale Variante die
"Helge Schneider/Lokalmatadore"-Party veranstalten. Naja, passt aber wohl
doch nicht so gut zusammen. Auf Bela B. bin ich übrigens ein wenig
sauer, seitdem er Sarah Kuttner verarztet (erinnert Ihr Euch an die vorvorvorvorletzte
Ausgabe dieser Rubrik?) Doch trotzdem: Andi will. . . ne "Ärzte/Hosen-Party"
in Mülheim!
WAZ / 5.10.2006
Die TOP 5 ...
... der kultigsten, aber
flachsten deutschen 80er-Filme
1. Didi der Doppelgänger
(der Hallervorden-Film mit der Weisheiten-für-alle-Lebenslagen-Garantie:
"Schreiben Sie es auf, ich beschäftige mich später damit", "Abwarten",
"Geht Sie n' Scheißdreck an", "Ich hatte Rauchverbot erteilt" oder
"Ich brauche mehr Detaaaaails")
2. Die Supernasen (Krüger/Gottschalk,
Teil I; unvergessen in der Straßenbahn: "Meine Damen, ich habe eine
wichtige Mitteilung für Sie: Wir beide steigen an der nächsten
Haltestelle - aus!")
3. Didi und die Rache der
Enterbten (Hallervorden in sieben Rollen: "Rüdiger - du bringst mich
noch ins Grab!")
4. Piratensender Powerplay
(der erste Krüger/Gottschalk-Heuler mit Dummheiten wie: "Zeig mir
deine Uhr und ich sag' dir wie spät es ist.")
5. Otto der Film (oder?)
WAZ / 25.10.2006
(DAS LETZTE "ANDI WILL" ALLER ZEITEN)
Rumbrüllen bis der Kostenersatz
kommt
Festival-Gang inspiriert
die etwas andere Schrei-Therapie. Homer denkts langsam im Stillen, aber
es laut rausposaunen kann ja auch mal nett sein
Mein Name ist Andi. Ich
bin eigentlich zufrieden. Eigentlich. Ich laufe auch gern durch Mülheim.
Eigentlich. Denn manchmal fallen mir Kleinigkeiten auf. Da sage ich einfach
nur: "Andi will..." Willkommen zur ZOOM-Rubrik für einen Trotzigen
in dieser Welt.
War jemand von Euch schon
einmal bei einem Musik-Festival? Für diejenigen, die dieses fantastische
Erlebnis noch nicht miterleben durften, sei hier kurz ein guter, alter
Brauch geschildert. Ob tagsüber oder nachts, wer auf einem Zeltplatz
laut "HELGAAAA!" brüllt, wird sicherlich eine Antwort aus Tausenden
von Kehlen erhalten. Um die Entstehung dieses Schauspiels ranken sich Tausende
von Märchen. Das simpelste: Einst suchte jemand eine Frau/Freundin/Mutter/Tochter
namens "Helga" - und das relativ verzweifelt. Wie auch immer, lustig ists
schon. Wie wärs nun mit einer ZOOM-Variante? Alle Simpsons-Fans kennen
die Folge "Prinzessin von Zahnstein" aus der vierten Staffel, in der Lisa
Simpson Zahnspangen braucht. Papa Homers Atomkraftwerk-Chef Mr. Burns will
aber den Kostenersatz streichen. Diese beiden Infos denkt Homer aber nur
recht langsam zusammen. In seinem Gehirn sagen zwei Stimmen "Lisa braucht
Zahnspangen" und "Kostenersatz", und das seeehr lange. Die schon mit Erfolg
ausprobierte Idee: Sucht euch einen Kollegen und geht nachts auf die Straße.
Der eine schreit: "Lisa braucht Zahnspangen", der andere "Kostenersatz".
Sorgt garantiert immer für Aufregung, und jeder Simpsons-Fan kringelt
sich. Deshalb: Andi will. . . ne Brüll-Epidemie auslösen. aer
Was soll Andi wollen? Mailt an zoom.muelheim@waz.de
WAZ / 25.10.2006
Die TOP 5 ...
... der schlechten Arztwitze.
Und wenn wir "schlecht" sagen, dann meinen wir richtig schlecht. Wer jetzt
lacht, ist selbst Schuld.
1. "Herr Doktor, ich habe
das Gefühl, keiner nimmt mich ernst." - "Sie scherzen!"
2. "Herr Doktor, ich werde
von allen ignoriert." - "Der Nächste bitte!"
3. "Herr Doktor, ich kann
nachts nicht schlafen." - "Warum denn nicht?" - "Nachtschicht!"
4. Kommt ein Skelett zum
Arzt. Sagt der Arzt: "Sie hätten früher kommen sollen."
5. Patient: "Ich bin vom
Baum gefallen." Arzt: "Sehr hoch?" Patient: "Blödsinn! Runter!"
Von Andreas Ernst
Er wandert auf der Bühne
von links nach rechts, setzt sich an einen Tisch, steht wieder auf, deutet
zwischendurch auf ein paar Bilder. Sie glauben, dass das im Rahmen einer
Kabarett-Veranstaltung nicht möglich ist? Doch, es geht. Glauben -
das ist auch direkt das richtige Stichwort für Jürgen Becker.
"Ja, was glauben Sie denn?", fragte der Moderator der WDR-"Mitternachtsspitzen"
am Montagabend im Rahmen der "Lach.haft"-Reihe in der Stadthalle. Von den
Mülheimern bekam für seine kabarettistische Götterspeise
langen Applaus - keine Ovationen.
Zweieinhalb Stunden geleitet
Professor Becker seine Studenten wie in einer witzigen Geschichtsvorlesung
in seinem rheinischen Dialekt durch die Mythen und Wahrheiten aller Weltreligionen.
Querverweise zu aktuellen politischen Geschehnissen fehlen nicht. Am Ende
steht die Gewissheit: Nur der Rheinländer versteht es, richtig zu
leben. "Der Rheinländer glaubt, weil man das vielleicht gebrauchen
kann." Peng. Passend dazu gibt es nach der letzten Zugabe ein Kölsch
für Jeden - fertig ist das Programm.
Das Niveau variiert. Es
gibt wenige an Comedy erinnernde und etwas überflüssige Sätze
wie "Der Islam ist ein bisschen wie RTL 2. Ein Deppensender mit viel Action,
Buddhismus wie Arte - alle sind froh, aber keiner guckt und die Katholische
Kirche wie das ZDF: viele alte Zuschauer". Dann kommen Sprüche für
die Kühlschranktür, zum Beispiel "Religion ist Hirnforschung
ohne Abitur", "Religion ist, wenn man trotzdem stirbt" und "Religion ohne
Auferstehung kann man am Markt nicht mehr platzieren". Becker traut sich,
in einer Reihe Dutschke, Habermas, Adorno und Udo Jürgens aufzuzählen.
Schließlich dann die
historische Nachhilfe, von Goethe und Schiller bis Darwin, von James Last
bis Peter Scholl-Latour. Die mit humoristischen Häppchen angereicherten
Informationen reichen von der Legende um König Chlodwig I. - der sich
um das Jahr 500 herum taufen ließ (eins der Bilder) und damit den
Siegeszug des Christentums einleitete bis zu seiner eigenen Version der
Entstehung der Begriffe "Sunniten" und "Schiiten" und so manch unangenehmer
Wahrheit: Die meisten Kriege der Geschichte wurden von Christen geführt.
Becker fordert seine Zuhörer heraus. Es ist nicht immer leicht, die
zweieinhalb Stunden zu verfolgen. Scheinbar auch nicht für ihn selbst.
In seltenen Momenten hängt Becker nach der Pause, muss sich kurz am
Blatt orientieren. Das macht den Abend nicht besser, aber auch nicht schlechter.
Übrigens: In zwei Kalauern
zu Beginn tauchte auch Ruhrbania auf. "Wenn ihr fertig seid mit dem Yachthafen",
hob Becker die Stimme, lachte sekundenlang laut, "dann komm ich gucken."
Das Publikum johlte. Ruhrbania, Glaubensfrage auf Mölmsch.
Anmerkung: Den Johann-König-Part schrieb meine Kollegin Simone (siko) - diese Zeilen drucke ich hier nicht ab
Das Licht geht aus, ein paar
Sekunden noch bis zum Auftritt von Dr. Ludger Stratmann in der Stadthalle.
950 Gesichter werfen gespannt den Blick auf die Bühne. "Doc, wo bisse?",
ruft jemand laut. Dann kommt der Doc und jeder weiß sofort: Jetzt
ist Ruhrpott pur angesagt.
"Machensichmafrei, bitte!"
heißt das aktuelle Programm des schnauzbärtigen Humorarztes.
Sein Alter Ego Jupp hält im ersten Teil eine Rede als Vorsitzender
des Kleingartenvereins Bottrop-Batenbrock-Süd und sitzt danach im
Wartezimmer. Er schwadroniert über die täglichen Probleme des
Alltags wie den "Scheißsport Angeln" und üblichen Arztgeschichten.
Das zweistündige Programm
hat großartige Momente. Der Doc spielt mit dem Publikum - und die
ruhrpottspezifische Sprache funktioniert natürlich immer. "Ich geh
nachn Arzt", sagt er, dazu noch "Mich geht dat aufn Sack", algerisch statt
allergisch, ejakuliert statt evakuiert, Invasion statt Infusion, Zarette
statt Zigarette und er redet von Titanic-Hüften, Atomic-Herzschrittmachern
sowie von Leuten wie Karl Koslowski, seiner Frau Inge und Karl-Georch undsoweiter
undsoweiter. Sein Publikum liebt das, sein Publikum tobt.
Nach der Pause johlt die
Kulisse sogar. Zehn Minuten wird es ernst, lässt der Doc seinen Dampf
über die Jugend von heute ab. Schnell, schneller, am schnellsten rattert
er seine Vorwürfe runter, und schwächt nur selten ab. Die kaum
vorhandene U30-Fraktion bleibt staunend und verständnislos sitzen
- und freut sich auf Johann König am nächsten Abend. "Alzheimer
ist eine ganz natürliche Schutzfunktion", sagt der Doc, bezeichnet
VIVA und MTV als "visuales Elend", oder meint: "Ihr seid selbst zum Demonstrieren
zu doof." Raab und Pocher sind sowieso ganz spätpubertär. Ganz
unrecht hat er nicht, aber die Kritik ist doch etwas zu beißend -
für die U30-Anwesenden.
Zum Schluss verlässt
er als Jupp die Arztpraxis. Es geht um Höhenangst, die er mit Bommerlunder
bekämpft hat und weitere Arztgeschichten - zum Beispiel begleitet
er seine Frau zum Gynäkologen und ist über die Blicke verängstigt.
"Die denken doch, ich wär´ ein Transmitter. . ."
So isser, der Doc. Donnernden
Applaus gibt es nach Stratmanns Heimspiel in der Stadthalle. Es ist schwer
vorstellbar, dass dieser Witz außerhalb von NRW funktioniert. Die
Mülheimer mögen´s. Vor allem die aus dem Ü30-Lager.
Von Andreas Ernst
Ein wackeliger Zaun umgibt
die mit Unkraut überwucherte Ruine der ehemaligen BP-Tankstelle an
der Kreuzung Saarner Straße/Strippchens Hof. Der von BP beauftragte
Mülheimer Architekt Gunvar Blanck hatte für das Gelände
einen Bauplan in der Schublade und einen Investor an der Hand - auf eine
Genehmigung wartete er vergeblich. Die Ruine bleibt erst einmal stehen.
Seit vielen Jahren wird
an der schmuddeligen Straßenecke nicht mehr getankt. Im Jahr 2000
erhielt Blanck vom Grundstück-Besitzer BP den Gestaltungsauftrag.
Blanck entwarf ein modernes Wohnhaus mit Glasfassade, einer Terrasse -
etwas anderer Architektur. "Wie sie nur in Düsseldorf oder Hamburg
zu sehen wäre", sagt er. (WAZ berichtete) Doch ohne Weiteres konnte
Blanck nicht bauen. Erstens musste er einen Investor finden, und zweitens
mit der Stadt sprechen.
Denn ein Bebauungsplan aus
den 70ern sieht für die Straßenecke im Anschluss an die Tankstellen-Nutzung
eine Grünfläche vor. Sprich: Der Plan hätte geändert
oder das 930 Quadratmeter große Grundstück vom Plan befreit
werden müssen. Blanck präsentierte alle nötigen Gutachten
- von Ökologie über Entwässerung bis zu Schallschutz. Auch
die Nachbarn waren einverstanden. Im Mai 2006 fand er schließlich
in der BHH Wohnen und Bauen GmbH einen Investor, der bereit war, die Idee
zu finanzieren. Voraussetzung: Baubeginn 2006, um die niedrige Mehrwertsteuer
zu nutzen. "Die Verwaltung sieht die Architektur als sehr positiv und als
eine Aufwertung", sagt Jürgen Liebich, der kommissarische Leiter des
Planungsamtes.
Zu einer Befreiung vom Bebauungsplan
kam es trotzdem nicht. "Eine Befreiung ist nur möglich, wenn eine
geringfügige Abweichung vorliegt - aber nicht, wenn ein ganzes Grundstück
bebaut wird", sagt Harald Hüsgen, Leiter des Bauordnungsamtes. "Die
Gesamtverwaltung hat entschlossen, dass die Grundzüge des Plans berührt
sind", ergänzt Liebich. Ein vorhabenbezogener, neuer Bebauungsplan
dauert etwa zwei Jahre. Zeit, die der Investor nicht hatte. Er zog sich
zurück.
Hätte die Verwaltung
anders entschieden, würde das neue Gebäude fast stehen. . "Wir
reden über ein Grundstück mit 930 Quadratmetern", sagt Blanck
ironisch. Der Architekt spricht von "Formalismen" in Zeiten der Diskussion
über eine "Qualitätsoffensive".
Ein großes "Zu verkaufen"-Schild
ziert nun die abgewrackte Broicher Ruine. Sie gehört immer noch BP.
Im Internet wird der Grundstückpreis bei "Immobilienscout" mit 240
000 E angegeben. "Ich bin sauer, weil es ein schöner Auftrag gewesen
wäre", sagt Gunvar Blanck. Die Ruine darf so lange stehen bleiben,
bis sie Leben gefährdet. Tankstellen sind extra stabil, damit sie
notfalls einen Lkw-Unfall überstehen. Es kann lange dauern, bis das
Material bröckelt - und auch, bis ein neuer Investor mit mehr Geduld
gefunden ist.
Wie in einer Zeitmaschine
Professor in Köln
ANMERKUNG: Dieser Text mit einer doppelten Erzählebene stand tatsächlich so in der WAZ - mit in Kursiv gedruckten Passagen
Von Andreas Ernst
An meine ersten Schritte im Schloss Broich kann ich mich noch gut erinnern. Dritte Klasse, 1987, meine Grundschullehrerin hieß Frau Seydlitz. In Zweierreihen stapften wir durch die Flure. Erstaunt stand ich im Heimatmuseum vor den Vitrinen. Vor Kugeln, Scherben, Bildern, Münzen, Modellen. Mit Ehrfucht setzte ich meine kleinen Füßchen auf die alten Steine, auf die Ringmauer. Wie alt ist das hier?
70 Jahre alt ist Prof. Dr. Dr. Günther Binding inzwischen. Im langen schwarzen Mantel hat er sich auf den Weg nach Mülheim gemacht, auf Einladung des Geschichtsvereins. Seine Ledertasche lässt er im Erdgeschoss des Broicher Schlosses und stapft die Wendeltreppe des kleinen Heimatmuseums hinauf. In der ersten Etage erblickt er sofort die Modelle zur Ausstellung "Leben in der Burg". Wie sah es im 11. Jahrhundert in Broich aus? Ein kurzer Blick. "Also dieses Detail ist falsch. Die Toilette stand woanders. Sonst: gut", sagt Günther Binding. Im nächsten Raum hängt ein Kettenhemd aus dem 15. Jahrhundert. Ja, die gab es wirklich.
Damals gab es ein Schulfest. Wir wollten etwas Besonderes vorführen - und erarbeiteten gemeinsam einen Aufsatz über die Geschichte des Schlosses. Ich durfte ihn auswendig lernen und den "Fremdenführer" spielen - aufgezeichnet von einer Videokamera. Im Hintergrund die Ausgrabungen, im Vordergrund mein Gesicht, im Lautsprecher der Text.
Bindings Entdeckungen sind 40 Jahre alt. Der Archäologe forschte ab 1965 in Broich, fand Reste des Bergfrieds und legte die Ringmauer frei. "Eine Sensation damals", sagt Binding, der jahrzehntelang an der Universität Köln lehrte. 15 Mitglieder des Mülheimer Geschichtsvereins folgen auf Schritt und Tritt, lauschen den Geschichten des Professors. Die Historie des Schlosses hat er noch drauf. 883/84 war Broich eine Befestigungsanlage gegen die Normannen, vor 1180 bis 1240 eine Wehranlage mit Ringmauer, um 1400 ein gotischer Palais, ab 1644 eine Residenz von Graf Wirich. Wie und wann wurde das Schloss umgebaut? Nicht verzagen, Binding fragen. "Eine Bitte habe ich", sagt Binding und blickt ein wenig traurig. "Macht das Efeu weg. Das zerstört die Mauer." Dr. Hans Fischer vom Geschichtsverein beruhigt: "Die Oberbürgermeisterin ist Historikerin."
An den Sachkunde-Unterricht werde ich mich lange zurück erinnern. Ich laufe über die Mauer und fühle mich ganz so wie ein Neunjähriger. Wie in einer Zeitmaschine. Ich glaube, ich werde den Keller meiner Eltern durchsuchen. Vielleicht liegt der Aufsatz irgendwo.
Immer noch auf der Mauer. Einfach die Augen schließen und sich weites Land vorstellen. Grünes Land. Irgendwo dahinten ist das Kloster Saarn. Oder ein anderes Schloss. So langsam entsteht die Stadt. Binding erzählt von Rittern, Ausfalltürmchen, Toilettenhäuschen. "Da haben sie reingeschissen", sagt Binding. Alle lachen. "Die Ruhr war die Grenze zwischen Sachsen und Franken." Sachsen! Franken! Jetzt steht Binding dort, wo ich einst meinen Text aufsagte. Mitten in die Kamera.
Den Videofilm habe ich leider nie gesehen.
November 2006ANMERKUNG: "Guten Morgen" heißt die zweispaltige Notiz auf der Lokalteil-Titelseite, die jeden Tag erscheint und redaktionsintern "Spitze" genannt wird! Jeder darf seinen Senf dazu beitragen! Der Inhalt? Ganz kleine Alltagsgeschichte plus Pointe...
WAZ / 11.11.2006
Psychohilfe
Als VfL-Bochum-Fan habe
ich in der Fußball-Bundesliga nichts zu lachen. Der VfL ist Letzter.
Und so stand ich nach der 1:3-Niederlage im Spiel gegen Bayer Leverkusen
am Pissoir, prügelte mit der Faust gegen die Kacheln, als sich ein
älterer Herr ein paar Meter weiter postierte. Er wollte mich auf andere
Gedanken bringen und sagte: "Woran erkennt man, dass es Winter wird?" Ich
zuckte mit den Schultern. "Pipi dampft wieder." Psychohilfe unter Fans.
Herrlich.
Von Andreas Ernst
Eigentlich sind an Martin
Schneider nur zwei Sachen lustig: Er macht seinen großen Mund auf
und zu und gibt dabei Töne im überzeichneten, extra langsam gesprochenen
hessischen Dialekt von sich. Damit ist er einer der Stars in der Sat-1-"Schillerstraße"
und tingelt durch die Comedyshows aller Sender. Doch 100 Minuten Schneider
- geht das? Für einige der 800 Besucher in der Stadthalle war es etwas
zu schwere Kost.
Schneider tritt als seine
Figur "Maddin" auf die Bühne - und hat sein Programm auch gleich so
genannt. Aus Maddins Leben erzählt er Geschichten, mal mehr, mal weniger
amüsant. Das Publikum lernt Maddins Freunde kennen, begleitet Maddin
in die Espressobar, in die Sauna, zur Führerscheinprüfung, in
die Uni-Klinik und zum Urlaub auf die Kanarischen Inseln.
Charme hat das überzeichnete
Hessisch. Schnupfen wird zu "Schnubbe", Schokolade zu "Schokkelaad". Den
"Cappuccino" dehnt Schneider auf 15 Sekunden. Für Schmunzler sorgen
die Running-Gags. Immer wieder baut Maddin die Geschichte vom "Indianer
unnerm Bett" in seine Geschichtchen ein. Wenn Maddin Angst hat, singt er
"Urmeliii". Und eine feurige Italienerin rahmt das Programm. Am Ende des
ersten Teils fällt Maddin in Ohnmacht, als er sie sieht - am Ende
des zweiten die Italienerin.
"Lach.haft - Kabaretttage"
steht auf dem Ticket. Doch das Wort "Kabarett" trifft auf Schneider nicht
zu. Es ist klassische unpolitische Comedy. Es ist arg dünn, was Schneider
anbietet. Einige gehen in der Pause, wenige johlen bis zum Schluss, die
Menge denkt wie Zuschauer Torsten Gaetke. "Der hätte in der Schillerstraße
bleiben sollen", sagt er.
Seit 24 Jahren bereist Volker
Pispers als Kabarettist die Bühnen der Republik. In Deutschland zählt
er zur Creme de la Creme. Er spielt vor ausverkauften Häusern - so
auch am Samstag in der Stadthalle. Nach drei erstklassigen Stunden erntete
Pispers Ovationen. Wieder einmal.
Sein Programm heißt
seit vier Jahren ". . . bis Neulich", und doch ist es von Auftritt zu Auftritt
anders. Es ist ein "Best of" - diesmal gab es zwei Ausschnitte - mit aktuellen
Texten. Wer bei der "Tagesschau" in den letzten Jahren nicht aufgepasst
hat, ist fehl am Platz. Pispers streift mit bösem Wortwitz alle Themen
der aktuellen Innen- und Außenpolitik.
Pispers betrachtet die Welt
von links. Das "Deutsch sein" fällt ihm schwer. Er ledert gegen Spitzenmanager
("Raffgieriges asoziales Pack") und Aktienanalysten ("Eiterpickel des Casino-Kapitalismus"),
nimmt sich Wirtschaftsfiguren wie Schrempp und Ackermann vor. Seine Bezeichnungen
für Kanzlerin Merkel ("Knallgasexperiment auf zwei Beinen") sowie
die Minister Müntefering ("Ganzjahres-Halloweengesicht") und von der
Leyen ("niedersächsische Zuchtstute") sind an der Grenze. Da klatscht
nicht jeder. "Goldkettchen-Gerd" Schröders einzige gute Tat nach Pispers
war das "Nein" zum Irak-Krieg - Kohl hat alles falsch gemacht. "Wir gehen
an den Schulden von Kohl kaputt". Kein SPD-Satz. Ein Pispers. Er trifft
alle Parteien - von der CDU bis zu den Grünen. Die einen mehr (CDU/FDP),
den Rest weniger.
Der zweite Teil besteht
überwiegend aus USA-Kritik. "Mein Anti-Amerikanismus ist nicht oberflächlich",
sagt Pispers. Er wird allgemein ("Wenn man weiß, wer der Böse
ist, hat der Tag Struktur") und speziell ("Guantanamo ist das größte
Verbrechen der westlichen Zivilisation seit dem zweiten Weltkrieg"). Die
Gefahr der Welt ist nach Pispers nicht der islamische Terrorismus. Er weist
auf 150 000 Tote durch Rauchen und 50 000 "durch Saufen" hin. Beim Zugabethema
"Bildung" wird Pispers konkret. "Alle Ressourcen in die nächste Generation
pumpen", fordert er.
Er ist kein neuer Hildebrandt.
Er ist: Pispers
Dieser Moment ist bei jedem
Konzert magisch. Das Licht geht aus - spannende Erwartungen. Jan Plewka,
Ex-Sänger von Selig, trägt im Schuppen Rio-Reiser-Lieder vor.
Was verbirgt sich dahinter?
Es ist dunkel. Kein Musiker
steht auf der Bühne. Plötzlich eine Stimme. "Stiller Raum, stille
Nacht, alles schläft, ich bin wach", singt Plewka. Ohne Instrumente.
Nur jeweils ein Lautsprecher ist eingeschaltet. Spiel mit Stereo. Stiller
Raum.
Es ist der atemberaubende
Auftakt für 300 Zuschauer, die sich sofort verzaubern lassen. Die
kein Konzert erleben, sondern eine manchmal anstrengende Konzert-Performance.
Plewka und seine Band "Schwarz-Rote Heilsarmee" bieten ein Instrument-Feuerwerk,
mit Akustik-, E- und Bassgitarre, Geige, Klavier, Schlagzeug, Blasinstrumenten
und mehr - herrlich. Jeder Song ist ein eigenes Theaterstück. Bei
Ton Steine Scherbens "Rauchhaus-Song" verbreitet die Band Lagerfeuer-Romantik,
sitzt im Halbkreis auf der Bühne, spielt unplugged. Einen Song später
("Der Turm stürzt ein") marschiert die Band durch die Reihen, begrüßt
die faszinierten Zuschauer. Lied acht auf der Setlist ist "Unten am Hafen".
Plewka legt sich allein auf die rote Couch, nur mit Akkordeon in der Hand.
Augen schließen und an die See denken.
Es ist ein Streifzug durch
Rio Reisers Biografie. Zwölf der 23 Songs sind aus der Ton-Steine-Scherben-Zeit,
von "Keine Macht für niemand" über "Die letzte Schlacht gewinnen
wir" bis zum fantastischen "Der Traum ist aus". Plewka redet zwischendurch
ganz wenig. Die Textzeilen genügen. In "Land in Sicht" heißt
es: "Und die Tränen von gestern wird die Sonne trocknen". Für
ein Poesiealbum fast verschenkt.
Still ist am Ende nichts
mehr. Nach 110 Minuten gibt's Ovationen. Zu Recht.
GUTEN MORGEN
WAZ / 29.1.2007
Idole
Eine halbe Stunde noch bis
zum Konzert. Jan Plewka sitzt mit seiner Band in der ersten Etage des Schuppens,
isst etwas Leichtes vom Buffet. Ein kurzes Gespräch hat er erlaubt.
Warum singt er Rio-Reiser-Lieder? "Er war mein Mentor", sagt Plewka. "Am
Lagerfeuer haben wir Rio-Lieder gespielt." Wie war die Zeit mit Selig,
seiner großen Band: "Vier Jahre totaler Wahnsinn. Wie ein Surfer
auf der großen Welle. Kurz bevor wir wieder am Strand waren, haben
wir aufgehört." Hat er Rio Reiser persönlich kennengelernt? "Ich
hätte, hatte aber Angst. Du weißt ja: Never meet your idols."
Treffe niemals deine Idole. Mist. Ich hab' eins interviewt.
ANMERKUNG: "Guten Morgen" heißt die zweispaltige Notiz auf der Lokalteil-Titelseite, die jeden Tag erscheint und redaktionsintern "Spitze" genannt wird! Jeder darf seinen Senf dazu beitragen! Der Inhalt? Ganz kleine Alltagsgeschichte plus Pointe...
Jahrelang tingelte Gaby Köster
durch die Comedyshows des Landes. Und sie war die Rita in "Ritas Welt".
Am Samstag präsentierte sie 660 Zuschauern in der Stadthalle ihr Solo-Programm
"Wer Sahne will, muss Kühe schütteln!" Ein Abend, an dem die
45-Jährige (wen wundert´s) das Prollweib aus Köln gibt
und Alltagsgeschichten erzählt, die sie meist mit "Ich muss dat kurz
erklären" einleitet und die ständig im Frauen/Männer-Streit
enden.
Kösters Humor funktioniert
im Saal auf ganz einfacher Ebene: Die Gags sind hemmungslose Übertreibungen,
oft unter der Gürtellinie, und das gewürzt mit kölschem
Dialekt und gewollten Versprechern. Fertig. Und das zweieinhalb Stunden
lang. Ihre Geschichten handeln unter anderem von einem Disco-Besuch, vom
BH-Kauf, Schwierigkeiten bei der Nikotinentwöhnung und Unterhaltungen
mit Petrus und Gott im Himmel.
Beispiele? Bei der BH-Story
wird die Beleuchtung der Umkleidekabine zu einer "900-Millionen-Watt-Neonröhre"
- Übertreibung. Ein Türsteher wird zu einem bierbäuchigen
Kernasi. Und sie schimpft gern "Pass mal auf du Vollpfosten" oder "Verpiss
dich" - unter der Gürtellinie und derb. Auf Kölsch sagt sie unter
anderem "jesessen". Und Versprecher dümmlicher Art gehören bei
Comedystars - siehe Maddin Schneider oder Herbert Knebel - wohl dazu. Aus
"mental" wird "mentol", statt "Canossa" formuliert sie "Cabanossi".
Künstlerisch ist Kösters
Darbietung allenfalls durchschnittlich. Auswendig trägt sie nicht
vor. Auf einem Notenständer liegen die Texte - und oft lünkert
sie. Kabarettisten wie Volker Pispers, der den Theatersaal jährlich
füllt, oder Hagen Rether, der im Dezember kommt, würde so etwas
nie passieren.
Doch das ist nicht Gabys
Welt. Gaby setzt auf sinnfreie Comedy. Politikernamen erwähnt sie
höchst selten. Kurz vor Ende des Programms sagt sie "Frauen an der
Spitze der Macht gibt es doch - Merkel und Westerwelle". Naja.
Vom Publikum gibt´s
Applaus, Köster fand den Abend besser, als "mir diesen pisseligen
Jottschalk wieder anzugucken." Sieben Zuschauer stehen sogar auf. Von 660.
GUTEN MORGEN
WAZ / 21.2.2007
Wie Brehme
Rosenmontag, 23 Uhr. Na
gut, ein Absacker in der Stammkneipe muss noch sein. Es ist voll, die Höhner
ziehen die Karawane weiter und weiter. Die Laune? Gut bis sehr gut. Um
eins stolpert eine junge Dame an die Theke. Sie merkt, dass die Herren
angesichts ihres Getaumels missmutig dreinschauen und fragt erstaunt: "Ey,
was habt Ihr? Was is' los? Sagt's mir! Ich kann Kredit vertragen!!" Auaauaaua...
Mein Tipp für Rosenmontag 2008: Als "Stilblütenkönig" Andi
Brehme verkleiden!
ANMERKUNG: "Guten Morgen" heißt die zweispaltige Notiz auf der Lokalteil-Titelseite, die jeden Tag erscheint und redaktionsintern "Spitze" genannt wird! Jeder darf seinen Senf dazu beitragen! Der Inhalt? Ganz kleine Alltagsgeschichte plus Pointe...
ANMERKUNG:
Parallel spielte Bayern gegen Real...
da wäre ich doch auch liebend gern im Schrägen Eck gewesen...
Diese Musik. . . einfach
herrlich. Zu Bachs "Brandenburgischen Konzerten" betritt Thomas Freitag
Kino eins im Cinemaxx. 550 Zuschauer wollen Freitags neues Programm "Die
Angst der Hasen" sehen. Sie werden nicht enttäuscht.
Nach 31 Jahren Bühnenerfahrung
weiß Freitag, was zu einem wohl komponierten Kabarettabend gehört:
Zuerst ein sehr guter Running Gag. Während der 100 Minuten spricht
er oft in eine Kamera - und zeichnet eine Videobotschaft für Islamisten
auf. Klärt sie auf über Positives und Negatives unserer Zivilisation.
"Liebe Islamisten! Setzt was dagegen!", sagt er und steht vor einem Caspar-David-Friedrich-Bild.
Es gibt deutsche Kultur, die es zu verteidigen lohnt.
Die nächste Zutat:
Klare politische Monologe. Denn ist wirklich alles so gut? Beispiel: "Es
fehlen sinnvolle Jobs für Leute mit wenigen Fähigkeiten." Es
geht gegen die FDP, Top-Manager, Angela Merkel, Condoleeza Rice. Hier hat
das Programm Längen und zu viele abgedroschene Pointen.
Noch eine Zutat: Gespielte
Nummern, die durchaus für "Scheibenwischer" geeignet sind. Zum Beispiel
tritt er als Ulla Schmidt auf. Vor der Pause präsentiert Freitag im
besten Teil sein ganzes Repertoire. Fiktiv stellt er den Irrwitz dar, hätte
Wilhelm Grimm "Rotkäppchen" vom Bundestag genehmigen lassen müssen.
Dazu imitiert viele Politiker (Klasse: Struck). Da gibt's den lautesten
Applaus.
Fehlt noch eine Rahmung.
Am Anfang und Ende sitzt Freitag bei seinem Lieblings-Italiener und denkt
über die Welt und vor allem Gott nach - zum Schluss nach zwei Flaschen
Wein. Sind wir Deutsche oder nur noch Hasen? Im Rausch träumt er davon,
in einer Bar in Rom dem Papst zu begegnen. Die Lösung: "Erst Kulturen,
die an sich selbst zweifeln, sind Hochkulturen."
In die Kamera spricht er:
"Der ewige Sieg einer Idee hat noch nie funktioniert." Der glücklichste
Staat der Welt hat. . . keine Religion.
ANMERKUNG:
Ich gebe zu... Sport kann ich besser!
Von Andreas Ernst
Voll bestuhlt ist die Schalterhalle
der Sparkasse am Berliner Platz. Und jeder Stuhl wird gebraucht. 380 Zuhörer
sind zur Diskussionsrunde "Das Ringen um ein menschenwürdiges Miteinander"
des Kolpingwerks gekommen. Es soll um die Maßstäbe gehen, die
Staat und Kirche für die Gesellschaft setzen können. Ein spannendes
Thema. Bundestagspräsident Dr. Norbert Lammert (CDU) soll auf dem
Podium mitdiskutieren.
Leicht erkältet stellt
sich Lammert vors Mikrofon. Er gießt sich ein Glas Wasser ein. Die
Vorgabe für seinen Diskussionseinstieg: Maximal 30 Minuten. Gespannte
Stille. Lammert spricht bedacht, wechselt den Tonfall, nimmt sich Pausen
vor wichtigen Sätzen. Er gibt einen Abriss über die Innenpolitik.
Zu den Themen Arbeitsmarkt ("Jeder, der arbeiten kann und will, soll die
Möglichkeit haben, bezahlte Arbeit zu finden"), soziale Sicherungssysteme
und Zusammenleben zwischen Deutschen und Ausländern. Alles Themen,
die ein "Miteinander" erfordern. Einiges ist bekannt - zum Beispiel die
demographische Entwicklung. Hier hat die Rede Längen. Klarster Punkt:
Lammert argumentiert pro Leitkultur, pro Sprachtests. "Wichtigster Punkt
der Integration ist nicht Ökonomie, sondern Kultur", sagt er. Da gibt's
Applaus.
55 Minuten dauert Lammerts
"Impulsreferat". "Ich habe überzogen, wie ich das im Deutschen Bundestag
keinem durchgehen lassen würde", sagt er. Gelächter im Saal.
Auf zwei Stunden ist der
Abend angelegt. Nach den Begrüßungen und Lammerts Vorlesung
bleiben nur noch 50. Auf dem Podium sitzen noch Weihbischof Franz Vorrath
und Arbeitsdirektor Christoph Dänzer-Vanotti von der E.ON AG. Beide
werden um ein kurzes Einführungsstatement gebeten. Einigkeit aller:
Es gibt kein Patentrezept für die Lösung der Probleme, die Rente
mit 67 ist richtig und in der Integration liegen nicht nur Risiken, sondern
auch Chancen - wenn denn alle die gleiche Sprache können. Danach folgt
die Fragerunde der Zuschauer. Schade, dass die Diskussion zu kurz kommt.
Schade, dass Maßstäbe der Kirche am Rande erwähnt werden.
Sofort recken sich einige
Finger in die Höhe. Moderator Matthias Kopp hat Mühe, den Überblick
zu behalten. Was interessiert, was bewegt die Zuhörer? Rente, Integration,
Werte. Für sechs Fragen bleibt noch Zeit. Die meisten geben ihre eigene
Meinung bekannt, fragen erst am Schluss. Einer möchte von Vorrath
wissen, was er denn darüber denkt, dass in Mülheim konfessionelle
Grundschulen schließen sollen. Die Antwort bleibt schwammig. "Ich
finde es gut, dass es Pluralität und Auswahlmöglichkeiten gibt."
Bei Grünkohl und kalten
Getränken klingt der Abend aus. Einige Fragen bleiben unbeantwortet.
Zwei Stunden sind für ein solch komplexes Thema eben viel zu wenig.
ANMERKUNG:
Ich hätte den Text ganz, ganz
anders formuliert, wäre er nur für diese Homepage gewesen!
Er ist frech, laut, vulgär.
Aber auch ein Multitalent, sehr gebildet. Der Schauspieler, Regisseur und
Kabarettist Serdar Somuncu lässt sich in keine Schablone pressen.
"BILD lesen!", heißt sein aktuelles Programm, das er 200 Zuhörern
im Schuppen präsentierte.
Am Eingang Verwunderung.
Ein Securitydienst überwacht mit strengem Blick. Somuncu provoziert,
attackiert - und ist schon angeeckt. In Jeans und T-Shirt betritt er die
Bühne. Zu einem Programm der anderen Art. Seine einfache Idee: Zuerst
verteilt er eine halbe Stunde lang Ohrfeigen an die Gesellschaft. Zwischenrufe
sind erlaubt, Zuschauer, die zum Klo müssen oder nach Hause gehen,
werden mit Kommentaren bedacht. Er schreit, lacht, grinst.
1500 Auftritte absolvierte
Somuncu mit einer Lesung von Hitlers "Mein Kampf". Die NS-Zeit bewegt Somuncu.
Oft erwähnt er Wörter aus dem Nazi-Jargon. Somuncu spielt mit
seiner türkischen Herkunft, nennt sich oft "Kanake", sagt frei heraus:
"Ich habe festgestellt, dass man mehr Geld verdienen kann, wenn man die
Zweisprachigkeit betont." Peng. "Kopftuch-Nazis ruinieren mein Image".
Doppelt Peng.
Teil zwei, die brillante
Idee: In einem weißen Umschlag liegt die Bild-Zeitung des Tages.
Somuncu sieht sie auf der Bühne zum ersten Mal, kommentiert die Schlagzeilen
und "Post von Wagner". "Kreativ entmüllen", nennt er das. Beim Anblick
des Bild-Mädchens auf Seite eins besteigt er den Tisch. Er würzt
den Abend mit Infos über den Springer-Verlag, mit Wallraffs Buch,
mit Bölls verlorener Ehre der Katharina Blum.
Sinnlose Veranstaltung?
"Sie bezahlen 15 Euro für etwas, was am Kiosk 50 Cent kostet", sagt
Somuncu. Nein, nicht sinnlos. Seine Sätze stechen, das Publikum tobt.
Und verzeiht, dass nach 100 Minuten Schluss ist. Ohne Zugabe.